Sendung vom 12.11.1992 - Hetterle, Albert

Günter Gaus im Gespräch mit Albert Hetterle

Freiheit ist die Abwesenheit von Angst

Albert Hetterle, geboren am 31. Oktober 1918 in Odessa, also ein Jahr nach der russischen Oktoberrevolution. Ein Sozialist, der sich dem, was in der DDR versucht worden ist, verpflichtet fühlte, aber kritisch blieb. Ein bedeutender Theatermann in Deutschland, seit 1968 Intendant des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Heute ist seine Vertragsverlängerung umstritten. Warum? – Weil er Sozialist war?

Gaus: Sie sind als Kind deutschstämmiger Bauern im Schwarzmeergebiet geboren und als Sowjetdeutscher in einem Dorf bei Odessa und in Odessa, der südrussischen Hafenstadt, aufgewachsen. Anfänge als Schauspieler an einer Wanderbühne. Von der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg als Deutscher vereinnahmt, eingegliedert ins Gefüge des Deutschen Reiches, schließlich noch Soldat in Hitlers großdeutscher Wehrmacht. Nach dem Krieg neue Hoffnungen, ein neuer Staat, Sozialist. Sie haben mir einmal von Ihrem tiefen Engagement für das Neue in diesem Teil Deutschlands – gemeint war die DDR – gesprochen. Anfänge als Schauspieler in der mitteldeutschen Provinz, seit 1955 am Maxim-Gorki-Theater in der Hauptstadt der DDR. Heute Intendant am selben Theater in einer ganz anderen Stadt, in einem ganz anderen Land.
Ist es Ihnen möglich, Herr Hetterle, in all diesen Wechselfällen etwas Durchgehendes, etwas Beständiges, ein gleichbleibendes Element zu erkennen und zu benennen? Sei es in der eigenen Erfahrung mit sich selber, sei es in der Erfahrung mit Menschen. Gibt es etwas Durchgehendes in einem solchen Leben?

Hetterle: Ich glaube ja. Ich habe immer versucht, mich selber zurechtzufinden in diesem Leben und über Dinge nachzudenken, die um mich herum geschahen, über mein Verhalten zu diesen Dingen. Es ist mir sicher nicht immer gelungen, Erkenntnisse, die ich aus diesem Nachdenken gewonnen hatte, so durchzusetzen, wie ich sie hätte durchsetzen wollen oder vielleicht auch hätte müssen. Aber ich habe daraus sehr viel gelernt im Umgang mit meiner Umwelt, im Umgang mit Menschen und auch im Umgang mit mir selber. Ich habe mir im Laufe der Zeit, glaube ich, ein kritisches Verhältnis, nicht auferlegt, aber erworben: Ich konnte nicht mehr unkritisch sein. Dadurch gewann ich immer mehr Mut, diese Kritik, die ich als Erkenntnis gewonnen habe, in eine Tat umzusetzen. Das war zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich schwer und ist zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger unterschiedlich auch gelungen.

Gaus: Wir kommen darauf im Einzelnen, aber ich will das noch mal rekapitulieren. Sie sagten: Das Durchgehende an diesem wechselvollen Leben war nach Hetterles Erfahrung: Ich habe mich und das, was vorging, immer sehr genau beobachtet, ich habe daraus eine kritische Distanz gewonnen und habe aus dieser kritischen Distanz die Verpflichtung zum Handeln abgeleitet. Ist das korrekt zusammengefasst?

Hetterle: Ja, das ist korrekt zusammengefasst.

Gaus: Wenn Sie Ihr Leben bedenken, Herr Hetterle, und zwar jetzt die Zeit Ihres Lebens, nicht nur Ihr eigenes: Ist der gewöhnliche, der hinfällige, der schwache Mensch nicht immer überfordert? Muss man da nicht sagen, mehr als Anpassung ist von Ihnen nicht zu verlangen, nicht zu erwarten? Ich will an dieser Stelle keine Auskunft über Ihr eigenes Leben, über Ihr eigenes Verhalten. Sie haben gesagt: Meine Kritik hat mich immer zum Handeln veranlasst. Wir werden darauf kommen. Ich will nur wissen: Haben Sie nicht in all den Erfahrungen, die Sie machen mussten, den Eindruck gewinnen müssen, der schwache, hinfällige Mensch – ich halte Sie nicht für einen schwachen Menschen –, der schwache, hinfällige Mensch, dem bleibt gar nichts weiter übrig, als aus der Anpassung ein Menschenrecht zu machen?

Hetterle: Wenn ich den schwachen, hinfälligen Menschen nur als eine Art von Menschsein nehme, haben Sie recht. Aber ich denke doch, dass es auch starke Menschen in dieser Zeit, von der wir reden, gegeben hat, und die nicht unbedingt und um jeden Preis versucht haben, sich anzupassen, um zu überleben. Es gab auch Menschen, die ohne Rücksicht darauf, wie oder ob sie überleben, bereit waren, ihr Leben einzusetzen für eine Sache, an die sie glaubten, für eine Sache, von der sie überzeugt waren. Der schwache, hinfällige Mensch musste sich wahrscheinlich anpassen, sonst hätte er nicht überlebt. Sicher.

Gaus: Wir kommen auf das Problem noch einmal. Besteht nicht mindestens in der heutigen Kommunikations- und Massengesellschaft eine Hauptgefahr darin, dass der von Ihnen hier genannte und von mir nicht bestrittene Nicht-Schwäche, der Heldische, der überzeugungsfähige Mensch immer in der Versuchung ist, den schwachen, hinfälligen Menschen zu überfordern, weil er an seinem eigenen Maßstab auch den Schwachen messen will?

Hetterle: Mit Sicherheit ist das so, weil das zwei Denkweisen und zwei Haltungen sind von unterschiedlichen Menschen, und die einen neigen dazu, den eigenen Maßstab für alle Menschen setzen. Insofern haben Sie Recht.

Gaus: Haben Sie einem Glauben angehangen, der nach Ihrer jetzigen Einschätzung die schwachen Menschen überfordert hat?

Hetterle: Vielleicht ja. Ich habe dem Glauben angehangen, dass das, was man Sozialismus nennt, eine Sache ist, die ein gutes Ziel verfolgt – eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen, eine friedliche Gesellschaft, eine humanistischere Gesellschaft. Natürlich war damit der hinfällige, schwache Mensch mitunter überfordert.

Gaus: Sie haben bis zur Wende 1989 Ihr Leben unter Diktaturen verbracht – in der Sowjetunion, im nationalsozialistischen Regime Deutschlands, in der DDR. Wie haben Sie für sich unter diesen Umständen Freiheit definiert – als etwas für immer Abwesendes oder als eine Freiheit welcher Art?

Hetterle: Nein, es war nicht etwas Abwesendes, sondern ich bin immer an Grenzen gestoßen, wenn ich für mich Freiheit definiert habe. Also ich Muss jetzt anfangen mit meinen Erlebnissen in der Sowjetunion damals. Da war es so, dass ich als junger Mensch zwischen zwei Stühlen gesessen habe, zwischen Schule und Elternhaus. Das Elternhaus war meine Großmutter. Dort herrschte eine andere Denkweise und eine andere Ansicht über das, was war, als in der Schule. In diesem Zwiespalt bin ich aufgewachsen. Ich habe keinen Anlass gehabt, an dem zu zweifeln, was meine Großmutter mir an Lebenserfahrung weitergab. Trotzdem zog mich das, was die Schule mit mir machte, magnetisch an.

Gaus: Wo kommt da das Freiheitsproblem hinein?

Hetterle: Das kommt gleich… Insofern war das in gewissem Sinne meine freieste Zeit, weil ich über mich selber entschieden habe. Ich konnte sagen: das ist das Richtige und das machst und das tust du. Ich fühlte mich weder von dem einen noch von dem anderen eingeengt, ich fühlte mich frei. Diese Freiheit habe ich auch unter dem Stalinismus empfunden, das heißt: Stalinismus im eigentliche Sinne gab es erst ab 1929, bis dahin galt noch die Neue Ökonomische Politik. 1937 kamen die Säuberungsprozesse, und da setzten meine ersten Zweifel ein. Es begann die Unfreiheit mit der ständigen Angst im Nacken: Du musst vorsichtig sein, es könnte dich erwischen. Denn es sind viele Verhaftungen vorgenommen worden, von denen man nicht wusste, warum diese Menschen nachts aus ihren Wohnungen geholt wurden und spurlos verschwanden.

