Interview | Autor Ingo Schulze - "Im innerdeutschen Verhältnis ist die westdeutsche Sozialisation der Goldstandard"

So 14.04.24 | 08:11 Uhr
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Archivbild: Schriftsteller Ingo Schulze lehnt in seiner Wohnung in Charlottenburg an der Tür. (Quelle: dpa/Riedl)
Bild: dpa/Riedl

Ingo Schulze ist Schriftsteller. Seine Texte und Romane verarbeiten oft ostdeutsche Erfahrungen oder die Wiedervereinigung. Nun hat er ein halbes Jahr im tiefsten Westen verbracht und ein Buch darüber geschrieben. Was hat er dort gelernt?

rbb: Herr Schulze, Ihre Erfahrungen in Westdeutschland haben Sie im Buch “Zu Gast im Westen” niedergeschrieben. Der Titel klingt freundlich, aber auch leicht distanziert. Im Sinne von: "Ich bin hier der Fremde, ich bin zu Gast."

Ingo Schulze: Von der Haltung her ist das schon wahr, alles andere hätte ich als eine Anmaßung empfunden. Auch wenn ich mich viel in Deutschland bewege, ich habe nie im Westen gewohnt. Aber ich finde den Status des Gastes einen sehr angenehmen Status. Man gehört dazu, ist aber nicht unbedingt verantwortlich.

Aber legt einem der Status eines Gastes nicht auch eine gewisse Fessel an? Man meckert als Gast ja auch nicht über das Essen...

Es macht einen Unterschied, ob man in der Wohnung bei jemandem ist oder ob man über eine Region schreibt. Insofern ist man etwas rücksichtsvoller, wenn man mit Menschen spricht, die sich öffnen, die einem etwas zeigen. Und auf die war ich ja auch angewiesen. Das hat aber nichts mit unkritischem Verhalten zu tun. Ich habe über das, was ich im Ruhrgebiet bemerkenswert fand, im Guten wie im Bösen geschrieben.

Zur Person

Autor Ingo Schulze. (Quelle: privat)
privat

Ingo Schulze ist Schriftsteller und beschäftigt sich in seiner Arbeit vor allem mit ostdeutschen Erfahrungen. Außerdem ist er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sein Buch „Zu Gast im Westen“ erschien im Februar im Wallstein-Verlag.

Was ist Ihnen da aufgefallen?

Man sieht im Ruhrgebiet die sozialen Unterschiede sehr deutlich. Oftmals ist das so ein Süd-Nord-Gefälle: Das Wohlhabende ist eher im Süden und das Ärmere im Norden. Durch diesen Kontrast springt es einem sehr viel mehr ins Auge. Und die Mentalität im Ruhrgebiet - wenn man das so verallgemeinernd überhaupt sagen darf - ist sehr offen. Also man ist ganz schnell beim 'Du', ob man das nun mag oder nicht.

Im Ruhrgebiet habe ich oftmals automatisch angefangen, vom Osten zu erzählen und die Unterschiede zu beschreiben, da ging es beispielsweise um die Abwicklung der Kohle. Was im Osten in zwei, drei Jahren stattgefunden hat, das hat im Ruhrgebiet über Jahrzehnte stattgefunden. Das sind Dinge, die sind vergleichbar – und aber eben doch ganz anders gelaufen.

Sie sagen, dass Sie viel über den Osten gesprochen haben. Warum muss man den Osten 35 Jahre nach dem Mauerfall noch immer erklären?

Dass der Osten immer in Erklärungsnot kommt, hängt einfach mit diesem unglaublichen Gefälle zusammen, das dadurch entstanden ist, dass es keine Vereinigung gab, sondern nur einen Beitritt. Im innerdeutschen Verhältnis ist es doch so, dass jemand, der einen migrantischen Hintergrund hat, ein Bewusstsein für diesen Hintergrund hat. Und jemand, der aus dem Osten kommt, hat auch mehr oder weniger ein Bewusstsein dafür, aus dem Osten zu kommen. Im innerdeutschen Verhältnis ist die westdeutsche Sozialisation aber der Goldstandard – also das, was eigentlich als der Bezugspunkt gilt. Das das ist die Crux. Und es wäre doch eine Chance für den Westen, sich der eigenen Spezifika klar zu werden.

