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Der Literaturpodcast von rbbKultur und dem Literarischen Colloquium Berlin
Am Mikrofon: Anne-Dore Krohn, Thomas Geiger
Stefan Hertmans, geboren 1951 in Gent, ist ein Spezialist für historische Stoffe. In seinen Romanen verknüpft er seine Recherchen mit der Rekonstruktion der Vergangenheit – aber immer mit einem wachen Blick aus der Gegenwart. Nachdem er in "Krieg und Terpentin" den Ersten Weltkrieg und in "Die Fremde" die Zeit der Pogrome in Frankreich des 11. Jahrhunderts behandelt hat, erzählt er in seinem neuen Roman "Der Aufgang" jetzt vom flämischen Nationalsozialisten Willem Verhulst, der während der Besetzung Belgiens durch die Nationalsozialisten mit den Nazis kollaborierte.
Ausgangspunkt des Romans war die Tatsache, dass Hertmans in seiner Geburtsstadt Gent viele Jahre in einem Haus wohnte, in dem einst eben jener Willem Verhulst gewohnt hatte. Doch als junger, progressiver Lehrer habe er sich für die Vergangenheit nicht interessiert, die Faszination kam erst später, als er selbst längst wieder ausgezogen war. "Und nun musste ich zusehen, wie sich meine intimen Erinnerungen mit einer Wirklichkeit vollsogen, für die ich keine Vorstellungskraft besaß, die ich aber auch nicht länger von mir stoßen konnte", schreibt er am Anfang des Romans.
In "Der Aufgang" zeichnet Hertmans das Leben Willem Verhulsts nach und versucht auch, sich dem ungleichen Ehepaar anzunähern – denn Verhulsts zweite Ehefrau Mientje war erklärte Pazifistin und weigerte sich zum Teil sogar, Nazifreunde ihres Mannes zu bewirten. Beim Schreiben, so Hertmans, lote er immer auch das Gleichgewicht aus – zwischen dem, was wirklich passiert sei und dem, was er sich ausmale. Den Figuren habe er sich wie mit einem imaginären Mikrofon genähert und dafür viele Informationen zusammengesucht, in Briefen, Archiven und Gesprächen mit Zeitzeugen und Familienangehörigen.
Herausgekommen ist eine kluge literarische Rekonstruktion, die niemals vorgibt, alles wissen zu können. Einen auktorialen Erzähler habe er sich für dieses Thema nicht vorstellen können, sagt Hertmans. Für ihn stand eine große Frage im Zentrum des Buches: An welcher Stelle hat sich die Biographie von Willem Verhulst - der als junger Mann mutig und unkonventionell war - so verschoben, dass das Böse überwog und das Moralempfinden verdrängt wurde?
Im Gespräch mit Anne-Dore Krohn und Thomas Geiger spricht Stefan Hertmans über menschliche Ambivalenzen, über die historische Tragödie seines Heimatlandes Belgiens, über das Verhältnis von Fiktion und Dokumentation und die Grenzen des Idealismus.