Gaus: Kann man sagen: Nach Ihrer Erfahrung war Freiheit vor allem die Abwesenheit von Angst?

Hetterle: Ja. Das kann ich mit bestem Gewissen sagen.

Gaus: Aber Sie sagen auch: Unter all den Diktaturen, unter denen ich gelebt habe – Diktaturen sehr unterschiedliche Art, wir wollen sie nicht gleichsetzen –, hatte ich durchaus auch das Gefühl, ich kann einen Freiheitsraum gewinnen.

Hetterle: Ja, hatte ich.

Gaus: Und die entscheidende Eingangstür für diesen Freiheitsraum war die Abwesenheit von Angst.

Hetterle: Ja. Aber das war zum Beispiel bei der faschistischen Besetzung …

Gaus: Wie war das für Sie, als die Deutschen als Kriegsfeinde kamen?

Hetterle: Erstmal war eine wahnsinnige Angst da. Eine wahnsinnige Angst, geprägt auch durch die Propaganda und die Bilder, die uns vorführten, was Faschismus sei. Und es hat sich dann gezeigt, dass er genau so war, wie es die Propaganda geschildert hatte. Die ersten Besatzer waren Rumänen. Wir mussten aus Odessa raus, da begegnete ich dem ersten Deutschen in deutscher Uniform. Die Angst, die ich da hatte, kann ich Ihnen kaum beschreiben. Diese Angst löste sich aber auf, als ein lachender, strahlender junger Mensch auf mich zukam und radebrechte in Russisch, und ich sagte: „Sie können ruhig deutsch mit mir reden.“ Da fiel der mir um den Hals, und ich wusste nicht, wie mir geschah. Einerseits die Angst vor dem Hoheitsabzeichen auf dem Ärmel, auf der anderen Seite diese, ja fast Herzlichkeit. Das währte aber nicht lange. Das währte insofern nicht lange, weil ich dann Erlebnisse mit deutschen Soldaten hatte, die gegen die russische Bevölkerung vorgingen. Da passierte das, was man unter Faschismus versteht.

Gaus: Aus gegebenem Anlass gefragt: Was hat Sie nach Ihrer eigenen Einschätzung zum Deutschen gemacht? Die Herkunft aus dem Deutschstämmigen oder das Leben unter den Deutschen?

Hetterle: Na, das ist noch komplizierter. Ich habe mich selbstverständlich als Deutscher gefühlt, aber ich fühlte mich nie als eine nationale Minderheit oder so…

Gaus: Ich meine jetzt in der Zeit Ihrer Kindheit.

Hetterle: In der Zeit meiner Kindheit, ja. Als ich dann am Theater war, in Odessa, und wir gingen auf Tourneen mit dem Theater...

Gaus: ... ein deutschsprachiges Theater ...

Hetterle: Eine Zeitlang leitete eine emigrierte deutsche Kommunistin dieses Theater. Die hat mir auf einer Schiffsfahrt von Odessa nach Jalta, wo wir auf Tournee waren, über Deutschland erzählt. Da habe ich zum ersten Mal als Deutscher empfunden, obwohl sie mir auch erzählt hat, dass jetzt in Deutschland Faschismus ist. In meiner Phantasie standen an jeder Straßenkreuzung Maschinengewehre, hinter denen Faschisten lagen und schossen. Aber auch durch die Klassiker, die sie uns nahe gebracht hat – Goethe, Schiller, Kleist usw. – hab ich zum ersten Mal deutsch empfunden. In mir wuchs seitdem eine Neugier, ja vielleicht sogar eine Sehnsucht, einmal in dieses Land meiner Väter zu kommen.

Gaus: Eine Kultursehnsucht, keine Blutabkunft.

Hetterle: Nein, eine Kultursehnsucht. Und vor allen Dingen: Theater deutsch zu spielen.

Gaus: Am Ende eines langen Theaterlebens, am Ende eines langen Kulturlebens – was bedeutet es heute für Sie, Deutscher zu sein?

Hetterle: Ich denke, dass ich wie jeder andere Deutsche mit der selben Last belastet bin, die die Deutschen auf sich geladen haben, obwohl ich mit Fug und Recht und reinen Gewissens sagen kann, ich habe nie einem Russen oder Ukrainer, keinem Jude oder sonst wem etwas zuleide getan. Aber trotzdem trage ich diese Schuld mit, ich fühle mich mitverantwortlich. Ich finde schon, Deutscher zu sein ist etwas. Also ich fühle mich als Deutscher, wie soll ich es nennen? Stolz wäre schon zu viel gesagt. Aber ich empfinde diese Schwierigkeiten, die wir jetzt in Deutschland haben. Ich trage diese Probleme mit mir, und damit weiß ich, dass ich Deutscher bin. Ich fühle mich mitverantwortlich für all das, was in diesem Deutschland geschah und geschieht.

Gaus: Schrecklich zu sagen, dass eine Definition, die Ihnen zu allererst oder zu allerletzte einfällt, die ist, Deutscher zu sein heiße, Problem zu haben mit sich...
Die neuen Hoffnungen aus alten Sehnsüchten: 1945 – Friede, Sozialismus. Wider Erwarten ist bis heute der Friede zwischen West und Ost – jedenfalls in Mitteleuropa – erhalten geblieben. Und die andere Hoffnung, die viele Menschen, gerade auch junge wie Sie, Albert Hetterle, damals hegten, die hoffnungsfrohe Erwartung in den Sozialismus hat getrogen. Bitte benennen Sie, was für Sie nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg Sozialismus sein sollte.

Hetterle: Sozialismus sollte vor allen Dingen nach dem Zweiten Weltkrieg ein Leben ohne Krieg sein. Sozialismus sollte für mich sein ein Leben ohne Angst. Sozialismus sollte sein ein Leben in einer gerechten Gesellschaft. Sozialismus sollte sein für mich Humanismus der Menschen untereinander, einer für den anderen einstehend, Toleranz sollte im Umgang miteinander herrschen und noch vieles mehr. dass das nicht eingetreten ist, macht mich sehr traurig.

Gaus: Sie sagen, es ist nicht eingetreten. Vom Krieg, den es nicht gegeben hat, abgesehen ... Ich greife jetzt einmal vor: Haben Sie gegen Ende des Lebens das Empfinden, aus den guten Vorsätzen sei wenig oder gar nichts geworden, bestenfalls sei das Leben ein Auf-der-Stelle-Treten gewesen? Oder ist Ihnen eine Hoffnung geblieben?

Hetterle: Nein, mir ist eine Hoffnung geblieben. Ich glaube, es war kein Auf-der-Stelle-Treten, sondern ein Gehen in eine falsche Richtung. Und es war ein Stolpern, kein zielgerichtetes Gehen. Ein Verkennen der Realitäten, eine geheuchelte Demokratie. In den Verfassungen der DDR standen Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und, und, und. In Wirklichkeit gab es die aber nicht. In diesem Widerspruch lebten viele Menschen, auch ich, die immer wieder gesagt haben: Das kann doch nicht möglich sein, dass es das nicht gibt. Ich glaube aber, dass die Idee...

Gaus: ... jetzt kommt die Hoffnung …

Hetterle: ... von einer besseren Gesellschaft, wie auch immer, in welcher Form auch immer, von den Menschen wieder gesucht und aufgegriffen und wieder der Versuch gemacht wird, diese Idee zu verwirklichen.

Gaus: Die Gesellschaft, in der Sie jetzt leben, erfüllt für Sie diesen Anspruch nicht?

Hetterle: Nicht in dem Umfange, wie ich mir es vorstelle, wie ich mir es wünsche. Ich meine schon, dass der Sozialismus pur, wie ihn die bärtigen Männer aufgeschrieben haben, nicht zu realisieren ist. Man Muss die zeitlichen Gegebenheiten, wenn man sich auf diese Theorien beziehen will, mit der Realität immer in Übereinstimmung bringen. Aber genau so, wie dieser Sozialismus nicht dorthin führte, wo die Menschheit hin sollte, wird auch nicht der Kapitalismus dorthin führen. Ich glaube nicht, dass das der Weg ist. Ich weiß, dass es in dieser Gesellschaft etwas mehr Demokratie gibt als im Sozialismus, obwohl sie auch schon wieder hier und da geschickt eingeschränkt wird.