Das Ruhrgebiet lebt von dem Mythos Stahl, Kohle, Maloche und Fußball. Wie viel ist an diesem Mythos noch dran?

An diesem Mythos Ruhrgebiet ist schon auch etwas Wirklichkeit dran. Das merkt man in den Begegnungen, wenn jemand darüber spricht, wie er aufgewachsen ist. Die Mutter arbeitete im Stahl, die Familie des Vaters in der Kohle. Aber heute hat das schon so einen Marketingcharakter bekommen. Es gibt viele Leute im Ruhrgebiet, die das kritisieren. Sie sagen: 'Wir waren nicht nur Malocher, das Ruhrgebiet war Hightech.' Denn wie fördert man diese Kohle, wie macht man den Stahl? Das sind unglaubliche technologische Dinge, die heruntergedimmt werden auf eine Folklore.

Es ist diese große Abwanderung, die manches fast kulissenartig wirken lässt.

Ingo Schulze

Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Ostdeutschland und dem Ruhrgebiet?

Es hat in beiden Regionen diese Erfahrung der Abwanderung und des Verschwindens von Industrie gegeben. Und auch die Erfahrung, dass Neues kommt. Aber es ist einfach diese große Abwanderung, die manches fast kulissenartig wirken lässt. Es ist wie in Kleinstädten in Ostdeutschland, die wunderbar aussehen, aber man hat manchmal den Eindruck, es seien Kulissen. Und im Ruhrgebiet weiß man auch oft nicht: Steht das einfach nur noch da oder hat das noch eine Funktion?

Sie haben im Nachwort zu Ihrem Buch geschrieben, Sie hätten sich auch vorstellen können, sechs Jahre im Ruhrgebiet zu bleiben...

Leider ist die Lebenszeit begrenzt. Was ich damit sagen wollte: Ich hätte da auch noch sechs Jahre schreiben können, ich habe nur einen Ausschnitt gegriffen. Je mehr ich geschrieben habe, umso mehr habe ich gemerkt, was ich alles nicht beschrieben habe. Das ist so wie mit dem Buchtitel, "Zu Gast...". Als Gast sieht man bestimmte Dinge vielleicht sogar besser als ein Einheimischer, aber eben vieles auch nicht.

Das Interview führte Ulf Kalkreuth für rbbKultur - Das Magazin

Sendung: rbbKultur - das Magazin, 13.04.2024, 18:30 Uhr

84 Kommentare

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  1. 84.

    Ihr Beitrag ist wohltuend. Wenn wir in" Freiheit und Wohlstand" leben wollen, müssen wir halt was dafür tun. Kämpfen und Arbeiten. Aber auch leasure and pleasure ist wichtig .Titelthema zwar verfehlt,aber was solls. Die Beiträge sind trotzdem interessant.

  2. 83.

    Danke, vielen Dank Sie haben ja so recht und Grüße nach Görlitz. Gibts da auch Obdachlose? Ich glaube nicht.

  3. 82.

    Habe Sie die Beiträge Ihrer Links in Gänze gehört? Zumindest zu Vincenz Müller wird ein sehr differenziertes Bild gezeichnet.

  4. 81.

    „Die "Alt-Bundesbürger" sollten sich nicht einbilden, dass nur im "Osten" die braune Saat keimt“. Ihre Ansicht?
    Alt- Bürger bilden sich nichts ein und verurteilen nicht pauschal den Osten. Fakt ist allerdings, dass im Osten die Neigung gebietsmäßig zu AFD extrem ist. Wer schürt mit am meisten? Ihr Kommentar, erzeugt keine Hetze gegen den Westen?

  5. 80.

    "oder woher kam z.B. in der Aufbauphase der NVA das Offizierspersonal einschließlich Unteroffiziere?"

    Die kamen aus der Wehrmacht, woher denn sonst. Waren aber nicht alle automatisch Nationalsozialisten. Diese Brücke wollen sie aber gern schlagen. Ein Beispiel nur: Willi Stoph war Unteroffizier der Wehrmacht und trotzdem kein Nazi.

  6. 79.

