Sendung vom 10.07.1963 - Gründgens, Gustaf

Günter Gaus im Gespräch mit Gustaf Gründgens

Wieso ist das auf mich gekommen?

Gustaf Gründgens, geboren am 22. Dezember 1899 in Düsseldorf, gestorben in der Nacht vom 6. zum 7. Oktober 1963 in Manila (Philippinen).
Nach dem Gymnasium Soldat an der Westfront (1916), Mitglied und Leiter des Fronttheaters Saarlouis (später Thale im Harz). 1919 Ausbildung an der Düsseldorfer Theaterakademie, ab 1920 Engagement in Halberstadt, Kiel, Berlin, Hamburg. 1925 bis 1928 Ehe mit Erika Mann. 1925 Umwandlung des Vornamens Gustav in Gustaf. Ab 1928 als Schauspieler und Regisseur an Max Reinhardts Deutschem Theater und seinen Dependance-Bühnen. Dazu Kabarett (Revue-Auftritt mit Ernst Busch) und Film.
1934 wurde Gründgens kommissarischer Leiter des Staatlichen Schauspiels und dann Intendant; das Theater war direkt Göring unterstellt. 1936 Angriffe auf Gründgens im NSDAP-Organ „Völkischer Beobachter“. Flucht in die Schweiz. Wieder in Berlin, wurde er zum Preußischen Staatsrat ernannt. Der Propagandaminister erteilte Kritikverbot. 1936 Heirat mit Marianne Hoppe (Scheidung 1946). 1937 Generalintendant und Staatsschauspieler. 1943 Flaksoldat bei der Wehrmacht. 1945 neun Monate russische Kriegsgefangenschaft bei Berlin, 1946 Schauspieler und Regisseur am Deutschen Theater. 1947 bis 1955 Generalintendant der Städtischen Bühnen Düsseldorf, danach (bis April 1963) des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg. Er trat im September eine Weltreise an, auf der er starb.
Das Gespräch, aufgenommen auf Madeira, wurde gesendet am 10. Juli 1963.


Gaus: Wie lange haben Sie dieses Haus auf Madeira schon,
Herr Gründgens?

Gründgens: Vier Jahre.

Gaus: Und warum sind Sie nach Madeira gezogen? Wie kam es?

Gründgens: Zufall. Ich hatte in der Scala in Mailand eine Oper inszeniert und wollte ein bißchen Ferien machen. Und phantasielos, wie man ist, dachte ich: in Teneriffa. Das war ausverkauft, aber der Besitzer hatte mir angeboten, er würde mir seine eigene ... – Zimmer zur Verfügung stellen. Das hatte ich schon einmal erlebt, in einem anderen Hotel, einem hypermodernen Hotel, nur der Besitzer wohnte in Plüsch. Und das wollte ich also nicht riskieren, da dachte ich mir: fahr ich nach Madeira. Und dann war ich einmal da, und seit der Zeit bin ich nie mehr wo anders hingegangen als nach Madeira – das war vor fünf oder sechs Jahren. Das, was ich also eben liebe: Hier kennt mich kein Mensch. Ich lauf rum, und es kümmert sich niemand um mich. Ich hab mein Häuschen hier, meine Vecinos, meine Nachbarn. Das sind meine einzigen Unterhaltungen, die ich mit denen führe. Ich spreche ein bißchen Portugiesisch, aber ich nehme an, daß, wenn ich mit meinem Portugiesisch nach Lissabon käme, das wäre ungefähr so, wenn ein Oberbayer nach Hamburg käme.

Gaus: Das ist ein Insel-Portugiesisch?! Sie haben über Ihren Rang als Schauspieler, als Regisseur, als Theaterleiter, über die singuläre Bedeutung, die Sie seit nun mindestens 30 Jahren im deutschen Theater haben, ein eigenes, klares Urteil? ... Eine Selbsteinschätzung?

Gründgens: Also der Haupteindruck ist Erstaunen – und Verwunderung. Denn ich persönlich kann es nicht begreifen, wieso das auf mich gekommen ist.

Gaus: Das ist keine Koketterie?

