Fazit | Berlinale 2021 - Nur gestreamt - und doch gewonnen

Fr 05.03.21 | 18:29 Uhr | Von Fabian Wallmeier
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"Memory Box", Paloma Vauthier (Hand) pictures of Mana Issa, Rea Gemayel, Wettbewerb Berlinale 2021 (Quelle: Haut et Court - Abbout Productions - Micro_Scope)
Audio: Inforadio | 05.03.2021 | Anke Sterneborg | Bild: Haut et Court - Abbout Productions - Micro_Scope

Der erste Teil der Pandemie-Berlinale endet mit nachvollziehbaren Jury-Entscheidungen. Wieder gab es bemerkenswert viele starke Wettbewerbsfilme. Es bleibt aber ein Jammer, dass sie noch kaum jemand sehen konnte. Von Fabian Wallmeier

 

Die Berliner Kinos sind geschlossen, der Potsdamer Platz ist verwaist – der Stadt merkt man beim besten Willen nicht an, dass gerade die Berlinale stattfindet. Der erste Teil der Pandemie-Ausgabe des Filmfestivals (1. bis 5. März) ist ein reines Streaming-Event, zugelassen sind nur Branchen- und Medienvertreter*innen. Auch die Bekanntgabe der Preisträger*innen am Freitagmittag war statt einer Gala am Potsdamer Platz nur ein kurzer Video-Stream. Gerade einmal 16 Minuten dauerte es, bis alle Jury-Entscheidungen in der Welt waren.

Im heimischen Wohnzimmer will natürlich auch keine Festival-Stimmung aufkommen. Es fehlen die Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen, die Begegnungen mit den Filmschaffenden, die konzentrationsschärfende Abgeschiedenheit eines dunklen Kinosaals – und vor allem: Es fehlt die große Leinwand. Wie oft habe ich beim Streamen der Filme geseufzt: Wie das wohl erst im Kino wirken muss!

Im Frühsommer (9. bis 20. Juni) soll all das nachgeholt werden . Dann soll auch endlich Berlin wieder seine Berlinale bekommen. Dann kommen die Filmschaffenden, mit und ohne Preise, in die Stadt, um ihre Werke dem Publikum zu präsentieren, in Open-Air-Kinos und in klassischen Kinosälen.

Wenn denn die Pandemie es erlaubt.

Nebensektionen kaum wahrgenommen

Die Berlinale hat zwar ihr Programm erheblich verkleinert. Doch dadurch, dass sie das Stream-Event auf fünf Tage begrenzt hat, ist es nun viel weniger als sonst möglich, über den Tellerrand des Wettbewerbs hinauszuschauen: Die anderen Sektionen hatten schon allein aus Zeitgründen kaum eine Chance, wahrgenommen zu werden. Die Berlinale wird sich etwas überlegen müssen, um ihnen im Juni Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vielleicht würde es helfen, den Medien in der Zeit dazwischen die Gelegenheit zur Sichtung zu bieten, damit sie vor dem Sommer-Teil der Berlinale auf besonders sehenswerte Filme aus den Nebensektionen hinweisen können.

Die Entscheidung, die Filme schon jetzt zumindest den Medien zu zeigen, war aber richtig. Denn so bekommt mindestens der Wettbewerb, mit ausreichendem zeitlichem Abstand zu Cannes und Venedig, die mediale Aufmerksamkeit, die gerade Filme abseits des Mainstreams brauchen, um eine größere Öffentlichkeit zu erreichen.

Zwei Frauen mit Darstellungspreisen ausgezeichnet

Als das Festival im vergangenen Sommer beschloss, statt Schauspielpreisen für Männer und Frauen künftig genderneutrale Preise für Haupt- und Nebenrolle zu vergeben, stieß das auch auf Protest: Neben dem erwartbaren dümmlichen Gendergaga-Vorwurf gab es auch Befürchtungen, Frauen könnten dadurch noch stärker benachteiligt werden. Das Fehlen eines Preises für Frauen könnte ihre strukturelle Benachteiligung in der Filmbranche, ihre unterproportionale Versorgung mit guten Rollen noch stärker zementieren, so die Befürchtung.

Das hat sich in dieser ersten Festival-Ausgabe mit den neuen Rollen nicht bewahrheitet: Beide Preise gingen an Frauen. Die wie immer beachtliche Maren Eggert wurde für ihre Hauptrolle in Maria Schraders mauer Science-Fiction-Liebeskomödie "Ich bin dein Mensch" geehrt und die sehr feinsinnig die Emotionen austarierende Lilla Kinzlinger für ihre Nebenrolle in Bence Fliegaufs ansonsten eher plattem Episodenfilm "Forest - I See You Everywhere".

Was für ein Wettbewerb!

Dass die Jury bei den Darstellungspreisen auf zwei der schwächeren Filme zurückgriff, mutet bei aller Wertschätzung für die Leistungen der Geehrten seltsam an. Denn was für ein Wettbewerb das war! Chatrian ist es gelungen, das hohe Niveau seines ersten Jahres als künstlerischer Leiter der Berlinale aus dem vergangenen Jahr zu halten, wenn nicht sogar zu übertreffen. Nun waren es zwar in diesem Jahr auch deutlich weniger Filme als sonst - 15 statt der sonst üblichen 20 bis 24 - aber unter den Bedingungen der Pandemie ist auch weniger produziert worden.

