Amateurfußball - Schiedsrichter werden immer wieder angefeindet, ihren Job lieben sie trotzdem

Di 12.09.23 | 08:52 Uhr | Von Ilja Behnisch
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Rudelbildung beim Amateurfußball (imago images/Norbert Schmidt)
Bild: imago images/Norbert Schmidt

Egal ob in der Bundesliga oder der Kreisklasse, in einem Punkt sind sich alle meist einig: Schuld ist immer der Schiri. Eine Suche nach Ursachen und Lösungen. Von Ilja Behnisch

Leon Mühlbrandt hat eine ungefähre Ahnung davon, was für ein Spiel da auf ihn zukommt. Am 25. März 2023, auf dem Sportplatz Grünow, Dorfstraße 25a, mitten in der Uckermark. Ein Nachholspiel in der Landesklasse Nord steht an, zwischen dem FC 06 Einheit Grünow und dem FSV Fortuna Britz 90.

Die Gastgeber sind abgeschlagen Letzter, haben gerade einmal drei Punkte auf dem Konto. Die Gäste kämpfen noch um den Klassenerhalt, können jeden Punkt mehr als gut gebrauchen. In der Fair-Play-Tabelle hingegen sind die beiden Klubs Tabellennachbarn. Die unfairsten Mannschaften der Liga. Mit Abstand. Leon Mühlbrandt, 22 Jahre alt und Schiedsrichter der Partie, ist also gewarnt.

70 Zuschauer haben sich eingefunden, Anpfiff ist um 14:05 Uhr. Etwas mehr als eineinhalb Stunden später hat Mühlbrandt fünf gelbe Karten verteilt, nach sieben Toren zum Mittelkreis gedeutet und, sieben Minuten vor Ende der regulären Spielzeit, einen Spielabbruch ausgesprochen.

Warum tut man sich das an?

Es ist eine von 119 besonderen Vorkommnissen, die brandenburgische Schiedsrichter in der Spielzeit 2022/23 zu vermelden hatten. Das ist vergleichsweise wenig, bundesweit liegt die Zahl bei 5.582 Vorfällen. Und doch sind die Zahlen auch in Brandenburg gestiegen, sagt Marko Schmidt, Vorsitzender des Brandenburger Schiedsrichter-Ausschusses. 70 Prozent der Vergehen seien von Zuschauern ausgelöst worden. Für ihn ist es ein gesellschaftliches Phänomen. "Es wird mehr gemeckert und leider auf die, die sowieso nichts sagen können", so Schmidt. Den Schiedsrichter anzugehen, sei Routine geworden. Als gehöre es dazu.

Dass die Zahlen nicht nur in Brandenburg gestiegen sind, belegt das "Lagebild des Amateurfußballs" [dfb.de], welches der DFB unlängst veröffentlicht hat. Darin gesammelt sind sämtliche Spielberichte im deutschen Amateurfußball, die seit 2014 online eingereicht wurden. Besonders eine Zahl sticht dabei heraus: die der Spielabbrüche. Über Jahre war die Quote stabil geblieben, nun stieg sie von zuletzt 0,05 Prozent auf 0,075 Prozent. Zahlen im Promille-Bereich. Und doch ist jeder Abbruch einer zu viel. In absoluten Zahlen bedeutet das: Im Schnitt wurde in der vergangenen Saison jedes 1.339. Spiel abgebrochen.

Schiedsrichter wird des Geländes verwiesen

Der Spielabbruch, den Leon Mühlbrandt begleiten musste, ging von den Zuschauern aus. Die Heimmannschaft hatte gerade das vermeintliche 4:4 erzielt, das Schiedsrichter-Gespann im Vorfeld der Torerzielung jedoch ein Foul erkannt. Als der kurz darauf ausgewechselte, vermeintliche Torschütze Grünows dem Gefoulten aus Britz vorhält, zu simulieren, kommt es am Spielfeldrand zu einer Rudelbildung. Dann stürmen Zuschauer auf den Rasen, sie attackieren die Gästemannschaft. "Ein Spieler wurde gewürgt, einem anderen auf den Hinterkopf geboxt", erinnert sich Mühlbrandt. Ordner waren zunächst keine zugegen. Erst mit Ausbruch der Gewalt hätten sich zwei Männer aus Grünow Ordnerleibchen übergeworfen. Das Geschehen beruhigt sich nach ein bis zwei Minuten wieder von allein. Für den Schiedsrichter ist dennoch klar und unumstößlich: Abbruch.

