Interview l Hirn trainiert Körper - Neuroathletik: Mit Hirntraining Bewegung verbessern
Bewegung entsteht im Gehirn und wird von da gesteuert - im Umkehrschluss heißt das: Wenn das Hirn nicht optimal lenkt oder es ihm an Informationen dazu mangelt, wird Bewegung "suboptimal" oder gar einseitig und schmerzhaft. Daraus folgt der Ansatz für neurozentriertes Training: Mit dem Hirn kann man den Körper fit machen. Wie das genau funktioniert, haben wir Dr. Margrit Lock gefragt, Sportmedizinerin aus Berlin-Friedenau.
Das Gehirn gewinnt über die Sinneseindrücke eine Einschätzung von der Lage des Körpers im Raum und dessen Zustand - darauf basieren sozusagen die Berechnungen für Bewegungsabläufe. Je nach "Datenlage" des Hirns kann diese Bewegung fehlerhaft oder auch nur "optimierbar" sein und durch falsche Bewegungsabläufe kann es auch zu Schmerzen in Muskeln oder Gelenken kommen.
Frau Dr. Lock, was ist die Grundidee der Zusammenarbeit von Muskeln und Hirn beim neurozentrierten Training bzw. der Neuroathletik, von der ja auch oft gesprochen wird?
Im Prinzip geht es darum, dass wenn wir eine bestimmte Bewegung machen wollen, sei es jetzt im Alltag in einer sportlichen Bewegung, dass der Körper erst mal ein paar Informationen braucht, damit er die richtige Bewegung anschließend planen und ausführen kann. Und dazu gibt es verschiedene Strukturen im Körper, die zuerst sicherstellen, dass wir Informationen über unsere Lage im Raum, über die Position der Gelenke, über die Position des Kopfes usw. bekommen. Diese Information geht zum Gehirn und da wird dann nach diesen ganzen Informationen ein Bewegungsplan gemacht. Und anschließend wird die Bewegung auf dieser Basis ausgeführt.
Im neurozentrierten Training ist dieser Aspekt eben in den letzten Jahren modern geworden, bzw. überhaupt erst zur Sprache gekommen. Und man hat festgestellt, dass manche unserer Sinne gar nicht so gut ausgeprägt sind [und dass man auf neurologischer Basis für Bewegungsverbesserung dort ansetzen kann.] Wenn wir sozusagen einen Fokus auf die Arbeit der Sinne legen, dann hat der Körper mehr Informationen über seine Lage und seinen Status und macht eine bessere Planung und ein besseres Ausführungskonzept für die Bewegung, die er anschließend gerne machen möchte.
Wenn das Gehirn zu wenig Informationen [zur Bewegungsplanung] zur Verfügung hat oder nur lückenhafte Informationen, dann ist die Planung einfach auch nicht besonders gut.
Das klingt erst einmal, als sei das "Analysetool" Gehirn sehr anfällig für Fehler.
Wenn man jetzt aber vielleicht den Profisport außer acht lässt, wo kleinste Bewegungsfehler große Auswirkungen haben können, dann erleben doch die meisten Menschen ihre Bewegungen in Alltag oder beim Hobbysport schon als gut oder jedenfalls sicher. Liegt das an der großen "spontanen Anpassungsfähigkeit" von Körper und Gehirn?
Genau. Der zweite Aspekt dabei ist, dass bestimmte Sinne sozusagen dann auch ein bisschen verkümmern auf die Dauer. Jetzt, wo noch viele Leute im Homeoffice arbeiten und ihnen die Bewegung fehlt, sage ich das oft zu Patienten: Es fehlt ihnen jetzt vielleicht nicht nur die konkrete sportliche Aktivität, sondern [eine Vielfalt der Bewegung im Alltag]: aus dem Haus zu gehen, die U-Bahn-Treppen runterzugehen, in die Bahn zu steigen, wieder rauszukommen, bis zum Büro zu laufen. Das sind alles Momente, wo das Gleichgewichtssystem viel zu tun kriegt, wo unsere Augen viel zu tun bekommen und wo wir viele Rückmeldungen aus der Umgebung bekommen. Das trainiert unser Hirn und macht unser Hirn auch ein bisschen frischer, sozusagen.