Gründgens: Nein. Das ist weiß Gott keine, weiß Gott keine. Ich sitze manchmal und sage: Mein Gott noch mal, wieso eigentlich? Ich kann ... also, es ist das Gegenteil von Koketterie. Es ist einfach das Gefühl ... Nun muß ich sagen, daß mir ... also ... mein privates Leben immer der Ausgangspunkt war für mein künstlerisches Leben. Und da ich eigentlich ziemlich anspruchslos bin, ziemlich einfach lebe, so – erstaunen mich die Pfauenräder, die ich da gelegentlich schlage. Und wenn ich dann zurück bin in meiner Wohnung, denke ich: mein Gott noch mal, das ist eigentlich ... Also es ist wirklich – wenn ich jetzt zurück denke – so ist das Hauptsächliche: merkwürdig, erstaunlich. Das ist das, was ich darauf zu sagen hätte.

Gaus: Verwundert oder nicht verwundert, Herr Gründgens: Irgendwann müssen Sie doch gemerkt haben, gewußt haben: Jetzt bin ich oben. Wann war das?

Gründgens: Da muß ich eine lange Pause machen ... wann war das? – Sehr spät. Wenn Sie denken wollen, bedenken wollen, daß die Zeit meiner größten Erfolge oder – die Zeit, von der Sie sprechen, in die Zeit von ‘33 bis ‘45 fiel. Eine Zeit, die für mich trotz allem, was ich täglich und praktisch zu tun hatte, so wenig Realität besaß, daß ich eines Tages mit meiner Frau in meinem Garten saß und sagte: "Mein Gott, Marianne, stell dir mal vor, wir säßen wirklich hier, und ich wäre wirklich Intendant des Staatstheaters und ich spielte wirklich den Hamlet. Wär das nicht wunderbar?!" So wenig also – konnte ich das für mich ernst nehmen. Ich bin nicht geboren, gegen etwas zu leben. Ich habe einen – ich weiß nicht, ob Ihnen der Name bekannt ist – einen Schauspieler, Berliner Schauspieler: Hans Brausewetter. Und am Tag vor seinem Tode, am Abend vor seinem Tode – er ist durch eine russische Granate gestorben – saßen wir beisammen, und da überlegten wir: "Was wird jetzt eigentlich wohl werden?" Berlin war schon eingeschlossen, und Granaten flogen durch die Straßen. Und da sagte der Brausewetter: "Mein Gott, wir hatten so viel Talent, für etwas zu sein, und haben unser ganzes Leben damit verbracht, gegen etwas sein zu müssen." Und daraus kann ich Ihnen das Datum, wo mir der Erfolg bewußt wurde, eigentlich nicht exakt nennen, denn ich kann die Erfolge in dieser Zeit nicht voll zählen.

Gaus: Sie sind schon sehr früh in unserem Gespräch, Herr Gründgens, auf die Zeit ihrer Intendanz in Berlin während der nationalsozialistischen Zeit gekommen. Gibt es so etwas wie ein unsicheres Gewissen darüber?

Gründgens: Nichts liegt mir ferner. Dann haben Sie mich völlig mißverstanden. Ich wollte damit sagen, daß die Unsicherheit, in der wir alle lebten, uns die Bühne als den einzigen sicheren Faktor erscheinen ließ. Auf der Bühne, dem Planquadrat – wie ich es nenne –, wußte ich genau, wenn ich den Satz sage, geht hinten eine Tür auf, und eine Dame in einem grünen Kleid kommt herein – und nicht ein SS-Mann. Dies meine ich lediglich. Was dann bestimmend geworden ist für meine Art, Theater anzusehen: die Ordnung, die Exaktheit, das Ausschalten des Zufälligen.

Gaus: Sie haben kein Mal daran gedacht, aus Deutschland wegzugehen?

Gründgens: Oh ja! Das habe ich schon. Ich habe mit dieser ... Ich habe verschiedene Versuche gemacht, es los zu werden. Als ich es übernahm – man darf das nicht vergessen, daß zu der Zeit, als ich das Staatstheater übernahm, Jessner noch inszenierte und Reinhardt noch inszenierte. Und von uns hat kein Mensch geglaubt, daß das ... diese ... das sich halten würde. Ich glaube: Da teile ich die Meinung der überwiegenden Deutschen, die nicht politisch engagiert waren.

Gaus: Haben Sie sich Zeit Ihres Lebens irgendwann für politische Fragen überhaupt interessiert?

