Charité erforscht Arzneimittelversuche - DDR ließ mehr Pharma-Tests zu als bekannt

Do 25.04.13 | 17:00 Uhr | Von Sabine Jauer

Devisengeschäft in Millionenhöhe: Insgesamt mehr als 500 klinische Arzneimittelversuche westlicher Pharmafirmen hat es seit Mitte der 1970er Jahre in der DDR gegeben - weit mehr als bisher angenommen. Zu diesem Ergebnis sind Historiker der Berliner Charité gekommen. Damit ist das Ausmaß dieser umstrittenen Medikamententestreihen weit größer als bislang angenommen.

Die Bezirkskrankenhäuser Potsdam, Cottbus und Frankfurt/Oder waren dabei, die Krankenhäuser Bad Saarow und Neuruppin, die Uniklinik in Jena, Berlin-Buch und die Charité - die Versuchsreihen waren flächendeckend über die DDR verteilt, kaum ein größeres Krankenhaus blieb außen vor.

Die meisten Versuche wurden im Rahmen einer Arzneimittelzulassung durchgeführt, sagt Volker Hess, Medizinhistoriker der Charité. Er schildert die Reihen als große klinische Tests - oft mit mehreren hundert Teilnehmern. "Das Gesundheitsministerium hat die Anträge angenommen, begutachtet, sie wurden durch die Behörden der DDR gewissermaßen beaufsichtigt. Dann saß die Staatssicherheit mit am Tisch, die hat die Kontakte angebahnt, hat die Hand aufgehalten, das heißt der Staat hat diese Versuche in gewisser Weise kommerzialisiert."

Herz- und Kreislaufmittel, Krebsmedikamente und Psychopharmaka

Auftraggeber waren im Lauf der Jahre an die 50 Pharmahersteller im Westen, darunter namhafte Firmen, wie Sandoz und Hoechst. Für einzelne Studien wurden mehr als 800.000 D-Mark gezahlt. Abgewickelt wurden diese Geschäfte über die Berliner Import-Export-GmbH, die zur Kommerziellen Koordinierung von Alexander Schalck-Golodkowski gehörte.

"Die eigentliche Pointe der Geschichte ist", so Hess, "dass diese Versuche gewissermaßen ein ökonomischer Zweig des DDR-Gesundheitswesens waren. Man hat mit den Einnahmen andere Bereiche finanziert. Man hat sogar von einem ‚immateriellen Arzneimittelexport’ gesprochen, das heißt, die Wissenschaft wurde hier zu Markte getragen, und das in einem sozialistischen Land - das ist die spannende Frage."

Kaum Antworten, dafür viele weitere Fragen. Warum gingen die Pharmafirmen ausgerechnet in die DDR, um ihre Herz- und Kreislaufmittel, Krebsmedikamente und Psychopharmaka zu testen? Wurden die Patienten - wie vorgeschrieben - aufgeklärt? Oder wurde gegen ethische Standards verstoßen?

Aufklärung darüber soll nun ein großes Forschungsvorhaben an der Charité bringen, gefördert vom Bundesinnenministerium. Der Umfang dieser Arzneimittelversuche soll möglichst flächendeckend rekonstruiert werden. "Wir würden gern wissen, welche Versuche, wann, wo und wie durchgeführt wurden", so Hess. "Das wird nicht heißen, dass man in jedem Fall die Krankenblätter einsehen kann, die meisten sind eh vernichtet. Aber an ausgewählten Beispielen wollen wir bis in die klinische Praxis hinunter und rekonstruieren, wie sah das mit der Patientenaufklärung aus."

Besonders diese Frage, wie mit kranken Menschen in der DDR umgegangen worden ist, interessiert auch die Stasi-Beauftragten der Länder. Wurden international anerkannte ethische Standards verletzt? Wurden die Patienten umfassend aufgeklärt? Waren die Ärzte frei in ihrer Entscheidung, sich an diesen Tests zu beteiligen?

Dass die Charité, an der mehr als die Hälfte aller Versuche stattfanden, nun allein die Aufklärung in die Hand nimmt, stößt bei der Thüringer Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Hildigund Neubert, auf Skepsis. Sie fordert, Wissenschaftler aus den anderen ostdeutschen Ländern miteinzubeziehen, damit sich die Forschungen nicht nur auf die Charité konzentrieren, sondern auch untersucht wird, was in den Krankenhäusern der "Provinz" passiert ist.

Beitrag von Sabine Jauer

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