Transkript des Interviews
DAS PROJEKT - Wie kamen Sie zu dem Projekt?
"Wir fanden es wichtig, 75 Jahre nach Kriegsende nochmal an das Ende dieses Krieges zu erinnern und was es bedeutet hat. Weil in der ganzen Diskussion der letzten Jahre ein bisschen untergegangen ist, welche Schäden dieser Krieg hervorgerufen hat und die Ideologie, die dahinterstand. Und die zweite Idee war, nicht aus einer nur deutschen Perspektive zu erzählen, sondern von Anfang an multiperspektivisch an das Thema zu gehen. Das heißt, wir erzählen zwar fast ausschließlich über Berlin und in Berlin, aber wir erzählen auch aus dem Blick einer Zwangsarbeiterin, eines Zwangsarbeiters, eines Diplomaten, eines Journalisten aus Norwegen, genauso wie eines deutschen Soldaten oder eines Rotarmisten, der nach Berlin kommt."
DIE RECHERCHE - Können Sie uns eine Idee geben, wie Sie mit der Fülle an Material gearbeitet haben?
"Wichtig war für uns von Anfang an, dass wir nicht nur in deutsche Archive gehen, sondern auch in russische Archive, französische, britische, kanadische, australische Archive, um wirklich aus diesen verschiedenen Blickwinkeln was zusammensetzen zu können. Es gibt diese Passage mit dem Angriff auf Berlin. Zu Anfang sieht man Bomber Command in der Nähe von London, die planen den Angriff. Dann fliegen die Flugzeuge los und dann sieht man die Berliner in den Bunker laufen und dann hört man den englischen Kommentar dazu. Und der Kommentar sagt: "Jetzt hat sich das Rad gedreht, jetzt kriegt Berlin ab, was Berlin bisher anderen Städten angetan hat." Und gleichzeitig hört man die Stimmen der Deutschen, die das abkriegen. Wenn man aus verschiedenen Archiven das Material zusammensammelt, kriegt man auf einmal ein ganz anderes Bild, als wenn man auf einen Blick beharrt oder auf zweien."
QUELLEN – Was waren Ihre Auswahlkriterien, was in den Film kommt und was nicht?
"Erstmal gibt es gar nicht so viel Material. Das muss man dazusagen. Das Ausgangsmaterial sind ja Tagebücher. Aber es gibt nicht so viele Tagebücher, die erhalten geblieben sind von 1945. Viele Tagebücher sind verbrannt, viele Tagebücher sind weggeworfen worden. Also, es bleibt gar nicht so viel, was Sie da haben. Tagebücher, Briefe, Dokumente. Und das war der erste Ansatz und daraus ergibt sich gezwungenermaßen eine erste Auswahl. Ganz schwierig zu finden sind z.B. Tagebücher von untergetauchten Juden in Berlin. Die haben natürlich keine Tagebücher geschrieben. Das heißt, wenn sie damals in ein Tagebuch schreiben: ‚Ich bin ein untergetauchter Jude‘ - und dann kommt ein Gestapo-Mitarbeiter und findet das. Dann sind sie weg und im KZ. Also schreiben die keine Tagebücher, aus Selbstschutz. Aber wir hatten das große, große Glück, dass wir Briefe von der Tochter einer untergetauchten Jüdin überlassen bekommen haben. Sie hieß Alice Löwenthal und hat Briefe an ihren Mann geschrieben, der weggebracht worden war und sie wusste nicht wohin. Und sie hat ihm sozusagen Briefe geschrieben, die sie nie abgeschickt hat. Und diese Briefe bilden ein eigenes Gerüst im Film. Und so haben wir das alles zusammen aufgebaut. Dabei haben wir versucht, Erinnerungen zu vermeiden. Erinnerungen haben ja immer diesen Nachteil, dass man nachträglich noch ein bisschen dran feilt. Also, dass man sich besser macht als man war. Und Tagebücher haben halt den Vorteil, dass sie unmittelbar sind, im Moment geschrieben, und das ausdrücken, was die Leute in dem Moment gedacht und gefühlt haben. Und das ist natürlich ein riesiger Schatz."