Gründgens: Nein. Es gehört zu meiner Generation – ich war 18 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg –, sich im Expressionismus zu tummeln. Und das, was man heute mit einem Idiotenwort "Linksintellektualismus" nennt, das war damals also die Beeindruckung durch Tairow, Wachtangow, Eisenstein, Pudowkin – das blieb natürlich nicht ohne Einfluß auf uns, nicht?! Aber es ging ... blieb in den Gebieten der Kunst.

Gaus: Ich verstehe. Sie sind in Düsseldorf 1899 geboren, Herr Gründgens, und sind zum Theater gekommen in den letzten Kriegsjahren, zu einem Front-Theater. Warum Theater, und seit wann wollten Sie und wie kam es?

Gründgens: Ich habe nie etwas anderes gewollt. Als Kind habe ich Schmierseife abwiegen wollen. Das war der einzige Wunsch, an den ich mich erinnere. Aber als Beruf ist mir nie etwas anderes in den Sinn gekommen, als Schauspieler zu werden.

Gaus: Sie kommen aus einer rheinischen Industriellenfamilie. Von Ihrer Mutter wird gesagt, daß sie künstlerische Neigungen gehabt hat: Sie hat gesungen, wenn allerdings auch nur auf gesellschaftlichen Soireen. Sind sie von Ihrer Mutter stark beeinflußt worden?

Gründgens: Ich glaube. Ich glaube: Es war eine starke Bindung zwischen uns. Und ich hätte also viel darum gegeben, wenn ich statt Schauspieler hätte Sänger werden können.

Gaus: Sie haben einmal gesagt: Sie würden gerne Heldentenor in Glogau sein.

Gründgens: Bariton, Tenor nicht. Bariton: Ich hätte sehr gern den Grafen in „Figaro“ gesungen. Ich habe ihn – nebenbei – einmal gesungen. Auf einer Probe bei Klemperer. Zu meinem größten Vergnügen konnte der ... war der Herr indisponiert, und ich konnte einspringen und konnte ein Duett singen. Es war – für mich ein – doller Hit.

Gaus: Nun also nicht Sänger, sondern Schauspieler. Sie haben von der Ordnung, von der Klarheit, die die Bühne für Sie bedeutet, gesprochen. Gleichzeitig gibt es ein Wort von Ihnen, nach dem Sie das Phänomen des Schauspielers nicht ganz begreifen – noch immer nicht ganz begreifen. Nach Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung kann das nicht heißen, daß Sie die Mittel nicht kennten, mit denen der Schauspieler seine Wirkung erzielt. Bedeutet es also, daß Sie eine letzte Unklarheit, letzte Ungewißheit darüber haben, warum ein Mann auf ein Podium geht und Theater macht?

Gründgens: Ich will Ihnen mal antworten mit einem Satz, den Thomas Mann einmal gesagt hat – in einem privaten Kreis ... Da sagte er, daß er die Schauspieler – das ist komisch jetzt – mit den Glühwürmchen verglich, die am Tag wie die anderen Insekten unscheinbar herumflögen, aber nachts plötzlich unheimlich an zu leuchten fingen – und das sei also doch ... und dieses also – das scheint mir eine sehr typische Formulierung, eine richtige Formulierung zu sein. Daß man irgendwann abends, wenn die Lichter brennen ... Da überkommt es einen, und dann kommt das, was unseren Beruf eben so herrlich macht.

Gaus: Wie lange können Sie es aushalten, ohne zu spielen?

Gründgens: Jetzt, glaub ich: lange.

Gaus: Länger als früher?

Gründgens: Länger als früher.

Gaus: Sind Sie ein bißchen müde?

Gründgens: Nein! Absolut nicht müde. Es ist ein anderer Grund: ... Ich habe in den letzten dreißig Jahren immer zu viel gearbeitet und vergessen zu leben. Wenn ich jetzt diesen Einschnitt gemacht habe, so mache ich ihn, um vor Toresschluß noch rasch zu lernen, wie man lebt. Sehen Sie, mein Leben bestand darin: Das ist der Tag vor Faust und der Tag nach Faust, oder der Tag vor Hamlet und der Tag nach Hamlet. Irgendeinen entspannten Tag gab es eigentlich ganz selten. Und wenn ich von dem Intendantenberuf sprechen soll: Der hat absolut nie Ferien. Selbst wenn ich hier sitze, so kann ich mit täglich einem Telegramm rechnen, oder irgendetwas passiert.

