Interview | Augenarzt Christian Gintner - "Jede Barriere kann beitragen, dass sich das Virus langsamer ausbreitet"

Do 02.04.20 | 15:32 Uhr
Passant mit Mundschutz (Quelle: imago /Future Image)
Bild: imago/Future Image

Wie sinnvoll ist das Tragen eines Mundschutzes? Welche Unterschiede gibt es bei den Masken? Und welche Art hilft wem? Der Augenarzt Christian Gittner erklärt im Interview, warum er das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes für extrem wichtig hält.

Was Sie jetzt wissen müssen

rbb: Herr Gittner, warum liegt Ihnen das Thema Mundschutz als Augenarzt so sehr am Herzen?

Christian Gittner: Wir Augenärzte, aber auch die HNO- und Zahnärzte, haben ein erhöhtes Ansteckungsrisiko, da wir im Gesicht der Patienten arbeiten. Erinnern wir uns: Eines der ersten Covid-19-Todesopfer unter Medizinern war der 33-jährige Augenarzt Li Wenliang, der die Welt noch vor dem neuen Virus gewarnt hatte. Als Augenärzte behandeln wir auch außerhalb von Corona hoch ansteckende Patienten, die beispielsweise mit Adenoviren am Auge infiziert sind. Daher beschäftigt mich seit über zehn Jahren die Frage, wie sich Arzt und Patient am besten vor Tröpfchen und Aerosolen schützen lassen. Kollegen aus verschiedenen Fachrichtungen sehen genau wie ich aktuell eine große Ansteckungsgefahr für uns alle, solange die Menschen keinen Mundschutz tragen.

Alle reden vom Mundschutz, meinen aber nicht unbedingt das Gleiche. Welche Unterschiede gibt es?

In der Regel ist beim Mundschutz die OP-Maske gemeint, die der Operateur trägt, um seine Patienten nicht zu infizieren. Der korrekte Begriff lautet Mund-Nasen-Schutz (MNS). Berufsgruppen, die im engen Kontakt zu Sars-Cov-2 infizierten Patienten stehen, verwenden dicht abschließende Atemschutzmasken. Diese FFP2- und FFP3-Masken filtern die Einatemluft, Sie entfernen also feinste Partikel aus der Umgebungsluft, die sonst eingeatmet würden. Die Filter erschweren allerdings das Atmen deutlich und dürfen nicht lange getragen werden.

Was genau ist jetzt der Unterschied zwischen MNS- und FFP-Atemschutz?

Der Mund-Nasen-Schutz schützt vor allem die anderen Menschen in der Umgebung, die FFP-Atemschutzmasken schützen den Träger. Der MNS trägt sich viel leichter als eine FFP-Maske und ist daher auch für den Normalbürger geeignet. Sie fängt Tröpfchen und Aerosole direkt da ab, wo sie entstehen: an Mund und Nase. Dieser Schutz muss nicht perfekt sein. Es geht vor allem darum, die Virusmenge zu senken, so dass eine Infektion des Gegenübers unwahrscheinlicher wird. Je mehr Menschen einen MNS tragen, desto größer ist der schützende Effekt.

Sie sind dafür, dass jeder einen MNS trägt. Warum?

Damit wir die Menschen um uns herum schützen. Jede physische Barriere kann dazu beitragen, dass sich das neuartige Coronavirus langsamer ausbreitet. Jemand, der unwissentlich infiziert ist, hält mit einem MNS das Virus zurück. Tröpfchen treffen nicht mehr das Gesicht, die Lippen und die Augenbindehaut des Gegenübers. Oberflächen werden weniger kontaminiert. Die Dunkelziffer der unentdeckten Infektionen – und damit ansteckender Menschen – ist um ein Vielfaches höher als die der Getesteten. Niemand weiß, ob er infiziert ist oder nicht. Bis das Virus Symptome macht und die Infektion entdeckt wird, kann jemand ohne MNS Menschen ungehindert anstecken. Ohnehin zeigen nicht alle Infizierten unbedingt Symptome.

Sie fordern sogar, den Mundschutz drinnen zu tragen.

