Berlinale-Filmkritik | Dokus im Wettbewerb - Sprechende Statuen und krachende Geröllhalden

Mo 19.02.24 | 18:05 Uhr | Von Fabian Wallmeier
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Zwei Dokus sind dieses Jahr im Wettbewerb. "Dahomey" ist eine kurze, konzentrierte Lehrstunde über die Rückgabe von Raubkunst, "Architecton" ein deutlich pompöserer und wenig fokussierter Filmessay über Stein und Beton. Von Fabian Wallmeier

Victor Kossakovsky geht in die Vollen: Im Surround-Sound des Berlinale-Palasts zischt und dröhnt es aus unterschiedlichen Richtungen, während auf der Leinwand eine Geröllhalde in Bewegung gerät, wie eine gewaltige Welle stürzt sie herab. Dabei ist das Thema seines Films "Architecton" ein eher trockenes, vorsichtig gesagt: Es geht um Beton. Und um Gesteine überhaupt. Aber auch um das Errichten und Zerstören von Gebäuden.

Eine solche Verbindung von Grundsätzlichkeit und Weitschweifigkeit mit größtmöglichem Show-Effekt in Bild und Ton kennt man von Kossakovsky: In "Aquarela" (2014) befasste er sich ganz allgemein mit Wasser - und sammelte spektakuläre Aufnahmen aus der ganzen Welt. Dazu dröhnte eine Art Heavy-Metal-Klassik. Ein Mix, dessen Brachialität man sich schwerlich entziehen konnte, der aber auf die Dauer allzu plakativ auf die totale Überwältigung abzielte.

2020 war Kossakovsky schon einmal auf der Berlinale zu Gast. Im ersten Encounters-Jahrgang wurde seine anrührende Doku "Gunda" über ein Schwein zum Überraschungshit. Mit seiner ersten Einladung in den Wettbewerb knüpft er nun wieder an die härtere Gangart von "Aquarela" an.

"Architecton" von Victor Kossakovsky © 2024 Ma.ja.de. Filmproduktions GmbH, Point du Jour, Les Films du Balibari
"Architecton" von Victor Kossakowsky

Donnernde Tubas, sägende Streicher

Auch in "Architecton" wird bei Score und Soundeffekten nicht gekleckert. Donnernde Tubas, kakophonische Bläsersätze, sphärisch sägende und dann immer weiter anschwellende Streicher, dazu viel Hall und immer wieder mächtige Sounds, die die Bilder verstärken. Und es sind wirklich spektakuläre Bilder. Immer wieder gleiten die Kameradrohnen über Schutthalden und Bergmassive, Ruinen und Steinbrüche, Abrissviertel und Baustellen. Aber wie bei "Aquarela" wird es auf Dauer zu viel des Guten. Ja doch, wir haben es begriffen: Es geht um die Vergänglichkeit des Erbauten. Gestein wird zu Baumaterial, Baumaterial wird zu gigantischen Mengen von Gesteinsschrott.

Als Kontrapunkt des Bombasts begegnen wir dem italienischen Architekten Michele. Der lässt in seinem Garten einen Kreis aus Steinen errichten. Einen "magischen Kreis", den im Anschluss kein Mensch mehr betreten darf. Immer wieder zeigt Kossakovsky zwischen all dem Lärm ganz ruhig, wie Michele mit seinen Arbeitern über die Arbeiten spricht und dabei nach und nach der Kreis entsteht. Ganz am Ende tritt der Regisseur dann selbst in den Dialog mit dem Architekten – und der Film mündet in ein Plädoyer für nachhaltiges Bauen und "eine neue Idee von Schönheit".

Kossakovsky sagt, er habe eigentlich eine Komödie über moderne Architektur machen wollen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine habe das dann aber unmöglich gemacht. Diesem Umstand geschuldet ist auch der Prolog des Films: Da wird in langen Rückwärtsbewegungen der Kamera an zerbombten Häusern entlang das Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Und eine unmissverständliche Positionierung: Auf einem Plakat auf einer zerstörten Häuserfassade wird der Ausschluss Russlands aus den Vereinten Nationen gefordert.