    "Und die Menschen in der DDR haben die CDU gewählt ..... und jetzt wählen sie rechte und rechtere Parteien..."
    Die Menschen in der DDR gibt es seit 1990 nicht mehr und können deshalb nicht rechte und rechtere Parteien wählen. Im übrigen werden rechte Parteien wie die AfD im gesamten Deutschland gewählt, nicht nur im "Osten". Die "Alt-Bundesbürger" sollten sich nicht einbilden, dass nur im "Osten" die braune Saat keimt. Der kapitalistische, gesellschaftliche Nährboden ist überall gleich

  7. 78.

    Olaf Schilloks, Ihre Ansicht ist eine der Besten unter den anderen Kommentaren.
    Offen, ehrlich so wie es ist. Viele übertreiben mit ihrer Anklage, da geht es quer durch das Gemüsebeet. Diese Leute sollten mal weiter ins Ausland schauen, wie viele Menschen ohne die Freiheit die wir haben leben müssen, wenn sie mit nichts mehr zufrieden sind.



  8. 77.

    Wesentliches, um bestimmtes Verhalten zu erklären haben Ursachen in Benachteiligungen und Chancenungleichheit. Darauf habe ich mit richtigen (!) Beispielen hingewiesen, die es jetzt noch gibt, länger als die 28jährige Mauer dicht war. Das würde es in keinem westlichen Land geben. In Keinem! Sie haben mich persönlich daraufhin angegriffen. Gerade wenn Sie beruflich damit zu tun hatten erklären Sie die Ungleichbehandlung wenn in Offenbach die Schulen mit 500 Mill. € Kredit saniert werden konnten und im Osten das nicht möglich ist. Diese einfache Tatsache wollen Sie verstecken? Wie man Schulden korrekt bezeichnet? Aber nochmal: Es ist ein anderes Thema. Darauf habe ich hingewiesen. Es ist kein Grund persönlich zu diffamieren.

  9. 76.

    "...Ausverkauf des Ostens..." Da ist tatsächlich einiges schief gelaufen. Die Treuhand habe ich hier weiter unten schon erwähnt. Aber die CDU haben nicht die Wessis gewählt, sondern die Menschen in der DDR haben die CDU mehrheitlich in die letzte Volkskammer gewählt. Und jetzt wählen sie wieder rechte und noch rechtere Parteien. Die AfD z.B. ist eine nationalliberale Partei, die kümmern sich sicherlich am Ende um die Kleinen Leute ;-)

  10. 75.

    "...Vorurteile, Verallgemeinerung und grobe Vereinfachung..." Was genau meinen Sie damit in meinem Kommentar?

  11. 74.

    "...das eigene Häuschen auf dem Grundstück eines Wessis..." Der eine oder andere merkte auf diese Weise, dass die DDR kein wirklicher Rechtsstaat war. Andersdenkende mussten aus der DDR fliehen oder wurden enteigenet. Wem der Grund unter dem Häuschen eigentlich gehörte, das war viele Jahre egal und es lebte sich bequem. Hundert Mark Miete und fertig (umgerechnet etwa EUR 12,50 monatlich). Die Wirkung war vielen nicht klar, als sie 1990 die CDU - eine Partei rechts der Mitte - in die Volkskammer wählten.

  12. 73.

    "...gleiche Augenhöhe..." Diese war menschlich sicherlich vorhanden, aber wirtschaftlich und was öffentliche Abläufe angeht tatsächlich nicht. Das Volk der DDR wählte 1990 aus freien Stücken die CDU mehrheitlich in die Volkskammer. Heute wird Kohl für "seine" Wiedervereinigung verehrt. Dabei war eine ganz andere Person fast alleine dafür verantwortlich: Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Viele aus dem Westen wurden dann in die Verwaltungen delegiert, um die Ostler auf den Stand zu bringen. Viele wirtschaftlich rentable Unternehmen wurden von der Treuhand platt gemacht, was der eigentliche "Verdienst" von Helmut Kohl ist, mit seinen Helfern Karsten Rohwedder und Birgit Breuel. Das verheerende "Schnell. schnell!" war der peinliche Verdienst der CDU. Trotzdem sind m.E. die meisten initiativen Menschen in den neuen Bundesländern auf die Beine gekommen und die passiven jammern bis heute und wollen eine antidemokratische Zukunft. Meine Meinung.

  13. 72.