Auf Verständnis trifft er damit nicht. Beide Mannschaften wollen weiterspielen. Doch was, wenn noch etwas passiert? "Dann hätte ich eine Mitschuld", so Mühlbrandt. Die Regeln geben aber ohnehin nichts anderes her. Ein Spielabbruch kann nicht zurückgenommen werden. Für den FC 06 Einheit Grünow jedoch scheint der Schuldige gefunden. Der Verein enthält dem Schiedsrichter und seinen beiden Assistenten das Geld für die Aufwandsentschädigung und die Fahrtkosten vor und verweist sie kurze Zeit darauf des Geländes. Später wird Grünow vom Sportgericht zum Verlierer des Spiels erklärt und mit einer Strafe belegt. Rund einen Monat nach dem Vorfall überweist der Verein endlich auch das Geld.

Die beste Schule des Lebens

Angst habe er nicht gehabt, sagt Leon Mühlbrandt. Vielleicht, weil der Adrenalin-Spiegel in der Situation so hoch gewesen sei. Das Spiel am darauffolgenden Tag, für das er ebenfalls angesetzt war, gibt er dennoch ab. Eine Woche später ist er wieder auf dem Platz. Ohne Nachwirkungen. Und trotzdem stellt sich die Frage: Warum tut man sich das an? So oft mindestens der Buh-Mann zu sein. Wenn nicht sogar mehr, wenn nicht sogar das Opfer von Gewalt.

Stellt man Schiedsrichtern und Schiedsrichterinnen diese Frage, fällt die Antwort fast immer gleich aus. So wie bei Linda Kollmann, 25 Jahre alt und seit zehn Jahren Schiedsrichterin. Früher hat sie in der zweiten Frauen-Bundesliga gepfiffen, war Assistentin in der Frauenfußball-Bundesliga. Inzwischen ist sie bei den Herren in der Brandenburg-Liga unterwegs. Kollmann sagt: "Die Schiedsrichterei, das ist die beste Schule des Lebens." Der Umgang mit Konfliktsituationen, mit Kritik, habe einen enormen Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung. Viele profitieren gerade auch im Beruf von ihren Erfahrungen an der Pfeife. "Ich sehe etwas richtig und schaffe es auch, das durchzusetzen", sagt Kollmann. Zudem sei die Schiedsrichter-Gemeinschaft ein verschworener Haufen, das hört man immer wieder. Viele finden Freundschaften fürs Leben. Und dann, klar, kann man als Schiedsrichter noch umsonst zu vielen Spielen und zusätzlich ein wenig sein Taschengeld aufbessern.

Linda Kollmann (r.) mit ihrem Team. Quelle: imago images/Beautiful SportsLinda Kollmann (r.) mit ihrem Team.

Vorbild Handball?

Linda Kollmann jedenfalls habe nie überlegt, aufzuhören. Die ersten zwei, drei Jahre seien schwieriger gewesen. Dann hat sie gelernt, die Pöbeleien nicht persönlich zu nehmen. Sie hat gelernt, zwischen sich und ihrer Funktion zu unterscheiden. Immerhin: Sexistische Übergriffe habe sie noch keine erleben müssen. Ihr Eindruck: die Spieler reißen sich doch eher zusammen, wenn sie einer Frau gegenüber stehen. Wenn etwas kommt, dann von den Zuschauerrängen. Es sind meistens die gleichen, sagt Kollmann. Alte Männer mit ihren "Ach, Püppchen"-Sprüchen.