Gaus: Nachdem Sie das Fronttheater verlassen haben, weil der Krieg zu Ende war, die Fronttheater aufgelöst wurden, sind Sie zu Louise Dumont gegangen – nach Düsseldorf zur Schauspielschule, haben dann ein paar Provinz-Engagements gehabt, und sind schließlich 1922 zu Erich Ziegel an die Kammerspiele nach Hamburg gekommen. Aus Ihrer späteren Zeit sind eine ganze Menge kühle, distanzierende Urteile über wildes, expressionistisches, experimentelles Theater bekannt. Hatte der junge Gründgens auch schon dieses Unbehagen gegenüber dem Experiment um des Experiments halber?

Gründgens: Das ist richtig: Das Experiment um des Experiments willen – das hat mir nicht eingeleuchtet.

Gaus: Niemals?

Gründgens: Niemals. Aber ein Experiment, das hat mir jederzeit Spaß gemacht. Aber diese, was Sie sagen ... man könnte: l’art pour l’art, das ist etwas, was mir mein Leben lang ferngelegen hat.

Gaus: Die Spielpläne, Herr Gründgens, die Sie gestalten konnten – als Theaterleiter – haben nach Meinung vieler Kritiker das moderne Theater immer ein bißchen vernachlässigt. Kommt dieses her aus Ihrer eben bekundeten Abneigung gegen das Experimentieren an sich?

Gründgens: Ich glaube nicht. Ich glaube auch kaum, daß ich ein wesentliches Stück der Moderne ausgelassen habe. Ich habe mit dem Absurden Theater – das sich mittlerweile auch ad absurdum geführt hat – nicht viel anfangen können. Ich mag einfach nicht Stücke, wo meine Großeltern im Müllkasten sitzen. Warum soll ich sie spielen?

Gaus: In den 20er Jahren, Herr Gründgens, – damals waren Sie zum ersten Mal verheiratet, mit Erika Mann, der Tochter Thomas Manns, ein zweites Mal sind Sie mit der Schauspielerin Frau Marianne Hoppe verheiratet gewesen – in diesen 20er Jahren hat man gelegentlich den Eindruck gehabt, daß Sie auf einen ganz bestimmten Schauspielertyp intellektuell-blasierter, kabarettistischer Prägung fast ins Amateurhafte hineingehend …

Gründgens: Nein, ins Amateurhafte wollen wir nicht sagen. – Tatsächlich ist, daß ich in der Gefahr stand, auf diesen Typ festgelegt zu werden. Aber da habe ich mich mit Leidenschaft dagegen zur Wehr gesetzt. Ich war in Hamburg und hatte da doch Danton und Fiesco und Hamlet und was weiß ich gespielt. Reinhardt nahm mich eines Tages mit und sagte: „Was wollen Sie in Hamburg? Kommen Sie zu mir.“ Und ich kam und hatte das Pech, daß er gar nicht da war. Und niemand wußte etwas mit mir anzufangen, und da geriet ich halt in so 'ne Serie von Salonstücken, die mich abstempelten. Dazu kam also der Zufall eines Films wie „M“. Plötzlich sah ich mich also nur noch in Ledermänteln mit einer Bombe auf dem Kopf als Ganove und sagte: "Halt! Das stimmt nun überhaupt nicht mehr." Ich habe nie und zu keiner Zeit meines Lebens vergessen, was ich eigentlich will, wollte. Ich wollte Hamlet spielen, ich wollte Mephisto spielen, und wenn es in Hamburg nicht gegangen wäre, dann wäre es eben in München gegangen. Das war mir "wurscht".

Gaus: Sie haben – sagt man – Nebenrollen nie gescheut, Herr Gründgens, weil Sie unter allen Umständen lernen wollten. Waren Sie in Ihrer Ausbildung und Entwicklung als Schauspieler – so weit Sie diese Entwicklung selbst in der Hand hatten – ein Systematiker?