ÜBERRASCHENDE FUNDE – Gab es überraschende Funde bei der Materialrecherche? Dinge, bei denen Sie sagen: Das hätte ich so nicht erwartet?
"Ja, also wirklich einer der bittersten, bittersten Funde, die wir gehabt haben … da sind wir über mehrere Stationen des Suchens drauf gekommen. Ich habe in einer Sekundärliteratur mal so eine Quellenangabe gesehen, ganz unten auf der Seite, sozusagen siehe auch Landesarchiv Berlin, die und die Aktennummer. Und dann sind wir mit unseren Rechercheuren dem nachgegangen und dann auf dicke Aktenordner gestoßen über Frauen, die vergewaltigt worden sind. Und das ist nicht jedes Blatt eine Frau, sondern auf jedem Blatt 20, 30 Frauennamen. Und wir sind da durch, Blatt für Blatt. Und dann wird einem auf einmal schlagartig klar, was passiert ist in Berlin in dieser Zeit von April bis in den September hinein. Das erschlägt einen und raubt einem auch den Atem. Und gleichzeitig auch, wenn Sie dann sehen, der letzte Transport nach Theresienstadt ist Mitte März. Es gibt kaum noch Akten dazu, weil die Nazis natürlich versucht haben, alles zu verbrennen … Und dann sehen Sie da diese ganze Liste an Menschen, die in den Tod geschickt werden, sechs Wochen vor Ende des Krieges, ein Wahnsinn."
DER NEUE ANSATZ – Können Sie diesen neuen Ansatz beschreiben, warum Sie ihn gewählt haben und was für Vor- und Nachteile er hat?
"Ganz am Anfang stand eigentlich die Idee, dass man versucht aus dem Blickwinkel der Leute zu erzählen, die 1945 in dieser Stadt gelebt haben. In den unterschiedlichsten Zuständen. Und der Vorteil ist, dass das sehr unmittelbar ist. Da wird nix geschönt. Tagebücher sind meistens sehr direkt. Man hat da auch nicht die reine Wahrheit. Aber man hat eine Ahnung davon, bekommt eine Ahnung davon, wie die Leute den Krieg gesehen haben und wie sie über ihn gedacht haben und wie sie sich selber darin verortet haben."
WIDERSPRÜCHE – Besteht dabei nicht die Gefahr, durch die unmittelbare Begegnung mit der deutschen Geschichte, beim Zuschauer Widersprüche unkommentiert zu lassen?
"Wer diese 180 Minuten sieht und immer noch denkt, dass der Nationalsozialismus irgendeine gute Sache hat, der hat ein Herz aus Stein. Ich glaube, die Dokumente sprechen schon für sich. Und die Zusammenstellung der Dokumente und wie sie miteinander arbeiten und wie sie auch einander widersprechen und sich gegenseitig kommentieren, sprechen auch für sich. Und Zuschauer sind klug genug, um ihre eigenen Schlüsse daraus zu ziehen. Da bin ich mir absolut sicher."
ZWEITER WELTKRIEG UND CORONA-KRISE – Die Bundeskanzlerin hat bei ihrer Ansprache die Corona-Pandemie als „die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnet. Würden Sie sagen, es gibt da Übereinstimmungen, oder würden Sie sagen, diese beiden weltweiten Katastrophen unterscheiden sich grundsätzlich voneinander?
"Richtig ist an der Aussage von Frau Merkel, dass die Corona-Pandemie das größte oder schwierigste Ereignis ist, mit dem wir konfrontiert sind, seit 1945, die Tatsache, dass es keinen Ort auf dieser Welt gibt, an den wir flüchten können. Und das war im Zweiten Weltkrieg ebenso. Der große, große, große Unterschied ist, den man auch benennen muss, der Zweite Weltkrieg ist ein menschengemachtes Ereignis. Das haben Menschen geplant und durchgeführt. Das wurde in Berlin geplant und ausgelöst. Das wurde von Deutschland geplant und ausgelöst. Das ist ein kollektiv organisiertes Unglück. Und da gibt es Schuldige!"