Ein Schild mit dem Schriftzug Gas auf einem Haus vor blauem Himmel (Quelle: IMAGO/Snowfield Photography/D. Kerlekin)
Bild: IMAGO/Snowfield Photography/D. Kerlekin

Wohnen | Beitrag | Lesedauer etwa 5 Minuten - Erdgas: das Blaue vom Himmel

"Klimaneutrales Erdgas" klingt gut, verkauft sich gut, aber ist es auch gut? Dieser Frage ist das Recherche-Kollektiv Correctiv nachgegangen - auch bei Gasversorgern in Berlin und Brandenburg.

Gastarif wählen und gleichzeitig damit ein Klimaschutzprojekt fördern. Win win! "Wir kompensieren so das CO2, das du durch deinen Erdgasverbrauch freisetzt", damit wirbt zum Beispiel ein Gasversorger. Und es ist nur einer von vielen, die versuchen, ihr Erdgas mit dem angesagten Label "klimaneutral" zu verkaufen. Beworben wird es dann zum Beispiel auch als "Klimagas".
 
Das Recherchenetzwerk Correctiv hat diverse solcher Werbeaussagen überprüft - und in Zweifel gezogen. Denn die so angepriesenen Gastarife und -produkte seien oft weit weniger grün als versprochen. Hunderttausende Kundinnen und Kunden sollen so getäuscht worden sein.
 
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) forderte im Zusammenhang mit der Recherche deutschlandweit 15 Gasversorger auf, ihre Werbung für klimaneutrales Erdgas zu beenden und entsprechende Unterlassungserklärungen zu unterzeichnen. Der Verband warf den Unternehmen Verbrauchertäuschung vor.

Zehn Millionen Tonnen zu wenig

In Kooperation mit Wissenschaftler:innen hat Correctiv die CO2-Gutschriften von 150 deutschen Gasversorgern und kommunalen Stadtwerken zwischen 2011 und 2024 geprüft. Heraus kam, dass 116 Gasversorger CO2-Gutschriften aus Klimaschutzprojekten genutzt hatten, die laut wissenschaftlicher Einschätzung nicht plausibel hätten nachweisen können, dass Emissionen tatsächlich verringert oder eingespart worden seien.
 
Insgesamt betroffen waren nach Angaben des Netzwerks rund zwei Drittel von 16 Millionen ausgewerteten Gutschriften aus dem Zeitraum. Rechnet man das hoch, kommt man auf gut zehn Millionen Tonnen weniger CO2-Emissionen, als die angeblich von den Versorgern gegenüber den Kundinnen und Kunden behauptete Menge, so die Berechnungen von Correctiv.
 
Zur Einordnung: Laut Umweltbundesamt wurden 2023 in Deutschland Treibhausgase freigesetzt, die der Menge von 674 Millionen Tonnen Kohlendioxid entsprechen.

Die Situation in Berlin und Brandenburg

Unter den Gasversorgern, die mit solchen CO2-Gutschriften geworben hatten, waren auch die Berliner Gasag und Brandenburger Unternehmen, wie etwa EMB aus Brandenburg oder die Stadtwerke in Forst.
 
Alle drei warben laut Correctiv "mit Klimaneutralität oder mit alternativem Wording" (Stand Feburar 2024) und haben mit Zertifikaten gearbeitet, die über das "86 MW Hydro Project in Himachal Pradesh", einem Wasserkraftwerk in Indien, generiert wurden. Die laut den Gasversorgern dort kompensierten Tonnen CO2 seien aber "mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht eingespart oder reduziert worden", so Correctiv.
 
Auf Nachfrage des Recherchenetzwerks nach Konsequenzen, Einstellung der Werbung etc. haben alle drei Unternehmen "entweder nur teilweise oder gar nicht geantwortet", so eine Sprecherin von Correctiv gegenüber SUPER.MARKT. Daher hat SUPER.MARKT bei Gasag, EMB und den Stadtwerken Forst noch einmal nachgehakt.
 
Eine Sprecherin der Gasag hebt gegenüber SUPER.MARKT die Möglichkeit hervor, mit Hilfe von Kompensationsprojekten deutschen Kunden einen günstigen Gastarif anzubieten, der dennoch klimafreundlich sei.
 
"Alle ausgewählten Projekte haben einen direkten Bezug zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Energie wie Wasserkraft, Windkraft oder Photovoltaik. Zudem sind bei allen - nach den Informationen, die uns vorliegen - die Einnahmen aus den Zertifikaten ein Bestandteil der Finanzierung der Anlagen. Dadurch wird die Anforderung erfüllt, dass durch den Bau der Anlagen zusätzliche CO2-Einsparungen erzielt werden."
 
Laut der Gasag-Sprecherin beschafft der Energieversorger die Zertifikate "bei namhaften Dienstleistern in Deutschland" - zusätzlich würden regelmäßig die Erfüllung der Kriterien und damit die möglichen CO2-Kompensationspotenziale durch die Gasag überprüft und gegebenenfalls die Projektauswahl angepasst.
 