Gaus: Was fehlt denn dieser Gesellschaft am meisten, damit sie dem näher kommt, was Ihr Vorsatz war nach dem Krieg?

Hetterle: Dieser Gesellschaft fehlt am meisten Humanität.

Gaus: Denken Sie, hoffen Sie, das man den Nachwachsenden, den Nachdrängenden Erfahrungen vermitteln und weitergeben kann?

Hetterle: Ich bin davon überzeugt. Ich bin aber gleichzeitig davon überzeugt, dass das oft nur wenig fruchtet. Aber: Steter Tropfen höhlt einen Stein. Wenn wir die Erfahrungen vorangegangener Generationen nicht verwerten würden wie die kommenden Generationen unsere Erfahrungen verwerten, egal ob sie schlecht oder gut waren, und daraus Schlüsse ziehen für ihre Zukunft, für ihr Weiterleben, dann wäre es um die Menschheit schlecht bestellt.

Gaus: Na vielleicht ist es um die Menschheit schlecht bestellt?

Hetterle: Es ist sicher nicht so gut um die Menschheit bestellt, wie wir es gerne hätten, aber ich glaube doch – da halte ich mich an Goethe und seinen „Faust“ -: Das Gute setzt sich ab und an mal gegen das Böse durch.

Gaus: Sie sind nicht zu retten. Sie glauben, dass der Mensch gerettet wird?

Hetterle: Ich hoffe es.

Gaus: Sie glauben es.

Hetterle: Ich glaube es.

Gaus: Nach der Antwort ist die nächste Frage, die ich mir notierte habe, fast gar nicht mehr zu stellen, weil die Antwort nahe liegt. Dennoch stelle ich sie. Albert Hetterle, der gesellschaftspolitische Theatermann. Die Bühne als moralische Anstalt. Das Theater als Ort, den Menschen als gesellschaftliches Wesen zu erheben, zu veredeln, ihm ein Bewusstsein seiner selbst und der Bedingungen seines Seins zu vermitteln. Bekennen Sie sich, nach allem, was gewesen ist, uneingeschränkt zu dieser, im Kern Schillerschen Auffassung vom Theater?

Hetterle: Wenn das nicht so wäre, wäre Theater sinnlos. Und ich halte Theater für sehr sinnvoll. Ich bekenne mich dazu.

Gaus: Ohne Einschränkung?

Hetterle: Ohne Einschränkung.

Gaus: Aber die Leute gehen nicht mehr ins Theater.

Hetterle: Doch, sie gehen wieder. Sie gehen jetzt wieder mehr ins Theater als vordem Ich weiß, dass der größte Teil unserer Zuschauer, des Gorki-Theaters, zurzeit aus dem Westteil der Stadt kommt. Wir sind sehr glücklich und froh darüber. Das geschieht zum Teil aus Neugier, das geschieht, glaube ich, weil wir etwas zu bieten haben in unserem Haus. Aber auch die Ostdeutschen, die Ostberliner, fangen wieder an, mehr ins Theater zu gehen. Wenn ich eine Zahl nennen darf: Unsere Auslastung lag vor den Ferien bei 60 Prozent, jetzt liegen wir bei 78 Prozent.

Gaus: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Hetterle: Die Leute wollen wieder Theater sehen, und das schreiben sie uns auch: Sie waren soundso lange abstinent, und jetzt müssen sie wieder gehen. Die zweite Erklärung dafür ist: Wir dürfen Preisermäßigungen gestatten, die auch vielen älteren Leuten wieder die Möglichkeit geben, ins Theater zu gehen. Diese älteren Leute gehörten zum großen Teil auch zum Stammpublikum in unserer Vergangenheit. Und dann, da ich jetzt durch die Presse gezogen worden bin, ist das Theater wieder interessant geworden für viele Leute...

Gaus: ... ob der Hetterle Intendant bleibt oder nicht...

Hetterle: Und was der da macht, wenn er selber spielt. Natürlich macht das auch neugierig.

Gaus: Während wir dieses Interview produzieren, wissen wir nicht, was der Innensenator des vereinigten Berlins, Herr Heckelmann, befinden wird über die Verlängerung Ihres Intendantenvertrages. Oder wissen Sie es inzwischen?

Hetterle: Nein, ich weiß es nicht.

Gaus: Wenn er nicht verlängert, sagen Sie dann: Er bestraft Gesinnung, und er – denn anderes kann er mir nicht vorwerfen – benutzt als Hilfskonstruktion: Ich Muss gehen, weil Leute, die in der SED waren und weniger waren als ich, auch schon gegangen wurden. Würden Sie sagen, dass dieses dann Ihr Vorwurf an Heckelmann ist, oder geht Ihnen das zu weit?

Hetterle: Nein, das geht mir nicht zu weit, ich fände es nur sehr bedauerlich. Ich finde es sehr bedauerlich, dass jetzt in diesem Deutschland die Dinge so gehandhabt werden. Ich sehe es als einen Fehler an, wenn man sich mehr für ein Parteiabzeichen oder eine Parteizugehörigkeit interessiert als dafür, um was für einen Menschen es sich handelt. In jeder Partei gibt es solche und solche. Ich bedaure sehr, dass nicht differenziert wird. Wer diese Differenzierung als Politiker nicht macht, Muss immer in die Irre gehen.

Gaus: Ich bleibe noch ein bisschen bei der Thematik – ich hatte das vorhin schon angekündigt –, bei der das Scheitern guter Absichten, das Misslingen so nahe liegt. Wobei Sie aber sagen: Nein, nein, mir blieb die Hoffnung und ich stehe uneingeschränkt zu dem Theater als der moralischen Anstalt. Es gibt viele Zitate von Ihnen, die das belegen. Sie sagen Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Veränderungswillen durchsetzen sei eine Aufgabe des Theaters. Theater müsse wehtun, der Theaterkünstler müsse gesellschaftlich gebraucht werden. Ein wenig kann man sich fürchten vor dieser Besessenheit, ich will nicht Fanatismus sagen. Ich weite das mal aus, Herr Hetterle, ich gehe weg vom Theater. Kann man sagen, dass die DDR unter anderem eine gut gemeinte Erziehungsdiktatur gewesen ist, dass der Sozialismus, wo er bisher real wurde, dem Menschen zu seinem Glücke, und sei es mit Hilfe des Theaters zwingen wollte?
Und kann es sein, dass ein Problem unserer Zeit darin besteht, dass ein Mensch wie Sie, ein Aufklärer nach Gesinnung, nach Begabung, nach Bedürfnis, an der Aufklärung festhalten will, obwohl alle Erfahrungen dafür sprechen, dass die Ratio der Aufklärung weggespült wird von den Emotionen der Menschen, wenn es ernst wird? Kann es sein, dass ein Problem ist, dass wir keine andere Antwort bisher wussten, als: Da Muss man die Menschen eben zu ihrem Glücke zwingen? Und ist es nicht besser, dass man sie dann lieber glücklos, aber auch ohne Zwang lässt?

Hetterle: Nein, nein das ist nicht gut. Sie dazu zwingen ist nicht gut.

Gaus: Hat man das denn nicht versucht?

Hetterle: Ja, das hat man versucht, und es ist nicht gelungen, das wird auch nicht gelingen. Sie in ihrer Ratlosigkeit zu lassen ist genauso falsch. Ich glaube schon, dass man mit – Sie haben Aufklärung gesagt, bleiben wir dabei – Theaterspielen allein keine Gesellschaft umkrempeln kann, das kann man nicht. Aber man kann dazu beitragen. Und ich glaube, dass gute Beispiele von Politikern, die eine Gesellschaft zu einem Ziel hinführen wollen, wie ich es mir vorstelle, Einfluss ausüben können, wenn sie berücksichtigen, was einem Menschen zuzumuten ist und was nicht. Und immer davon ausgehen, für den Menschen oder für die Gesellschaft das Beste zu wollen. Jetzt werden Sie wieder sagen, dass ist einer, der da also ... Gut, bin ich, und ich glaube nach wie vor daran, dass das möglich ist – bei aller Scheußlichkeit und Boshaftigkeit, die ja in uns Menschen steckt.