Konzentrierter: Mati Diops "Dahomey"

"Dahomey" von Mati Diop © Les Films du Bal - Fanta Sy
"Dahomey" von Mati Diop

Ein hochpolitisches Thema hat auch der zweite Dokumentarfilm des Wettbewerbs. "Dahomey" begleitet die Rückgabe von 26 Raubkunstgegenständen von Frankreich an Benin, das bis 1975 Dahomey hieß. Doch Regisseurin Mati Diop geht dabei sehr viel konzentrierter vor als Kossakovsky – und das liegt nicht nur daran, dass ihr Film gerade einmal eine gute Stunde dauert. Statt selbst in Erscheinung zu treten und klare Botschaften zu verkünden, lässt sie zum einen die Menschen aus Benin sprechen – und zum anderen die Kunstwerke selbst.

Schon bevor die Kunstwerke zu sehen sind, erhebt eines von ihnen aus dem Off seine Stimme. Diop lässt eine der Statuen mit düster verzerrter Stimme vom Leben in dunklen Räumen sprechen, von Entwurzelung und Erinnerungen und von der Angst vor der Rückkehr: "dass ich nicht erkannt werde, und dass ich nichts erkenne".

Subtil ist auch diese Herangehensweise nicht, aber man gewöhnt sich schnell an die immer wieder auftauchende Stimme und ihre großen Worte im Kontrast zur nüchternen Abbildung des Rückgabevorgangs. Da werden die Gegenstände sorgsam von Männern mit Handschuhen verpackt, gesichert, ins Flugzeug geladen – und in Benin in Empfang genommen.

Nicht dem Freudentaumel erlegen

Dort säumen tanzende und singende Menschen in Trachten die Straßen. Die Zeitungen jubeln – "Historique" steht auf einem Titel ganzseitig. Doch Diop gibt sich nicht dem Freudentaumel hin. Sie zeigt zunächst einmal nüchtern, wie die einzelnen Statuen, Monstranzen, Schatullen katalogisiert werden. Ein Archivar liest Beschreibungen vor und die Bewertungen des jeweiligen Zustands.

Vor allem aber lässt sie beninische Student:innen zu Wort kommen. Die nehmen in Diskussionsveranstaltungen die Rückgabe der Raubkunst höchst kontrovers und kritisch auf. "Ich fühle nichts, für mich ist das nur Zeug", sagt einer. Eine andere sagt, sie habe 15 Minuten geweint, weil sie so wütend gewesen sei, dass von den 7.000 Raubkunstgegenständen, die es in Frankreich gebe, nur 26 zurückgegeben worden seien.

Museale Aufbereitung als westliches Prinzip

Und noch einer wirft ein, dass es nicht nur das materielle Erbe gebe, das teilweise im Ausland sei, sondern auch das immaterielle: die Traditionen und Tänze. Und die seien "hiergeblieben". Wieder andere Student:innen bezeichnen die Rückgabe als rein politisch motivierte Show oder stellen die nun gestartete museale Aufbereitung der Kunstgegenstände ganz grundsätzlich in Frage, weil sie ein westliches Prinzip sei.

Vielleicht ist das am Ende das größte Verdienst von Mati Diops klugem kurzem Film: Erst im Nebeneinander von Meinungsvielfalt, der nüchternen Beobachtung des konkreten Rückgabevorgangs und der emotionalen Fiktionalisierung durch die Off-Stimme entsteht das ganze Spektrum. Eine eigene Meinung muss sich das Publikum, ganz anders als bei Kossakovsky, selbst daraus bilden.

Sendung: rbb24 Inforadio, 18.02.2024, 14:40 Uhr

Beitrag von Fabian Wallmeier

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