Alle genannten Kriterien erfülle das in der Correctiv-Untersuchung in Bezug auf Gasag untersuchte "86 MW Hydro Project in Himachal Pradesh", so die Unternehmenssprecherin.
 
Das Unternehmen EMB und die Stadtwerke Forst, die beide ebenfalls mit Zertifikaten des Wasserkraftwerks in Himachal Pradesh arbeiten, antworten auf SUPER.MARKT-Anfrage fast wortgleich. Auch hier geht man davon aus, dass das Wasserkraftwerk alle erforderlichen Kriterien erfülle.
 
EMB erachtet "die Lösung mit Kompensationszertifikaten aktuell als einen wichtigen, weil jetzt möglichen Schritt, bis eine Wärmeversorgung CO2-frei erfolgen kann", so ein Sprecher des Unternehmens gegenüber SUPER.MARKT.

Expert:innen zweifeln Wirksamkeit von Ausgleich an

Das Problem, das das Recherchenetzwerk bei dem CO2-Ausgleich durch Klimaschutzprojekte ausgemacht haben will: Diese Projekte könnten oft nicht plausibel nachweisen, dass Emissionen tatsächlich verringert wurden. "Beispielsweise wird weniger Wald geschützt als angegeben, weniger Emissionen als berechnet werden eingespart oder das Projekt wäre auch ohne die Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Gutschriften zustande gekommen", so Correctiv.
 
Aus Sicht der DUH sind zum Beispiel die zur Kompensation herangezogenen Waldprojekte untauglich: "Die Projekte laufen (...) nicht ansatzweise so lange, wie für die Gewährleistung einer Klimaneutralität erforderlich", so die DUH.
 
Neben Waldschutzprojekten werden unter anderem auch Gaskraftwerke als Kompensations-Projekte herangezogen. Bei einem Anbieter von Kompensationsmaßnahmen laut Correctiv mit dem Hinweis, dass ohne den Bau des Gaskraftwerks ein emissionsintensiveres Kraftwerk gebaut worden wäre. Doch: "Den Einsatz von fossilem Gas kann man nicht durch den Einsatz von fossilem Gas an anderer Stelle rechtfertigen", erklärte dazu Carsten Warnecke von New Climate Institute in Köln.
 
Weiterer Kritikpunkt: Die Verbraucherinnen und Verbraucher würden nicht ausreichend Informationen zu den Projekten erhalten.

Reaktionen der Gasversorger

Die Kompensation von Treibhausgas-Emissionen sei nicht gleichbedeutend mit Klimaneutralität, stellt die Gaswirtschaft gegenüber der Deutschen Presse-Agentur fest. Gasversorger müssten in der Kommunikation also klar zwischen diesen Begriffen unterscheiden. Für die Branche stehe aber ohnehin etwas anderes im Vordergrund: CO2-Vermeidung. Erst danach käme die Kompensation von Treibhausgasemissionen.
 
Eon ist Deutschlands größter Energieversorger. Hier will man für die Nutzung von Kompensationszertifikaten schon 2022 einen" internen und konzernweiten Mindestqualitätsstandard definiert" haben. "Die Qualitätsrichtlinie stellt sicher, dass die genutzten Zertifikate von hoher Integrität sind." Nach einer Übergangsphase dürften Eon-Einheiten nur noch Zertifikate erwerben, die den Qualitätsstandards dieser Leitlinie entsprächen.
 
Einige andere Versorger kündigten nach den Recherchen von Correctiv an, in Zukunft die ausgewählten Kompensationsprojekte gründlicher auszuwählen.

Theoretisch - noch - nicht wirklich verboten

Grundsätzlich dürfen laut einer jüngst in Kraft getretenen EU-Richtlinie irreführende Werbeaussagen zur Klimaneutralität nicht mehr getätigt werden. Diese neue Richtlinie muss bis März 2026 in der deutschen Gesetzgebung verankert werden. Dann wären die Aussagen vieler Gasversorger also verboten. Denn: "Wenn Aussagen zur Treibhausgasneutralität auf Kompensationen außerhalb der Wertschöpfungskette des Unternehmens beruhen, dann darf nicht mehr suggeriert werden, dass das Produkt neutrale, positive oder verringerte Auswirkungen auf die Treibhausgasbilanz hat", so eine Sprecherin des Bundesministeriums für Verbraucherschutz.
 
Schon jetzt geht der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) mit Unterlassungsverfahren gegen wettbewerbswidrige sogenannte Green Claims vor. In diesem Zusammenhang gebe es auch mehrere Verfahren gegen Energieversorger wegen Werbung mit dem Begriff "klimaneutral".

Ein Beitrag von SUPER.MARKT mit Material von DPA, 17.04.2024.