Gaus: Seit 1968 sind Sie Intendant des Maxim-Gorki-Theaters, an dem Sie seit 1955 als Schauspieler und gelegentlich auch als Regisseur gearbeitet hatten. Wer sich auskennt sagt von Ihnen: Albert Hetterle war ein couragierter Intendant in der DDR. Sie haben konsequent gesellschaftskritische Stücke auf die Bühne gebracht, ich erwähne als ein Beispiel nur „Die Übergangsgesellschaft“ von Volker Braun. Daraus ergeben sich mehrere Fragen. Wie sind Sie mit der Zensur umgegangen? Erzählen Sie bitten an Beispielen oder allgemein, wie Sie mit der zensierenden, der kontrollierenden Apparatur des Kulturministeriums und der Partei verfahren ist.

Hetterle: Wenn wir ein Stück entdeckt hatten oder ich ein Stück entdeckte, von dem ich überzeugt war, dass dieses Stück unbedingt inszeniert werden musste, weil es den Sozialismus dort kritisierte, wo es am schmerzhaftesten ist, und dort kritisierte, wo er zu kritisieren war, wenn er besser werden sollte, dann haben wir die Fühler ausgestreckt nach drei Richtungen: Ministerium für Kultur, Bezirksleitung der SED ...

Gaus: ... zu der Sie gehörten...

Hetterle: ... zu der ich gehörte, und zum Magistrat. Und wir mussten dann immer Analysen machen von dem Stück und begründen, warum wir es spielen wollten, und was in dem Stück vorgeht usw., usw. Da diese Analysen meist die maßgeblichen Leute, also der Minister für Kultur oder der Stadtrat für Kultur oder der Erste Sekretär der Bezirksleitung, nicht lasen, dafür hatten die ihre Leute, musste man zu diesen Leuten einen guten Draht haben. Wir haben diese Analysen stets so abgefasst, dass das, was wir vorhatten, dem Sozialismus diente und ihn nicht kaputtmachte. Wir hätten nie und nimmer manche Stücke auf den Spielplan bringen können, wenn wir nicht Verbündete gehabt hätten, die wir davon überzeugten, das es richtig und notwendig war, das und das zu spielen.

Gaus: Haben Sie immer verstanden, warum es diese Praxis geben musste – wegen der Gefährdung des Staates, der Lehre der Partei, wegen des Kalten Krieges haben Sie es immer verstanden, oder...

Hetterle: Sie meinen die Zensur?

Gaus: Ja.

Hetterle: Ich fand die scheußlich. Die musste es nicht geben. Wenn einem Theater nicht überlassen bleibt, was es wann wie spielt, ist das eine derartige Einschränkung, ein Eingriff, gegen den man sich wehren Muss. Das Theater hat mit diesen Mitteln versucht, sich dagegen zu wehren. Wissend, das auch Kompromisse gemacht werden mussten.

Gaus: Viele sind gegangen, Hetterle hätte gehen können. dass Sie dennoch – wissend, dass die Zensur nichts Gutes bewirkt – weitergemacht haben, hat das damit zu tun, dass Sie mit ihrem Lebenslauf länger als es nötig und richtig gewesen wäre, bereit waren, auch Fehler mitzumachen? Sahen Sie das alles immer noch als eine Abwehr des Vorangegangenen an, für eine Überwindung des Vorangegangenen, als Abwehr, dass es künftig nicht wiederkommen möge?

Hetterle: Das ist ein Teil der Antwort. Der andere Teil der Antwort ist vielleicht noch bestimmender: Ich kann nicht aufgeben.

Gaus: Werfen Sie sich nachträglich vor, dass Sie nicht gegangen sind?

Hetterle: dass ich nicht gegangen bin, werfe ich mir nicht vor. dass ich nicht früher offener und öffentlicher meinen Protest artikuliert habe, sondern immer nur unter vier oder sechs oder acht Augen, das werfe ich mir sehr vor – selbst auf die Gefahr hin, dass ich dann hätte gehen müssen.

Gaus: Sie waren couragiert als Theaterintendant. Sie riskierten die Abweichung, wir haben davon gesprochen. Sie sagen jetzt, was Sie im real-existierenden Leben waren, war mehr angepasst als das, was Sie als Theaterintendant für Ihre Bühne waren. Und Sie haben gesagt, eine Erklärung war der Schrecken des Vergangenen. Woraufhin das Gegenwärtige der DDR sehr gesündigt hat, weil sie immer dieses vorgezeigt hat. Stimmen wir darin überein?

Hetterle: Ja.

Gaus: Dieses Angepaßter-sein im Leben als auf der Bühne – wie erklären Sie das, von Ihrem Auschwitz-Syndrom abgesehen.

Hetterle: Das mit dem Angepaßt-im-Leben, das stimmt nicht so.

Gaus: Widersprechen Sie?

Hetterle: Ja, ich widerspreche. Wir wussten uns, ich wusste mich eins mit vielen, vielen Leuten, die zu uns ins Theater gekommen sind und die in diesen Aufführungen, nicht nur in diesem Theater, ich will das nicht nur für uns in Anspruch nehmen, das haben andere Häuser, andere Theater auch gemacht, in Schwerin oder auch in Berlin ...

Gaus: Also nicht nur Ihr Theater, nicht nur in Berlin, sondern auch in der Provinz ...

Hetterle: … auch in der Provinz hat es das gegeben. Es gab Kraft und Mut, wenn die Menschen zu uns kamen und unsere Arbeit als eine Art Befreiung verstanden. Sie nannten die „Übergangsgesellschaft“, aber da hatten wir schon -zig andere Stücke mit ähnlich kritischen Inhalten gemacht. Die Foyergespräche und Reaktionen ermutigten uns.

Gaus: Stabilisierte das das System?

Hetterle: Glaube ich nicht. Das glaube ich nicht.

Gaus: Aber es reformierte das System nicht ausreichend genug, um seinen Zusammenbruch zu verhindern?

Hetterle: Das mag so sein. Aber schließlich und endlich haben die Theater, das wurde auch sichtbar bei der Demonstration am 4. November 1989, ihren Teil zur Wende geleistet.

Gaus: Die nachträgliche Kritik, vornehmlich aus Westdeutschland, sagt: Ihr habt immer nur geltend zu machen, dass Ihr das Schlimmere verhütet habt. Sie sagen jetzt: So nicht, wir haben das Leben erhalten, die Diskussion gefördert, wir haben die völlige Erstarrung verhindert. Was sagen Sie zu der Art, wie der Westen mit dem, was in der DDR gewesen ist, umgeht?

Hetterle: Leider ist das so, dass die Westdeutschen, weniger die Westberliner, die vierzig Jahre in einem anderen System gelebt haben, anders gelebt haben als die Ostdeutschen, zu wenig Verständnis besitzen für das, was hier gewesen ist. Es ist eine ignorante, zum Teil arrogante Haltung den Menschen gegenüber, die vierzig Jahre in der DDR gelebt haben. Und das ist für uns schmerzhaft. Stellen Sie sich mal vor, wir wären alle nach Westdeutschland gegangen und Honecker – wie heißt es in dem Witz? hätte als letzter das Licht ausgemacht. Wir haben uns, und ich mit, immer gegen dieses Feindbild gewehrt, das bei uns vom Westen aufgebaut wurde. Leider Muss ich feststellen, dass viele Westdeutsche ein solches Feindbild von uns haben. Und sie werden es nicht los. Und einige Politiker – fürchte ich – handeln auch nach diesem Feindbild, was sehr großen Schaden anrichten kann.

Gaus: Kann es sein, dass das auch nur Ausdruck von Ratlosigkeit ist?

Hetterle: Wenn ein Politiker ratlos ist, Muss er abtreten.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. In Volker Brauns Theaterstück „Die Übergangsgesellschaft“ haben Sie einen Altkommunisten gespielt. Über diese Rolle haben Sie nach der Wende 1990 gesagt: „Wilhelm Höchst ist Kommunist, aber einer, der keiner Herde folgt. Das hat mich fasziniert.“ Wäre Ihnen, was Sie über Höchst gesagt haben, eines Tages als Nachruf auf Albert Hetterle recht?