Gründgens: Nein ... Das glaube ich nicht ... Dazu bin ich zu impulsiv. Sehen Sie: ... um noch einmal auf diese Zeit, diese Endzwanziger Jahre zu sprechen zu kommen: Ich habe Kabarett gemacht, ich habe ... Operette gemacht, – aber nicht, weil ich jemals die Gefahr spürte, ich könnte Operettenbuffo werden, oder ich könnte Kabarettist werden, sondern ich habe eine Abneigung gegen diese Dachstubengenies. Ich habe jederzeit das getan, was dran war. Ich war mir nie zu schade, irgendetwas zu tun, um mich in Bewegung zu halten. Aber daß mich ein Erfolg in einer Operette von meinen Plänen hätte abbringen können: ausgeschlossen.

Gaus: Ihre Methode, Regie zu führen, Herr Gründgens: Darüber haben Sie gelegentlich etwas gesagt. Sie haben gesagt, daß es Ihnen am liebsten ist, ohne Regiebuch zu arbeiten. Wenn ich Sie zitieren darf, haben Sie einmal behauptet, Sie inszenierten am liebsten ein Werk "frisch von der Leber weg, nach dem ersten Duft, den ich von ihm habe". Dies wäre also eine ganz intuitive Arbeitsweise. Hingegen behaupten viele Kritiker, daß Gründgens ein Künstler sei, der vom Intellekt her schaffe. Wie erklären Sie selbst diesen Widerspruch?

Gründgens: Einmal dadurch, daß das Wort „intellektuell“ seine ursprüngliche Bedeutung verloren hat und sich in die Nähe eines Schmähwortes begeben hat. Zum anderen ist es nicht ... liegt es nicht im Vermögen des Schauspielers, seine Wirkung zu beobachten. Es ist möglich – und ich habe Erfahrung –, daß ein für das Publikum völlig ursprünglich wirkender Schauspieler ein Mathematiker der Probe ist. Während andere, die also ins Bassin springen, eine andere Wirkung auf die Zuschauer haben. Das liegt nicht bei uns. Ich persönlich glaube – ich möchte sagen: ich glaube zu wissen –, daß ich nur mit meiner Intuition weiter komme: „Versuch’ es nur mit deinem Kopf“. Ich glaube nicht daran. Ich muß möglichst frisch an das Werk kommen. Viel bei jeder Regie ist mit der Besetzung getan. Damit hat man schon einen Ausdruck von etwas gegeben. Was nun kommt, ist bei Gott nicht beispielhaft, aber es ist meine Methode, die ich mir nur leisten kann, weil ich ... den Kredit bei meinen Kollegen habe: daß ich auf einer leeren Bühne anfange. Und dann: „Macht doch mal.“ – „Ein Stuhl fehlt.“ – „Stellt einen hin.“ – Und so baut sich ein Raum. Also, ich könnte nicht hier zum Beispiel … Also ich habe hier – um mal ein konkretes Beispiel zu nennen – sechs Wochen vor „Don Carlos“ gesessen, weder das Stück begriffen, noch begriffen, was ich mit dem Philipp zu tun habe – und das ging erst auf der Probe. Und das, glaube ich, macht auch den Kollegen Spaß. Daß nicht einer kommt mit einem Programm, und da drüben stehen Anfänger, die nicht wissen, was sie machen sollen – sondern, daß ich genauso töricht bin, wie alle Schauspieler es sind, wenn sie zum ersten Mal eine neue Rolle probieren.

Gaus: Liegt Ihrer Methode, Regie zu führen, auch das Bedürfnis zugrunde, ein Maß an Naivität mit auf die Bühne zu bringen und zu bewahren?

Gründgens: Das ist die ernsteste Frage, die Sie mir gestellt haben ... Diesen Rest ... von Naivität und Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit sich zu bewahren, das ist eine unerhörte Arbeit: wenn man viel wegschieben muß, um an das Geheimnis nicht zu rühren. An das Geheimnis, das einen besonderen Schauspieler halt ausmacht. – Daß man das nicht wissen will.

Gaus: Sie sind 1928 von Max Reinhardt an das Deutsche Theater nach Berlin geholt worden. Wer neben Max Reinhardt waren – wenn Sie jetzt rückblicken – Ihre wichtigsten Lehrer? Was haben sie Ihnen im einzelnen gegeben? Was hat Ihnen Max Reinhardt bedeutet?

Gründgens: Reinhardt war schon – entrückt. Das war schon – jemand, zu dem man nur noch aufblicken konnte. Hilpert war ein Mann, der einen also stoßen konnte. Und später natürlich: Fehling.