Wenn dieses tägliche Training fehlt, wird auch das Bewegungsverhalten viel, viel schlechter. Und das sieht man bei den Leuten jetzt, nach dieser ganzen Homeoffice-Phase, dass sie mit Bewegung viel mehr Schwierigkeiten haben als vorher.
Neurologisch gesprochen geht es also um eine Art großes "Teamtraining" für Nerven verschiedenster Art - Koordination, Sinnesverarbeitung usw. - das dadurch entsteht, dass wir Lösungen für spontane "Probleme des Alltags" schnell finden müssen?
Ja genau. Also erstens durch überraschende Situationen, aber einfach auch durch vielfältige Anforderungen. Also Leute, die gerade nur vor dem Bildschirm sitzen und kaum das Haus verlassen - bei denen sind die Augen sehr gut trainiert und damit auch die entsprechenden Hirnareale sehr gut trainiert für das Gucken auf Objekte in 30 cm Entfernung. Was die Augen aber verlernen oder viel schlechter trainieren ist, sich hin und her zu bewegen, nach oben und unten zu gucken, in die Weite zu fokussieren. Und die entsprechenden Hirnareale, die dafür zuständig sind, verkümmern ein Stück weit.
Gerade in der Nähe dieser Nervenzentren, z.B. der Augen, gibt es aber eben auch Bereiche, die Bewegung steuern. Und wenn ein Teil der Augenleistungen sozusagen ein bisschen verkümmert, dann fehlt auch den Arealen, die daneben arbeiten, [einbindende] Aktivität neben sich. Und so werden auch sie schlechter trainiert.
Die Verbindung zwischen Gehirn und Bewegung, Sensorik und Motorik, wenn man so will, kann man ja für verschiedenste Zwecke nutzen. Im Profisportbereich zur Optimierung von Bewegung zum Beispiel. Oder während der Fußball-Europameisterschaft war das am Rande Thema bei Spielern, die Neuroathletik nutzen, um ihre Feldübersicht und Reaktionsgeschwindigkeit zu steigern.
Wie nutzen Sie neurozentriertes Training bei Ihren Patientinnen und Patienten, die nicht aus dem Profisport kommen? Was gibt es da für Möglichkeiten?
Ich mache das mit Patienten tatsächlich vor allen Dingen bei Schmerzzuständen. Also Leute, die starke Rückenschmerzen haben, z.B. den klassischen Hexenschuss: Sie haben sich morgens über der Badewanne die Haare gewaschen, kommen hoch und der Rücken tut fürchterlich weh. Anschließend kann man sich nicht mal mehr die Schuhe selber anziehen, weil der Schmerz viel zu stark ist.
In so einer Situation kann man Betroffenen nicht nur Schmerztabletten geben und sagen "Sie müssen sich vielleicht ein bisschen anders bewegen", sondern man kann zum Beispiel auch über gezielte Augenbewegungen ein Areal im Gehirn aktivieren, das nicht nur für das Beugen des Rückens zuständig ist, sondern auch vieler Gelenke. Man kann dieses Hirnareal so aktivieren, dass der Körper dann diese Bewegung wieder besser zulässt.
Das heißt: Ich kann einem Patienten eine Übung zeigen. Zum Beispiel, dass der einfach aufrecht steht - möglichst schmerzfrei erstmal steht. Und dann folgen z.B. beide Augen ganz in Ruhe meinem Finger - zehnmal nach oben und nach unten. Und durch die Bewegung der Augen wird [deren] Verarbeitungskern im Gehirn aktiviert. Neben dem Augenkern liegt wiederum sozusagen ein Areal, was Nervenfasern in den Rücken und in die verschiedenen Gelenke gibt. Und wenn ich die Augen richtig aktiviere [ist durch diese Stimulation der Nachbarnerven im Gehirn] hinterher der Patient besser in der Lage wieder eine Vorbeuge zum Beispiel auszuführen - ohne dass ich ihn diese Vorbeuge habe üben lassen, denn das [physische] Üben wäre ja jetzt gerade ganz besonders schmerzhaft.
Das heißt, ich kann also über ganz andere Wege an Schmerzen herangehen - auch ans Schultergelenk z.B. rangehen, an die Halswirbelsäule, ohne dass ich an dem Gelenk selber "üben" muss.