Hetterle: Ich denke schon.
Günter Gaus im Gespräch mit Albert Hetterle

Freiheit ist die Abwesenheit von Angst

Albert Hetterle, geboren am 31. Oktober 1918 in Odessa, also ein Jahr nach der russischen Oktoberrevolution. Ein Sozialist, der sich dem, was in der DDR versucht worden ist, verpflichtet fühlte, aber kritisch blieb. Ein bedeutender Theatermann in Deutschland, seit 1968 Intendant des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Heute ist seine Vertragsverlängerung umstritten. Warum? – Weil er Sozialist war?

Gaus: Sie sind als Kind deutschstämmiger Bauern im Schwarzmeergebiet geboren und als Sowjetdeutscher in einem Dorf bei Odessa und in Odessa, der südrussischen Hafenstadt, aufgewachsen. Anfänge als Schauspieler an einer Wanderbühne. Von der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg als Deutscher vereinnahmt, eingegliedert ins Gefüge des Deutschen Reiches, schließlich noch Soldat in Hitlers großdeutscher Wehrmacht. Nach dem Krieg neue Hoffnungen, ein neuer Staat, Sozialist. Sie haben mir einmal von Ihrem tiefen Engagement für das Neue in diesem Teil Deutschlands – gemeint war die DDR – gesprochen. Anfänge als Schauspieler in der mitteldeutschen Provinz, seit 1955 am Maxim-Gorki-Theater in der Hauptstadt der DDR. Heute Intendant am selben Theater in einer ganz anderen Stadt, in einem ganz anderen Land.
Ist es Ihnen möglich, Herr Hetterle, in all diesen Wechselfällen etwas Durchgehendes, etwas Beständiges, ein gleichbleibendes Element zu erkennen und zu benennen? Sei es in der eigenen Erfahrung mit sich selber, sei es in der Erfahrung mit Menschen. Gibt es etwas Durchgehendes in einem solchen Leben?

Hetterle: Ich glaube ja. Ich habe immer versucht, mich selber zurechtzufinden in diesem Leben und über Dinge nachzudenken, die um mich herum geschahen, über mein Verhalten zu diesen Dingen. Es ist mir sicher nicht immer gelungen, Erkenntnisse, die ich aus diesem Nachdenken gewonnen hatte, so durchzusetzen, wie ich sie hätte durchsetzen wollen oder vielleicht auch hätte müssen. Aber ich habe daraus sehr viel gelernt im Umgang mit meiner Umwelt, im Umgang mit Menschen und auch im Umgang mit mir selber. Ich habe mir im Laufe der Zeit, glaube ich, ein kritisches Verhältnis, nicht auferlegt, aber erworben: Ich konnte nicht mehr unkritisch sein. Dadurch gewann ich immer mehr Mut, diese Kritik, die ich als Erkenntnis gewonnen habe, in eine Tat umzusetzen. Das war zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich schwer und ist zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger unterschiedlich auch gelungen.

Gaus: Wir kommen darauf im Einzelnen, aber ich will das noch mal rekapitulieren. Sie sagten: Das Durchgehende an diesem wechselvollen Leben war nach Hetterles Erfahrung: Ich habe mich und das, was vorging, immer sehr genau beobachtet, ich habe daraus eine kritische Distanz gewonnen und habe aus dieser kritischen Distanz die Verpflichtung zum Handeln abgeleitet. Ist das korrekt zusammengefasst?

Hetterle: Ja, das ist korrekt zusammengefasst.

Gaus: Wenn Sie Ihr Leben bedenken, Herr Hetterle, und zwar jetzt die Zeit Ihres Lebens, nicht nur Ihr eigenes: Ist der gewöhnliche, der hinfällige, der schwache Mensch nicht immer überfordert? Muss man da nicht sagen, mehr als Anpassung ist von Ihnen nicht zu verlangen, nicht zu erwarten? Ich will an dieser Stelle keine Auskunft über Ihr eigenes Leben, über Ihr eigenes Verhalten. Sie haben gesagt: Meine Kritik hat mich immer zum Handeln veranlasst. Wir werden darauf kommen. Ich will nur wissen: Haben Sie nicht in all den Erfahrungen, die Sie machen mussten, den Eindruck gewinnen müssen, der schwache, hinfällige Mensch – ich halte Sie nicht für einen schwachen Menschen –, der schwache, hinfällige Mensch, dem bleibt gar nichts weiter übrig, als aus der Anpassung ein Menschenrecht zu machen?

Hetterle: Wenn ich den schwachen, hinfälligen Menschen nur als eine Art von Menschsein nehme, haben Sie recht. Aber ich denke doch, dass es auch starke Menschen in dieser Zeit, von der wir reden, gegeben hat, und die nicht unbedingt und um jeden Preis versucht haben, sich anzupassen, um zu überleben. Es gab auch Menschen, die ohne Rücksicht darauf, wie oder ob sie überleben, bereit waren, ihr Leben einzusetzen für eine Sache, an die sie glaubten, für eine Sache, von der sie überzeugt waren. Der schwache, hinfällige Mensch musste sich wahrscheinlich anpassen, sonst hätte er nicht überlebt. Sicher.

Gaus: Wir kommen auf das Problem noch einmal. Besteht nicht mindestens in der heutigen Kommunikations- und Massengesellschaft eine Hauptgefahr darin, dass der von Ihnen hier genannte und von mir nicht bestrittene Nicht-Schwäche, der Heldische, der überzeugungsfähige Mensch immer in der Versuchung ist, den schwachen, hinfälligen Menschen zu überfordern, weil er an seinem eigenen Maßstab auch den Schwachen messen will?

Hetterle: Mit Sicherheit ist das so, weil das zwei Denkweisen und zwei Haltungen sind von unterschiedlichen Menschen, und die einen neigen dazu, den eigenen Maßstab für alle Menschen setzen. Insofern haben Sie Recht.

Gaus: Haben Sie einem Glauben angehangen, der nach Ihrer jetzigen Einschätzung die schwachen Menschen überfordert hat?

Hetterle: Vielleicht ja. Ich habe dem Glauben angehangen, dass das, was man Sozialismus nennt, eine Sache ist, die ein gutes Ziel verfolgt – eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen, eine friedliche Gesellschaft, eine humanistischere Gesellschaft. Natürlich war damit der hinfällige, schwache Mensch mitunter überfordert.

Gaus: Sie haben bis zur Wende 1989 Ihr Leben unter Diktaturen verbracht – in der Sowjetunion, im nationalsozialistischen Regime Deutschlands, in der DDR. Wie haben Sie für sich unter diesen Umständen Freiheit definiert – als etwas für immer Abwesendes oder als eine Freiheit welcher Art?

Hetterle: Nein, es war nicht etwas Abwesendes, sondern ich bin immer an Grenzen gestoßen, wenn ich für mich Freiheit definiert habe. Also ich Muss jetzt anfangen mit meinen Erlebnissen in der Sowjetunion damals. Da war es so, dass ich als junger Mensch zwischen zwei Stühlen gesessen habe, zwischen Schule und Elternhaus. Das Elternhaus war meine Großmutter. Dort herrschte eine andere Denkweise und eine andere Ansicht über das, was war, als in der Schule. In diesem Zwiespalt bin ich aufgewachsen. Ich habe keinen Anlass gehabt, an dem zu zweifeln, was meine Großmutter mir an Lebenserfahrung weitergab. Trotzdem zog mich das, was die Schule mit mir machte, magnetisch an.

Gaus: Wo kommt da das Freiheitsproblem hinein?

Hetterle: Das kommt gleich… Insofern war das in gewissem Sinne meine freieste Zeit, weil ich über mich selber entschieden habe. Ich konnte sagen: das ist das Richtige und das machst und das tust du. Ich fühlte mich weder von dem einen noch von dem anderen eingeengt, ich fühlte mich frei. Diese Freiheit habe ich auch unter dem Stalinismus empfunden, das heißt: Stalinismus im eigentliche Sinne gab es erst ab 1929, bis dahin galt noch die Neue Ökonomische Politik. 1937 kamen die Säuberungsprozesse, und da setzten meine ersten Zweifel ein. Es begann die Unfreiheit mit der ständigen Angst im Nacken: Du musst vorsichtig sein, es könnte dich erwischen. Denn es sind viele Verhaftungen vorgenommen worden, von denen man nicht wusste, warum diese Menschen nachts aus ihren Wohnungen geholt wurden und spurlos verschwanden.