Gaus: Als Sie, Herr Gründgens, 1934, Ende 1934, Intendant des Preußischen Schauspielhauses in Berlin wurden, gerieten Sie ja in eine sehr merkwürdige Situation. Sie waren auf der einen Seite das verwöhnte Paradepferd des damaligen preußischen Ministerpräsidenten Göring, der in dieser Eigenschaft der oberste Chef der preußischen Theater war. Auf der anderen Seite ist bekannt, daß Sie vielen politisch gefährdeten Schauspielkollegen geholfen haben, daß Sie sie beschützt haben. Dieses Zwiespältige, dieses Riskante, dieses Spannungsgeladene der Situation – hat Sie das gereizt?

Gründgens: Das ist eine entsetzliche Frage, – die nur ein Theoretiker stellen kann, der diese Zeit nicht erlebt hat. Es war viel zu gefährlich, lebensgefährlich, als daß es einen hätte reizen können – in dem Sinn, wie Sie es meinen. Nämlich in dem Sinn, daß es einen juckt, das zu machen. Das war gar nicht drin. Die Frage tat sich für mich nicht. Als ich das Amt übernahm, gingen vierwöchentliche tägliche Verhandlungen voraus, in denen ich meine Bedingungen stellte. Bedingungen, von denen ich hoffte, daß daran das Angebot scheitern würde. Sie wurden akzeptiert und – das muß ich sagen – eingehalten. Aber selbst dann hatte ich mich erst entschlossen, ein Provisorium einzugehen. Da war ich ein halbes Jahr, da dachte ich: „Nun könnt ihr euch also ... all eure Pfeile abschießen. Nach einem halben Jahr wird' ich euch sagen: Es tut mir zu weh, oder ich werde es weiter machen.“ Nach einem halben Jahr dämmerte mir, was mir meine Freunde damals schon sagten: daß dieses Amt in einem solchen Augenblick große Möglichkeiten bot, sich nützlich zu machen, so daß ich also diesen Zwiespalt, auf den Sie soeben zu sprechen kamen, nicht empfunden habe. Ich hatte immer nur mit einer Seite zu tun. Mit Harlan habe ich sehr viel zu tun gehabt, aber das waren offizielle, das waren äußerliche Anlässe. Aber die inneren Anlässe kamen immer aus dem ... Sie wissen: kein Wort, das über die damalige Zeit, das über unser Theater gesprochen wurde, stammt von uns. Aber – Sie wissen, daß man das Theater „die Insel“ nannte, und auf diese Insel haben sich eben einfach die besten Schauspieler geflüchtet, die nur irgend konnten, weil eben diese beiden Theater Goebbels nicht unterstanden.

Gaus: Sie selbst aber, Herr Gründgens, haben diese Zeit und Ihre Arbeit in dieser Zeit einmal verglichen mit einem Tanz auf einem hohen Seil ohne Sicherungsnetz.

Gründgens: Das habe ich nicht getan, das hat Peter Suhrkamp getan. Ich hab das Wort nicht gebraucht. Möglicherweise ist es das gewesen, und möglicherweise hat es so gewirkt. Aber – wissen Sie: Ein Seiltänzer hat sich nur auf dies Seil und seine Balancierstange zu konzentrieren – und ich hatte meine Augen rechts, links, vorne, hinten zu haben, weil also in jedem Augenblick etwas passieren konnte – theoretisch – und praktisch jeden zweiten Augenblick etwas passierte. Der Begriff „Seiltanz“ oder wie der aus der Emigration zurückgekehrte Zuckmayer einmal schrieb, daß es verständlich sei, daß es einen Menschen wie mich gereizt haben könnte und daß also er mir das nicht übel nahm – ich dachte: „Mein Gott noch mal, Kinder! 800 Meter von der Gestapo entfernt ...“ – mir fielen also solche Begriffe wie „Reize“ oder"JongliereN"oder "Balancieren" nicht ein. Die haben in so einer Situation gar keinen Raum mehr.

Gaus: Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Sie wieder Intendant geworden. Zunächst in Düsseldorf bis 1955, dann bis heute in Hamburg. Hat Ihnen auch diese Rolle – neben der des Schauspielers und Regisseurs – Spaß bereitet? Ganz schlicht gesagt: Haben Sie es ganz gerne gemacht: ein Theater leiten?