Das Tragen des MNS ist drinnen noch erheblich wichtiger als draußen. Draußen wirken Wind und Sonne auf das Virus ein. Beides bekommt ihm nicht gut. Jemand, der unwissentlich infiziert ist und drinnen keinen Mundschutz trägt, verteilt seine Viren überall im Raum: Wenn er atmet, Gegenstände berührt, spricht. Die winzigen Tröpfchen, die beim Atmen und Sprechen entstehen, schlagen sich überall nieder. Zudem kommt man sich in Innenräumen meistens näher als im Freien.

Dann sollten die Prüflinge beim Abitur auch einen MNS tragen?

Ja. Die Prüfungen sollten im besten Fall in großen Hallen oder unter freiem Himmel stattfinden, die Prüflinge idealerweise zwei, besser drei Meter Abstand einhalten und einen MNS tragen. Das wäre perfekt. Je kleiner der Prüfungsraum ist, je mehr Prüflinge im Raum sind, je mehr sie sprechen, umso wichtiger ist es, dass sie einen MNS tragen.

Wollen Sie eine generelle Maskenpflicht?

Nein, es ist beispielsweise unnötig, einen Schutz zu tragen, wenn man sich auf der Wiese sonnt oder allein spazieren geht. Jeder sollte aber seine Maske dabei haben. Und sie aufsetzen, sobald er in weniger als drei Metern Distanz mit jemandem spricht. Gut wäre eine generelle Regelung: Treffen sich zwei Menschen, die nicht zusammenleben, sollte sich jeder einen MNS überstreifen. Trägt der andere keinen Schutz, findet kein Gespräch statt, besonders nicht in Innenräumen.

Sie sind Augenarzt. Können wir uns auch über die Augen mit SARS-Cov2 infizieren?

Ja, auch wenn dieser Weg für den Normalbürger zu vernachlässigen ist. Wer auf Nummer sicher gehen will, dem empfehle ich zum Eigenschutz eine nicht zu kleine Brille mit Fensterglas. Die kann man bei jedem Optiker für 30 bis 50 Euro kaufen. Solange Ihr Gegenüber einen MNS trägt, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ein Tropfen auf Ihre Augenbindehaut trifft.

MNS sind derzeit Mangelware. Viele Menschen basteln sich ihren Mundschutz selbst. Wie sinnvoll ist das?

Tröpfchen lassen sich an Mund und Nase leicht zurückhalten. Dafür reicht auch ein dichter Schal. Probieren Sie es selbst: Pusten Sie einfach dagegen; kommt auf der anderen Seite nichts mehr an, ist er als Mundschutz geeignet.

Die WHO ist beunruhigt, Maskenträger könnten sich in falscher Sicherheit wiegen und auf andere Vorsichtsmaßnahmen verzichten.

Richtig, die Möglichkeit besteht. Die bekannten Hygiene- und Abstandsregeln gelten natürlich weiterhin. Aber für mich ist der MNS das Allerwichtigste überhaupt, weil das Virus an der Quelle zurückgehalten werden muss.

Wie wird sich die Situation Ihrer Meinung nach in den kommenden Wochen entwickeln?

Wenn jeder nach der vorgeschlagenen Regel eine Maske trägt, sollte sich das Virus fast nicht mehr verbreiten können. Sobald die Erkrankungszahlen sinken, dauert es etwa vier weitere Wochen, bis Patienten die Erkrankung überwunden haben. Auch danach sollten wir das Masken-Tragen noch einen weiteren Monat beibehalten. Bei einem späteren erneuten Ausbruch wird die freiwillige Handyortung zur Rückverfolgung dafür sorgen, dass jede Kontaktperson automatisch informiert wird und sich in heimische Isolation begibt. So können wir die Infektionsketten durchbrechen und haben das neuartige Coronavirus im Griff, bis ein Impfstoff vorhanden ist.

Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Constanze Löffler für rbbPraxis

(Mit wissenschaftlicher Unterstützung von Dr. med. Andreas Kroll, Lungenfacharzt in Einbeck)

Sendung: rbbPraxis, 01.04.2020, 20:30 Uhr

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