Gaus: Kann man sagen: Nach Ihrer Erfahrung war Freiheit vor allem die Abwesenheit von Angst?

Hetterle: Ja. Das kann ich mit bestem Gewissen sagen.

Gaus: Aber Sie sagen auch: Unter all den Diktaturen, unter denen ich gelebt habe – Diktaturen sehr unterschiedliche Art, wir wollen sie nicht gleichsetzen –, hatte ich durchaus auch das Gefühl, ich kann einen Freiheitsraum gewinnen.

Hetterle: Ja, hatte ich.

Gaus: Und die entscheidende Eingangstür für diesen Freiheitsraum war die Abwesenheit von Angst.

Hetterle: Ja. Aber das war zum Beispiel bei der faschistischen Besetzung …

Gaus: Wie war das für Sie, als die Deutschen als Kriegsfeinde kamen?

Hetterle: Erstmal war eine wahnsinnige Angst da. Eine wahnsinnige Angst, geprägt auch durch die Propaganda und die Bilder, die uns vorführten, was Faschismus sei. Und es hat sich dann gezeigt, dass er genau so war, wie es die Propaganda geschildert hatte. Die ersten Besatzer waren Rumänen. Wir mussten aus Odessa raus, da begegnete ich dem ersten Deutschen in deutscher Uniform. Die Angst, die ich da hatte, kann ich Ihnen kaum beschreiben. Diese Angst löste sich aber auf, als ein lachender, strahlender junger Mensch auf mich zukam und radebrechte in Russisch, und ich sagte: „Sie können ruhig deutsch mit mir reden.“ Da fiel der mir um den Hals, und ich wusste nicht, wie mir geschah. Einerseits die Angst vor dem Hoheitsabzeichen auf dem Ärmel, auf der anderen Seite diese, ja fast Herzlichkeit. Das währte aber nicht lange. Das währte insofern nicht lange, weil ich dann Erlebnisse mit deutschen Soldaten hatte, die gegen die russische Bevölkerung vorgingen. Da passierte das, was man unter Faschismus versteht.

Gaus: Aus gegebenem Anlass gefragt: Was hat Sie nach Ihrer eigenen Einschätzung zum Deutschen gemacht? Die Herkunft aus dem Deutschstämmigen oder das Leben unter den Deutschen?

Hetterle: Na, das ist noch komplizierter. Ich habe mich selbstverständlich als Deutscher gefühlt, aber ich fühlte mich nie als eine nationale Minderheit oder so…

Gaus: Ich meine jetzt in der Zeit Ihrer Kindheit.

Hetterle: In der Zeit meiner Kindheit, ja. Als ich dann am Theater war, in Odessa, und wir gingen auf Tourneen mit dem Theater...

Gaus: ... ein deutschsprachiges Theater ...

Hetterle: Eine Zeitlang leitete eine emigrierte deutsche Kommunistin dieses Theater. Die hat mir auf einer Schiffsfahrt von Odessa nach Jalta, wo wir auf Tournee waren, über Deutschland erzählt. Da habe ich zum ersten Mal als Deutscher empfunden, obwohl sie mir auch erzählt hat, dass jetzt in Deutschland Faschismus ist. In meiner Phantasie standen an jeder Straßenkreuzung Maschinengewehre, hinter denen Faschisten lagen und schossen. Aber auch durch die Klassiker, die sie uns nahe gebracht hat – Goethe, Schiller, Kleist usw. – hab ich zum ersten Mal deutsch empfunden. In mir wuchs seitdem eine Neugier, ja vielleicht sogar eine Sehnsucht, einmal in dieses Land meiner Väter zu kommen.

Gaus: Eine Kultursehnsucht, keine Blutabkunft.

Hetterle: Nein, eine Kultursehnsucht. Und vor allen Dingen: Theater deutsch zu spielen.

Gaus: Am Ende eines langen Theaterlebens, am Ende eines langen Kulturlebens – was bedeutet es heute für Sie, Deutscher zu sein?

Hetterle: Ich denke, dass ich wie jeder andere Deutsche mit der selben Last belastet bin, die die Deutschen auf sich geladen haben, obwohl ich mit Fug und Recht und reinen Gewissens sagen kann, ich habe nie einem Russen oder Ukrainer, keinem Jude oder sonst wem etwas zuleide getan. Aber trotzdem trage ich diese Schuld mit, ich fühle mich mitverantwortlich. Ich finde schon, Deutscher zu sein ist etwas. Also ich fühle mich als Deutscher, wie soll ich es nennen? Stolz wäre schon zu viel gesagt. Aber ich empfinde diese Schwierigkeiten, die wir jetzt in Deutschland haben. Ich trage diese Probleme mit mir, und damit weiß ich, dass ich Deutscher bin. Ich fühle mich mitverantwortlich für all das, was in diesem Deutschland geschah und geschieht.

Gaus: Schrecklich zu sagen, dass eine Definition, die Ihnen zu allererst oder zu allerletzte einfällt, die ist, Deutscher zu sein heiße, Problem zu haben mit sich...
Die neuen Hoffnungen aus alten Sehnsüchten: 1945 – Friede, Sozialismus. Wider Erwarten ist bis heute der Friede zwischen West und Ost – jedenfalls in Mitteleuropa – erhalten geblieben. Und die andere Hoffnung, die viele Menschen, gerade auch junge wie Sie, Albert Hetterle, damals hegten, die hoffnungsfrohe Erwartung in den Sozialismus hat getrogen. Bitte benennen Sie, was für Sie nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg Sozialismus sein sollte.

Hetterle: Sozialismus sollte vor allen Dingen nach dem Zweiten Weltkrieg ein Leben ohne Krieg sein. Sozialismus sollte für mich sein ein Leben ohne Angst. Sozialismus sollte sein ein Leben in einer gerechten Gesellschaft. Sozialismus sollte sein für mich Humanismus der Menschen untereinander, einer für den anderen einstehend, Toleranz sollte im Umgang miteinander herrschen und noch vieles mehr. dass das nicht eingetreten ist, macht mich sehr traurig.

Gaus: Sie sagen, es ist nicht eingetreten. Vom Krieg, den es nicht gegeben hat, abgesehen ... Ich greife jetzt einmal vor: Haben Sie gegen Ende des Lebens das Empfinden, aus den guten Vorsätzen sei wenig oder gar nichts geworden, bestenfalls sei das Leben ein Auf-der-Stelle-Treten gewesen? Oder ist Ihnen eine Hoffnung geblieben?

Hetterle: Nein, mir ist eine Hoffnung geblieben. Ich glaube, es war kein Auf-der-Stelle-Treten, sondern ein Gehen in eine falsche Richtung. Und es war ein Stolpern, kein zielgerichtetes Gehen. Ein Verkennen der Realitäten, eine geheuchelte Demokratie. In den Verfassungen der DDR standen Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und, und, und. In Wirklichkeit gab es die aber nicht. In diesem Widerspruch lebten viele Menschen, auch ich, die immer wieder gesagt haben: Das kann doch nicht möglich sein, dass es das nicht gibt. Ich glaube aber, dass die Idee...

Gaus: ... jetzt kommt die Hoffnung …

Hetterle: ... von einer besseren Gesellschaft, wie auch immer, in welcher Form auch immer, von den Menschen wieder gesucht und aufgegriffen und wieder der Versuch gemacht wird, diese Idee zu verwirklichen.

Gaus: Die Gesellschaft, in der Sie jetzt leben, erfüllt für Sie diesen Anspruch nicht?

Hetterle: Nicht in dem Umfange, wie ich mir es vorstelle, wie ich mir es wünsche. Ich meine schon, dass der Sozialismus pur, wie ihn die bärtigen Männer aufgeschrieben haben, nicht zu realisieren ist. Man Muss die zeitlichen Gegebenheiten, wenn man sich auf diese Theorien beziehen will, mit der Realität immer in Übereinstimmung bringen. Aber genau so, wie dieser Sozialismus nicht dorthin führte, wo die Menschheit hin sollte, wird auch nicht der Kapitalismus dorthin führen. Ich glaube nicht, dass das der Weg ist. Ich weiß, dass es in dieser Gesellschaft etwas mehr Demokratie gibt als im Sozialismus, obwohl sie auch schon wieder hier und da geschickt eingeschränkt wird.