Gründgens: Ehrlich gesagt: Ja. – Ich muß immer wieder diese Zeit von '33 bis '45 ausnehmen. Da war ich nicht bewußt Intendant. Ich war zu beschäftigt mit den Dingen des Tages, um also ein Gefühl der Zufriedenheit ... Sie entsinnen sich, daß ich am Anfang etwas sagte: daß mir das etwas irreal vorgekommen ist. Obwohl es ja, weiß Gott, von Realitäten strotzte. Nur mich innerhalb dieser Realitäten: das schien mir eine Perversion zu sein. Später glaubte ich, in Düsseldorf etwas Nützliches getan zu haben, indem ich eine neue Form, andere Form des Theaters suchte. Indem ich versuchte, das Theater aus dem „kommunalen“ Sektor herauszunehmen. Nicht um eine größere Selbstständigkeit zu erlangen, sondern ... um ... den Geschäftsgang eines Theaters einfacher zu machen. Sie wissen also, wie Behörden gezwungen sind ... also, einen gewissen Kurs einzuhalten, gewisse Termine einzuhalten, während am Theater ständig Ad-hoc-Entscheidungen getroffen werden müssen. Ich kann nicht warten, bis die Kulturbehörde, Finanzbehörde, der Wirtschaftsprüfer oder wer auch immer da sein „Ja“ gibt. In der Zeit ist der Schauspieler, den ich haben will, längst weg. Wenn ich sechs Leute fragen muß, ob ich die Gage von dem Schauspieler erhöhen kann oder nicht, dann ist er schon sauer und abgefahren. Nicht? Aus diesem Grund und aus einem Grund, den mir manche Kollegen übel genommen haben – um zu sparen. Das, was ich damals tat, war vor dem Wirtschaftswunder. Nach dem Wirtschaftswunder hat das Sparen leider niemanden mehr recht interessiert. Nicht? Es gibt Äußerungen von Kollegen, die sagen: „Ich müsste doch ein Rindvieh sein, wenn ich nicht nehme, was ich irgend bekommen kann“. Ich bin dazu zu streng erzogen.
Sie sagten, mein Chef sei Göring gewesen: das stimmt. Mein wirklicher Chef war der preußische Finanzminister Popitz. Ein lauterer, anständiger, korrekter Mann. Der seine Korrektheit, seine Anständigkeit, seine Lauterkeit am 20. Juli durch den Tod hat büßen müssen. Also: das war der Mann und die Oberrechnungskammer, der Oberrechnungshof in Potsdam: Das waren die realen Partner. All das Plakathafte, das war für uns am Rande. Und mir machte es ... ist ein Etat nicht auszubalancieren: das käme mir vor, wie eine Rolle nicht zu lernen. Ich habe dieses Amt – sagen wir ruhig: diese Rolle – übernommen, und es ist meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sie nach bestem Wissen und Gewissen auch durchzuführen.

Gaus: Lassen wir die Berliner Zeit beiseite, über die Sie gesprochen haben, Herr Gründgens. Wenn Sie – dieses ausgeklammert – zurückblicken: Sind Sie ein Glückskind gewesen? Haben Sie erreicht, was Sie erreichen wollten? Was ist ausgeblieben?

Gründgens: ... Furchtbar, darauf antworten zu müssen ... Wahrscheinlich bin ich ein Glückskind gewesen. – Denn es ist die einzige Erklärung gewesen, wieso das so hoch hinauf ging. Aber ich versichere Ihnen, daß ich kräftig habe zahlen müssen: für das Glückskindsein. In den Schoß gefallen ist mir nichts.

Gaus: Wenn Sie an die Rollen denken, die Sie gespielt haben – und dabei wird man zunächst an Mephisto denken und zuallererst an Mephisto denken: Was ist für Sie jener Augenblick in der Darstellung, in dem Sie sagen: es war richtig, daß ich Schauspieler und nichts anderes als Schauspieler werden wollte?