Radu Jude hat mit seinem Gewinnerfilm "Bad Luck Banging or Loony Porn" den einzigen Wettbewerbsbeitrag gedreht, der Corona ganz explizit thematisch miteinbezieht: In der furiosen Satire um eine Lehrerin, deren privates Sexvideo im Internet auftaucht, wird die Pandemie mit ihren neuen Ritualen und Zwängen zur Verstärkerin einer ohnehin schon angespannten Stimmung. Wenn ein Film so gut den Zeitgeist einfängt und gleichzeitig strukturell und erzählerisch so gewagt ist wie dieser, ist es absolut nachvollziehbar, dass die Jury ihn mit dem Goldenen Bären ehrt.

Herausragende unprämierte Filme

Auch der Große Preis der Jury für Ryusuke Hamaguchs "Wheel of Fortune and Fantasy", einen glücklich machenden, fein konstruierten Episodenfilm über folgenreiche Zufälle, ist eine erfreuliche Entscheidung. Der Preis der Jury für Maria Speths allenfalls überlanges Porträt eines außergewöhnlichen Lehrers, "Herr Bachmann und seine Klasse", ist ebenfalls nachvollziehbar, der Drehbuchpreis für Hong Sangsoos wieder einmal meisterlichen melancholischen "Introduction" sowieso. Und auch an den anderen Preisentscheidungen gibt es nichts substanziell auszusetzen.

Ein untrügliches Zeichen für die hohe Qualität des Wettbewerbs ist aber vor allem, wie viele herausragende Filme unprämiert blieben: Weder Dominik Grafs mal flirrende, mal pulsierende Erich-Kästner-Verfilmung "Fabian oder Der Gang vor die Hunde" noch Céline Sciammas kluges Gedankenexperiment "Petite Maman", in dem ein Mädchen auf die eigene Mutter als Kind trifft, wurden ausgezeichnet. Auch der meiner Meinung nach beste Beitrag des Wettbewerbs, Alexandre Koberidzes filmisches Sommermärchenwunder "Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?", ging leer aus, wurde aber immerhin von der Jury des Verbands der Filmkritik mit dem Fipresci-Preis bedacht.

Que sera sera

Verliehen sind die Preise mit der Bekanntgabe indes noch nicht – die eigentliche feierliche Preisverleihung soll erst im Juni stattfinden. Sie wird natürlich ganz anders sein als sonst: Statt spontaner Überwältigung und Freude über die Preise werden die Preisträgerinnen und Preisträger wohlüberlegte Dankesreden halten können, an denen sie nun mehr als drei Monate feilen können. Umso schöner ist es, dass die Berlinale die unmittelbaren Reaktionen auf die Bekanntgabe der Preise als Video-Clips auf ihrer Webseite [berlinale.de] bereitstellt.

Radu Jude etwa beginnt da erst nach ein paar Minuten zu glauben, dass Chatrian ihn mit der Nachricht, dass er den Goldenen Bären gewonnen hat, nicht veralbern will. Lilla Kinzlinger rastet herzerfrischend aus, als Regisseur Bence Fliegauf ihr mitteilt, dass sie für die beste Nebenrolle ausgezeichnet wurde. Und Solitär Hong Sangsoo macht sein ganz eigenes Ding: Er filmt und verliest eine ausgedruckte Dankesbotschaft - und zeigt dann als Dankeschön einen Clip, in der eine Schnecke durchs Bild kriecht, während Schauspielerin Kim Minhee (Gewinnerin des Schauspielerinnen-Bären 2017) "Que Sera" singt.

Es ist ein schicksalergebenes Lied: Que sera sera - was immer sein wird, wird sein. Das passt ganz gut zur Ungewissheit, die die Pandemie der Welt auferlegt und damit auch der Berlinale. Hoffen wir, dass was da im Juni sein wird, vor allem eins sein wird: ein Publikumsfestival. Und dass die Filme dahin kommen, wo sie hingehören: in die Kinos, unter Menschen, die sich vor großen Leinwänden versammeln.

Beitrag von Fabian Wallmeier

1 Kommentar

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  1. 1.

    Es ist so ziemlich die traurigste Berlinale die ich je erlebt habe. Ich hatte nicht mal Lust die Beiträge zu den Filmen zu lesen, denn wenn ich es doch eh nicht sehen kann, wo bleibt denn da die Freude zu wissen worum es geht?
    Ich verstehe nicht so ganz, warum der Zugang so extrem begrenzt wurde. Andere Festivals haben sich ihrem Publikum online mehr geöffnet. Die Berlinale ist dieses mal ihrem Ruf, ein Publikumsfestoval zu sein, nicht gerecht geworden.
    Klar. Im Sommer soll es dann möglich werden... vielleicht. Aber bis dahin ist doch alles vergessen was jetzt gerade hinter den Kulissen gelaufen ist.

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