    Jetzt habe ich mich hier durch 64 Beiträge gequält und stelle fest, daß die meisten Foristen wohl unter Verbitterung , Selbstmitleid , Besserwisserei, Überheblichkeit und Klugscheißerei leiden. Besorgnis erregend ist , dass Deutschland auch genauso im Ausland wahrgenommen wird .
    Wo ist denn die Fähigkeit der Gelassenheit, der Freude darüber das wir in Freiheit und Wohlstand leben, dass wir Arbeit, sauberes Wasser und Essen haben wenn wir es denn wollen und wir unsere Individualität exzessiv ausleben können?

  14. 71.

    Ja klar - wer so drauf ist, alle der Herkunft wegen in eine Schublade zu stecken, gehört eigentlich in die rechte Schmuddelecke. So lange solche Sprüche in Erwartung von Zustimmung veröffentlicht werden, gibt es eben keine „Einheit“.

  15. 70.

    ......mich noch eine Zeitlang begleiten? Sie haben bei mir einen anderen Nagel getroffen.
    Nazis, Zwangseinigung SED, der Widerstand der SPD usw. wurde in meiner alten Verwandtschaft oft diskutiert. Ein Mitglied in der Familie war früher aktiv in der Politik. Er wusste viel über diese Zeit.
    Sie werden bestimmt verstehen, dass man es nicht mehr hören und lesen will bei Kommentare, wo man merkt, da ist einiges vom Internet zusammen gebastelt. Nein, verdrängen tue ich nicht, aber Abstand halte ich davon.

  16. 69.

    Aber seit 1990 sind doch auch haufenweise Steuergelder in den Westen gegangen bzw. haben Westdeutsche Firmen vom Einkauf der DDR profitiert.
    Wieso werden alle Entwicklungen und die Arbeitskraft in Ostdeutschland immer als Aufbau Ost durch den Westen deklariert, die der Westen bezahlen musste?
    Das stimmt doch gar nicht.
    Wenn z. B. eine Chipfabrik im Osten gebaut wird, heißt es immer, es fließt Geld in den Osten.
    Den Nutzen davon hat doch auch der Westen - sogar noch viel stärker.
    Und eine Anspruchshaltung, die primär auf Ostdeutsche beschränkt sein soll, kann ich nicht erkennen.
    Bin Ostdeutscher und habe mir seit 1990 alles selbst aufgebaut. Für mich selbst ist das sehr viel. Mancher im Westen mit viel Vermögen würde sich kaputtlachen, auf das Wenige auf das ich stolz bin.

  17. 68.

    Wie schon schrieb sind Schulden ein komplexes Thema. Schulden sind nicht gleich Schulden. Anscheinend scheinen Sie die Unterschiede nicht zu erkennen da nützen auch keine weiteren Beispiel wenn Sie nicht sagen können ob es sich um Kassenkredit oder um einen normalen Bankkredit handelt. Zudem habe ich Sie auf die in den Länder Kommunalverfassungen hingewiesen.
    Wie gesagt ich habe mit diesem Thema auch beruflich zu tun und wie gesagt Laien tun sich schwer mit dieser Thematik!

  18. 67.

    Bei vielen Kommentaren bekomme ich das Gefühl; sollte Ost und West nicht wieder getrennt werden? Ist nicht mein Wunsch, aber viele Kommentatoren scheinen den Westen und die Bürger der alten Bundesländer so zu verachten, dass es mich schaudert. Nicht nur in diesem Beitrag, es zieht sich durch.

  19. 66.

    Ich glaube der Autor hat seine "Kenntnisse" zum Ruhrgebiet aus einer Schimanski-Tatort- Folge. Ein Tag dort würde zu fundierteren Aussagen führen. Ein Vergleich der dichtbesiedelsten Region mit einem Dorf im Osten spricht für sich. Milliarden Förderung für den Osten wurden dort erbracht- dabei haben sie die selbst gebraucht.
    Wer war eigentlich der Gastgeber für diesen selbstgefälligen Unsinn?

  20. 65.

    Sie ignorieren weiter die Benachteiligungen der Kommunen und Chancenungleichheit der einheimischen Bürger? Beispiele habe ich aufgezählt. Aber noch nicht Alle! Sollen wie weitermachen? In einem Wahljahr?

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