Gaus: Was fehlt denn dieser Gesellschaft am meisten, damit sie dem näher kommt, was Ihr Vorsatz war nach dem Krieg?

Hetterle: Dieser Gesellschaft fehlt am meisten Humanität.

Gaus: Denken Sie, hoffen Sie, das man den Nachwachsenden, den Nachdrängenden Erfahrungen vermitteln und weitergeben kann?

Hetterle: Ich bin davon überzeugt. Ich bin aber gleichzeitig davon überzeugt, dass das oft nur wenig fruchtet. Aber: Steter Tropfen höhlt einen Stein. Wenn wir die Erfahrungen vorangegangener Generationen nicht verwerten würden wie die kommenden Generationen unsere Erfahrungen verwerten, egal ob sie schlecht oder gut waren, und daraus Schlüsse ziehen für ihre Zukunft, für ihr Weiterleben, dann wäre es um die Menschheit schlecht bestellt.

Gaus: Na vielleicht ist es um die Menschheit schlecht bestellt?

Hetterle: Es ist sicher nicht so gut um die Menschheit bestellt, wie wir es gerne hätten, aber ich glaube doch – da halte ich mich an Goethe und seinen „Faust“ -: Das Gute setzt sich ab und an mal gegen das Böse durch.

Gaus: Sie sind nicht zu retten. Sie glauben, dass der Mensch gerettet wird?

Hetterle: Ich hoffe es.

Gaus: Sie glauben es.

Hetterle: Ich glaube es.

Gaus: Nach der Antwort ist die nächste Frage, die ich mir notierte habe, fast gar nicht mehr zu stellen, weil die Antwort nahe liegt. Dennoch stelle ich sie. Albert Hetterle, der gesellschaftspolitische Theatermann. Die Bühne als moralische Anstalt. Das Theater als Ort, den Menschen als gesellschaftliches Wesen zu erheben, zu veredeln, ihm ein Bewusstsein seiner selbst und der Bedingungen seines Seins zu vermitteln. Bekennen Sie sich, nach allem, was gewesen ist, uneingeschränkt zu dieser, im Kern Schillerschen Auffassung vom Theater?

Hetterle: Wenn das nicht so wäre, wäre Theater sinnlos. Und ich halte Theater für sehr sinnvoll. Ich bekenne mich dazu.

Gaus: Ohne Einschränkung?

Hetterle: Ohne Einschränkung.

Gaus: Aber die Leute gehen nicht mehr ins Theater.

Hetterle: Doch, sie gehen wieder. Sie gehen jetzt wieder mehr ins Theater als vordem Ich weiß, dass der größte Teil unserer Zuschauer, des Gorki-Theaters, zurzeit aus dem Westteil der Stadt kommt. Wir sind sehr glücklich und froh darüber. Das geschieht zum Teil aus Neugier, das geschieht, glaube ich, weil wir etwas zu bieten haben in unserem Haus. Aber auch die Ostdeutschen, die Ostberliner, fangen wieder an, mehr ins Theater zu gehen. Wenn ich eine Zahl nennen darf: Unsere Auslastung lag vor den Ferien bei 60 Prozent, jetzt liegen wir bei 78 Prozent.

Gaus: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Hetterle: Die Leute wollen wieder Theater sehen, und das schreiben sie uns auch: Sie waren soundso lange abstinent, und jetzt müssen sie wieder gehen. Die zweite Erklärung dafür ist: Wir dürfen Preisermäßigungen gestatten, die auch vielen älteren Leuten wieder die Möglichkeit geben, ins Theater zu gehen. Diese älteren Leute gehörten zum großen Teil auch zum Stammpublikum in unserer Vergangenheit. Und dann, da ich jetzt durch die Presse gezogen worden bin, ist das Theater wieder interessant geworden für viele Leute...

Gaus: ... ob der Hetterle Intendant bleibt oder nicht...

Hetterle: Und was der da macht, wenn er selber spielt. Natürlich macht das auch neugierig.

Gaus: Während wir dieses Interview produzieren, wissen wir nicht, was der Innensenator des vereinigten Berlins, Herr Heckelmann, befinden wird über die Verlängerung Ihres Intendantenvertrages. Oder wissen Sie es inzwischen?

Hetterle: Nein, ich weiß es nicht.

Gaus: Wenn er nicht verlängert, sagen Sie dann: Er bestraft Gesinnung, und er – denn anderes kann er mir nicht vorwerfen – benutzt als Hilfskonstruktion: Ich Muss gehen, weil Leute, die in der SED waren und weniger waren als ich, auch schon gegangen wurden. Würden Sie sagen, dass dieses dann Ihr Vorwurf an Heckelmann ist, oder geht Ihnen das zu weit?

Hetterle: Nein, das geht mir nicht zu weit, ich fände es nur sehr bedauerlich. Ich finde es sehr bedauerlich, dass jetzt in diesem Deutschland die Dinge so gehandhabt werden. Ich sehe es als einen Fehler an, wenn man sich mehr für ein Parteiabzeichen oder eine Parteizugehörigkeit interessiert als dafür, um was für einen Menschen es sich handelt. In jeder Partei gibt es solche und solche. Ich bedaure sehr, dass nicht differenziert wird. Wer diese Differenzierung als Politiker nicht macht, Muss immer in die Irre gehen.

Gaus: Ich bleibe noch ein bisschen bei der Thematik – ich hatte das vorhin schon angekündigt –, bei der das Scheitern guter Absichten, das Misslingen so nahe liegt. Wobei Sie aber sagen: Nein, nein, mir blieb die Hoffnung und ich stehe uneingeschränkt zu dem Theater als der moralischen Anstalt. Es gibt viele Zitate von Ihnen, die das belegen. Sie sagen Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Veränderungswillen durchsetzen sei eine Aufgabe des Theaters. Theater müsse wehtun, der Theaterkünstler müsse gesellschaftlich gebraucht werden. Ein wenig kann man sich fürchten vor dieser Besessenheit, ich will nicht Fanatismus sagen. Ich weite das mal aus, Herr Hetterle, ich gehe weg vom Theater. Kann man sagen, dass die DDR unter anderem eine gut gemeinte Erziehungsdiktatur gewesen ist, dass der Sozialismus, wo er bisher real wurde, dem Menschen zu seinem Glücke, und sei es mit Hilfe des Theaters zwingen wollte?
Und kann es sein, dass ein Problem unserer Zeit darin besteht, dass ein Mensch wie Sie, ein Aufklärer nach Gesinnung, nach Begabung, nach Bedürfnis, an der Aufklärung festhalten will, obwohl alle Erfahrungen dafür sprechen, dass die Ratio der Aufklärung weggespült wird von den Emotionen der Menschen, wenn es ernst wird? Kann es sein, dass ein Problem ist, dass wir keine andere Antwort bisher wussten, als: Da Muss man die Menschen eben zu ihrem Glücke zwingen? Und ist es nicht besser, dass man sie dann lieber glücklos, aber auch ohne Zwang lässt?

Hetterle: Nein, nein das ist nicht gut. Sie dazu zwingen ist nicht gut.

Gaus: Hat man das denn nicht versucht?

Hetterle: Ja, das hat man versucht, und es ist nicht gelungen, das wird auch nicht gelingen. Sie in ihrer Ratlosigkeit zu lassen ist genauso falsch. Ich glaube schon, dass man mit – Sie haben Aufklärung gesagt, bleiben wir dabei – Theaterspielen allein keine Gesellschaft umkrempeln kann, das kann man nicht. Aber man kann dazu beitragen. Und ich glaube, dass gute Beispiele von Politikern, die eine Gesellschaft zu einem Ziel hinführen wollen, wie ich es mir vorstelle, Einfluss ausüben können, wenn sie berücksichtigen, was einem Menschen zuzumuten ist und was nicht. Und immer davon ausgehen, für den Menschen oder für die Gesellschaft das Beste zu wollen. Jetzt werden Sie wieder sagen, dass ist einer, der da also ... Gut, bin ich, und ich glaube nach wie vor daran, dass das möglich ist – bei aller Scheußlichkeit und Boshaftigkeit, die ja in uns Menschen steckt.