Gründgens: Der Hamlet hat mir am tiefsten am Herzen gelegen. Aber die tiefste Befriedigung hat mir eine Szene im zweiten Teil des „Faust“ gegeben: nämlich die Grablegung. Dies Gefühl also – ich hatte in der letzten Inszenierung jedes Dekor verbannt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß es irgendein Dekor geben könne, das der Großartigkeit dieser Szene einigermaßen gerecht wurde. Und dann haben Theo Otto und ich kurz entschlossen die Bühne leer geräumt. Und man sah also in die Hinterbühne, man sah die Züge, und in der Mitte saß ich, und da waren die Scheinwerfer. Und da ich sowieso also nicht sehr gut sehe, war ich völlig in einem ... abgeschlossen. – Und da hab ich ein tiefes Glücksgefühl gehabt.

Gaus: Nur in dieser Inszenierung?

Gründgens: In der Form: nur in dieser Inszenierung. Als erste Inszenierung waren noch leibhaftige Engel auf der Bühne. In der 32er Inszenierung von Gustav Lindemann. In meiner ersten "Faust"-Inszenierung waren die Engel noch auf Schleier gemalt. Jetzt ließ ich nur die Stimmen kommen. Und ich hatte nichts mehr mit dem Material zu tun.

Gaus: Sie haben sich oft gegen alles Unklare, Unkontrollierbare, gegen alles allzu Gefühlvolle ausgesprochen: Waren Sie in diesem Augenblick – nach Ihrem eigenen Urteil – selbst in der Gefahr, in etwas Unkontrollierbares hinein zu geraten?

Gründgens: Nein. Um Gottes willen, nein. Das ist mir verwehrt. Schauen Sie mal: Als ich das Staatstheater übernahm, da hatte mein Vorgänger eine Fülle von Blut-und-Boden-Stücken angesammelt, die also kontraktmäßig in dieser Provisoriumszeit herausgeschleudert wurden. Da gab es ein Stück: „Land in der Dämmerung“. Ich weiß es nicht, von wem. Und ich ließ Fehling kommen und sag ihm: „Fehling ...?“ Fehling zog ein krummes Gesicht und sagt: „Aber ich versteh' nicht. Warum machen Sie es denn nicht?“ Und ich sagte: „Fehling, vor diesen Stücken schützt mich ein für alle Mal mein Mangel an Tiefe.“ Und das meine ich damit, wenn ich sage: Die Gefahr, in Gefühlsduselei zu geraten, ist meiner Natur nicht gegeben. Da muß ich nicht aufpassen.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Gründgens. Sie wollen – haben Sie mir vorhin gesagt – nun, da Sie die Theaterleitung abgeben, eine neue Rolle auch lernen: nämlich zu leben. Glauben Sie, daß diese Rolle Ihnen ganz genügen wird, oder halten Sie es für denkbar, daß es Sie nach einer gewissen Zeit auch wieder an eine Spitze eines Theaters noch einmal führen könnte?

Gründgens: Nein, nein, das wird es ganz bestimmt nicht, das ist zu Ende. Das spüre ich und da – das darf ich nicht mehr weiter tun. Weil einfach: es müssen andere ran, und 30 Jahre ... Laube, der Burgtheaterdirektor, hat einmal gesagt: Nach zehn Jahren hat der Intendant eigentlich alle Stücke durchinszeniert und sollte abgehen. – Inzwischen sind so viele neue geschrieben worden, da ist es vielleicht Zeit, sich also ... Aber ich sollte es nicht mehr tun. Ich werde es auch nicht mehr tun.

Gaus: Sie waren Zeit Ihres Lebens Schauspieler, Regisseur, Theaterleiter. Was werden Sie als Drittes hinzunehmen – außer dem Leben? Schreiben?

Gründgens: ... Ja ... Ich bemühe mich, ein Buch zu schreiben ... Wo ich der entsetzlichen Gefahr gegenüberstehe, daß eine Fülle des Anekdotischen mein Anliegen überwiegen könnte. Mein Anliegen – jetzt werd' ich leider geschwollen – ist, in diesem Buch das Verhältnis des Künstlers zur Macht zu schildern. Ich habe so oft unpassenderweise in Tuchfühlung neben so genannten historischen Ereignissen gestanden, daß ich ganz meine, einen Gesichtswinkel zu haben, aus dem ich also das betrachten kann, der also ... der nicht vielen gegeben ist. Und da ich das versuche, sine ira et studio zu tun, also so sachlich wie möglich, muß ich versuchen, also zu vermeiden ... daß also ... daß die Anekdote Beispiel bleibt und nicht nur als Anekdote bleibt.