Doch auch wenn die Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen meist erstaunlich gut mit ihrer Rolle umzugehen scheinen, besteht Handlungsbedarf. Nur, wo ansetzen? Jan Seidel, als Schiedsrichter-Assistent im Team von Fifa-Schiedsrichter Daniel Siebert zwischen Bundesliga, Champions League und Weltmeisterschaft unterwegs, denkt dabei vor allem an Sanktionen. Seidels Vorbild: der Handball. "Vor 15 Jahren, zu Zeiten von Bundestrainer Heiner Brand, da wurden die Schiedsrichter auch im Handball noch umlagert", sagt der 38 Jahre alte Seidel. Anschließend hat ein Umdenken stattgefunden. Jeder Protest wurde fortan mit Zeitstrafen von zwei Minuten und mehr geahndet. Nach einer kurzen Übergangszeit habe das Konzept Früchte getragen. "Seither gibt es null Diskussionen. Der Ball wird hingelegt, es wird zurückgelaufen, fertig. Der Schiedsrichter wird akzeptiert, weil es eine Null-Toleranz-Linie gibt."

Jan Seidel in engem Austausch mit HSV-Torwart Daniel Heuer Fernandes. Quelle: imago images/Uwe Kraft
Jan Seidel in engem Austausch mit HSV-Torwart Daniel Heuer Fernandes. | Bild: imago images/Uwe Kraft

Kritik an der Bundesliga

Im Fußball hingegen, so Seidels Eindruck, seien die Strafen zu mild. Und der Profi-Bereich, sein berufliches Habitat, leider zu selten ein gutes Vorbild. Viele Amateur-Schiedsrichter sagen deshalb aus eigener, leidvoller Erfahrung, dass das, was am Samstag in der Bundesliga vorgelebt wird, schon am Sonntag auf den Amateurplätzen angekommen ist. Oder wie Seidel es formuliert: "Wenn sich Spieler und Trainer daneben benehmen, dann färbt das ab. Bei allem Verständnis für Emotionalität, ist die Vorbildfunktion da wichtiger."

Was bleibt, ist das absurde anmutende Paradox, dass Schiedsrichter den Punktspielbetrieb überhaupt erst ermöglichen und trotzdem seine größte Zielscheibe sind. Marko Schmidt, der Vorsitzende des Brandenburger Schiedsrichterausschusses, sagt, er gehe nach den Partien häufiger mal auf Spieler und Trainer zu, frage sie, doch auch mal zu pfeifen. Um Gottes willen, so laute dann zumeist die Antwort, vielen Dank, aber das wolle man sich doch nicht antun. Es brauche eine positive Erzählung des Schiedsrichters, findet Schmidt deshalb. Verrückt gewordenen Zuschauern wie im Fall von Leon Mühlbrandt wird man auch so nicht Herr. Aber manche Dinge erledigt der Fußballgott auch auf dem kleinen Dienstweg. Der FC 06 Einheit Grünow hat sich mit Beginn der neuen Saison vom Spielbetrieb abgemeldet.

Sendung: rbb24 Inforadio, 12.09.2023, 19:15 Uhr

Beitrag von Ilja Behnisch

2 Kommentare

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  1. 2.

    Ich habe noch nie beobachtet, dass Meckern hilft. Nie habe ich gesehen, in Zahlen 0 mal, dass ein Schiedsrichter aufgrund von Meckern seine Entscheidung revidiert hat. Eher sind dadurch Antipathien entstanden. Fußballer (mwd) zeigen durch Meckern oder sogar Aufbauen vor dem Schiedsrichter in meinen Augen nur ihre Unfähigkeit, sich zu beherrschen.

  2. 1.

    Jede Diskussion bzw Rudelbildung sofort unterbinden mit Gelben Karten, sobald der Schiedsrichter angegangen wird und das von der FIFA, UEFA u. Bundesliga abwärts. Darauf warte ich schon lange im Fussball. Es kann doch nicht sein, dass jede nur so kleine Aktion mit Diskussion gegen den Schiedsrichter durchgeführt wird von den Spielern und den Trainern und ein Belagerungsring um den Schiri entsteht. Was beim Handball funktioniert, funktioniert auch erst recht im Fussball. Wie schnell wäre Ruhe auf dem Platz, wenn die Spieler und Trainer wüßten, dass es min. Gelb gibt sobald die Schiedsrichterentscheidung mit Diskussion gegen den Schiedrichter angezeigt wird. Für Trikotausziehen gibt es Gelb, warum nicht bei Schiedsrichterdiskussionen der Spieler und Trainer.

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