Gaus: Seit 1968 sind Sie Intendant des Maxim-Gorki-Theaters, an dem Sie seit 1955 als Schauspieler und gelegentlich auch als Regisseur gearbeitet hatten. Wer sich auskennt sagt von Ihnen: Albert Hetterle war ein couragierter Intendant in der DDR. Sie haben konsequent gesellschaftskritische Stücke auf die Bühne gebracht, ich erwähne als ein Beispiel nur „Die Übergangsgesellschaft“ von Volker Braun. Daraus ergeben sich mehrere Fragen. Wie sind Sie mit der Zensur umgegangen? Erzählen Sie bitten an Beispielen oder allgemein, wie Sie mit der zensierenden, der kontrollierenden Apparatur des Kulturministeriums und der Partei verfahren ist.

Hetterle: Wenn wir ein Stück entdeckt hatten oder ich ein Stück entdeckte, von dem ich überzeugt war, dass dieses Stück unbedingt inszeniert werden musste, weil es den Sozialismus dort kritisierte, wo es am schmerzhaftesten ist, und dort kritisierte, wo er zu kritisieren war, wenn er besser werden sollte, dann haben wir die Fühler ausgestreckt nach drei Richtungen: Ministerium für Kultur, Bezirksleitung der SED ...

Gaus: ... zu der Sie gehörten...

Hetterle: ... zu der ich gehörte, und zum Magistrat. Und wir mussten dann immer Analysen machen von dem Stück und begründen, warum wir es spielen wollten, und was in dem Stück vorgeht usw., usw. Da diese Analysen meist die maßgeblichen Leute, also der Minister für Kultur oder der Stadtrat für Kultur oder der Erste Sekretär der Bezirksleitung, nicht lasen, dafür hatten die ihre Leute, musste man zu diesen Leuten einen guten Draht haben. Wir haben diese Analysen stets so abgefasst, dass das, was wir vorhatten, dem Sozialismus diente und ihn nicht kaputtmachte. Wir hätten nie und nimmer manche Stücke auf den Spielplan bringen können, wenn wir nicht Verbündete gehabt hätten, die wir davon überzeugten, das es richtig und notwendig war, das und das zu spielen.

Gaus: Haben Sie immer verstanden, warum es diese Praxis geben musste – wegen der Gefährdung des Staates, der Lehre der Partei, wegen des Kalten Krieges haben Sie es immer verstanden, oder...

Hetterle: Sie meinen die Zensur?

Gaus: Ja.

Hetterle: Ich fand die scheußlich. Die musste es nicht geben. Wenn einem Theater nicht überlassen bleibt, was es wann wie spielt, ist das eine derartige Einschränkung, ein Eingriff, gegen den man sich wehren Muss. Das Theater hat mit diesen Mitteln versucht, sich dagegen zu wehren. Wissend, das auch Kompromisse gemacht werden mussten.

Gaus: Viele sind gegangen, Hetterle hätte gehen können. dass Sie dennoch – wissend, dass die Zensur nichts Gutes bewirkt – weitergemacht haben, hat das damit zu tun, dass Sie mit ihrem Lebenslauf länger als es nötig und richtig gewesen wäre, bereit waren, auch Fehler mitzumachen? Sahen Sie das alles immer noch als eine Abwehr des Vorangegangenen an, für eine Überwindung des Vorangegangenen, als Abwehr, dass es künftig nicht wiederkommen möge?

Hetterle: Das ist ein Teil der Antwort. Der andere Teil der Antwort ist vielleicht noch bestimmender: Ich kann nicht aufgeben.

Gaus: Werfen Sie sich nachträglich vor, dass Sie nicht gegangen sind?

Hetterle: dass ich nicht gegangen bin, werfe ich mir nicht vor. dass ich nicht früher offener und öffentlicher meinen Protest artikuliert habe, sondern immer nur unter vier oder sechs oder acht Augen, das werfe ich mir sehr vor – selbst auf die Gefahr hin, dass ich dann hätte gehen müssen.

Gaus: Sie waren couragiert als Theaterintendant. Sie riskierten die Abweichung, wir haben davon gesprochen. Sie sagen jetzt, was Sie im real-existierenden Leben waren, war mehr angepasst als das, was Sie als Theaterintendant für Ihre Bühne waren. Und Sie haben gesagt, eine Erklärung war der Schrecken des Vergangenen. Woraufhin das Gegenwärtige der DDR sehr gesündigt hat, weil sie immer dieses vorgezeigt hat. Stimmen wir darin überein?

Hetterle: Ja.

Gaus: Dieses Angepaßter-sein im Leben als auf der Bühne – wie erklären Sie das, von Ihrem Auschwitz-Syndrom abgesehen.

Hetterle: Das mit dem Angepaßt-im-Leben, das stimmt nicht so.

Gaus: Widersprechen Sie?

Hetterle: Ja, ich widerspreche. Wir wussten uns, ich wusste mich eins mit vielen, vielen Leuten, die zu uns ins Theater gekommen sind und die in diesen Aufführungen, nicht nur in diesem Theater, ich will das nicht nur für uns in Anspruch nehmen, das haben andere Häuser, andere Theater auch gemacht, in Schwerin oder auch in Berlin ...

Gaus: Also nicht nur Ihr Theater, nicht nur in Berlin, sondern auch in der Provinz ...

Hetterle: … auch in der Provinz hat es das gegeben. Es gab Kraft und Mut, wenn die Menschen zu uns kamen und unsere Arbeit als eine Art Befreiung verstanden. Sie nannten die „Übergangsgesellschaft“, aber da hatten wir schon -zig andere Stücke mit ähnlich kritischen Inhalten gemacht. Die Foyergespräche und Reaktionen ermutigten uns.

Gaus: Stabilisierte das das System?

Hetterle: Glaube ich nicht. Das glaube ich nicht.

Gaus: Aber es reformierte das System nicht ausreichend genug, um seinen Zusammenbruch zu verhindern?

Hetterle: Das mag so sein. Aber schließlich und endlich haben die Theater, das wurde auch sichtbar bei der Demonstration am 4. November 1989, ihren Teil zur Wende geleistet.

Gaus: Die nachträgliche Kritik, vornehmlich aus Westdeutschland, sagt: Ihr habt immer nur geltend zu machen, dass Ihr das Schlimmere verhütet habt. Sie sagen jetzt: So nicht, wir haben das Leben erhalten, die Diskussion gefördert, wir haben die völlige Erstarrung verhindert. Was sagen Sie zu der Art, wie der Westen mit dem, was in der DDR gewesen ist, umgeht?

Hetterle: Leider ist das so, dass die Westdeutschen, weniger die Westberliner, die vierzig Jahre in einem anderen System gelebt haben, anders gelebt haben als die Ostdeutschen, zu wenig Verständnis besitzen für das, was hier gewesen ist. Es ist eine ignorante, zum Teil arrogante Haltung den Menschen gegenüber, die vierzig Jahre in der DDR gelebt haben. Und das ist für uns schmerzhaft. Stellen Sie sich mal vor, wir wären alle nach Westdeutschland gegangen und Honecker – wie heißt es in dem Witz? hätte als letzter das Licht ausgemacht. Wir haben uns, und ich mit, immer gegen dieses Feindbild gewehrt, das bei uns vom Westen aufgebaut wurde. Leider Muss ich feststellen, dass viele Westdeutsche ein solches Feindbild von uns haben. Und sie werden es nicht los. Und einige Politiker – fürchte ich – handeln auch nach diesem Feindbild, was sehr großen Schaden anrichten kann.

Gaus: Kann es sein, dass das auch nur Ausdruck von Ratlosigkeit ist?

Hetterle: Wenn ein Politiker ratlos ist, Muss er abtreten.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. In Volker Brauns Theaterstück „Die Übergangsgesellschaft“ haben Sie einen Altkommunisten gespielt. Über diese Rolle haben Sie nach der Wende 1990 gesagt: „Wilhelm Höchst ist Kommunist, aber einer, der keiner Herde folgt. Das hat mich fasziniert.“ Wäre Ihnen, was Sie über Höchst gesagt haben, eines Tages als Nachruf auf Albert Hetterle recht?

Hetterle: Ich denke schon.