Also es wird wirklich über das Gehirn allein der Körper "trainiert", bzw. mindestens ein anderes Bewegungsmuster gefunden, das nicht schmerzt? Kann ich mir das wie eine Neuberechnung der Bewegung vorstellen?
Genau, man kann sozusagen an anderer Stelle trainieren. Wenn wir beim Hexenschussbeispiel bleiben - da ist es eben tatsächlich so, dass oft die Rückenmuskulatur eigentlich zu schwach (geworden) ist durch unser Alltagsleben. Und bei der plötzlichen Bewegungsfolge "Haare kopfüber waschen und wieder hochkommen", sind die Muskeln in dem Moment darauf nicht eingestellt. Dann wird Schmerz ausgelöst, die Muskeln verspannen sich maximal und lassen auch nicht mehr locker. Man sieht das Betroffenen schnell an, [die Schonhaltung], sie stehen wie verschoben, die Schultern stehen nicht mehr gleichmäßig über dem Becken.
Diese Rückenmuskeln schaffen es sozusagen nicht mehr locker zu lassen. Und wenn ich jetzt über Augenmuskeln arbeite, gebe ich diesen Muskeln darüber den Input, dass sie wieder mehr lockern dürfen, dass die Bewegung, die zur Verspannung geführt hat, vorbei ist.
Also Sie helfen dem Gehirn der/des Betroffenen das Signal an die Muskeln zu senden: die Überforderung ist vorbei - der Alarm ist vorbei?
Damit entspannen sich die Muskeln und es ist eine größere Bewegungsfähigkeit für den Körper sozusagen da. Und dann kann man sich nach dem Hexenschuss wieder besser bewegen.
Wenn es jetzt nicht um ein konkretes Schmerzproblem geht, sondern z.B. darum mehr Beweglichkeit zu erlangen. Das ist ja auch fürs Alter sehr wichtig, um möglichst mobil zu bleiben, Stürze zu verhindern usw. - wie kann neurozentriertes Training da konkret helfen? Und kann es z.B. schon nutzen meine "schwache Seite" mehr einzubinden - also als Rechtshänder wäre das bei mir meine linke Seite?
Wichtig ist, dass man einmal den Status quo erfasst. Oder wie es heißt: "Wenn ich es nicht getestet habe, dann rate ich einfach nur". Das heißt, am Anfang muss immer eine Prüfung stehen: Wie stark ist mein Bein? Wie stark ist mein Arm? Oder wie schlecht mache ich eine Schreibbewegung mit der linken Hand gegenüber der rechten Hand?
Wenn ich dann z.B. bei einem Patienten sehe: Das rechte Bein ist deutlich schwächer oder stellt sich viel schlechter an bei einer bestimmten Bewegung - dann probiere ich einen bestimmten Reiz zu setzen. Und das muss man tatsächlich probieren, über welchen Reiz bekommt wer die beste Verbesserung: Schaffe ich das über bestimmte Trainings über die Augen? Schaffe ich das über Traingsveränderungen mit den Gleichgewichtsorganen? Kann ich das über taktile Reizsetzung erreichen, also an bestimmten Arealen mit der Hand, einem Igelball, einer Massagebürste oder so einen Reiz gebe?
Dann gucke ich anschließend noch mal, was sich beim Patienten verändert: Entwickelt der jetzt mehr Kraft? Kommt er besser in die Kniebeuge runter? Kann er besser auf einem Bein stehen? Was ich auf diese Weise an Dingen finde, die eine positive Antwort auslösen, das wird dann auch zur Hausaufgabe für den Patienten.
Hausaufgabe bedeutet dann doch auch wieder: Bewegungsmuster trainieren - aber eben andere, als bisher - oder?
Genau. Normalerweise würde man denken: Wenn jemand eine Kniebeuge beispielsweise nicht gut kann, dann soll er die zehn Mal trainieren, um besser zu werden. Aber vielleicht tun ihm auch bei den Kniebeugen die Knie weh, weil er nicht kräftig genug ist. Dann wird die Übung vielleicht gar nicht gemacht.
Wenn ich ihm aber aber ein Training zeigen kann, bei dem er keine Kniebeugen machen muss, aber trotzdem am Ende in Kniebeugen besser wird - dann hilft das.
Da gäbe es z.B. ein bestimmtes Gleichgewichtstraining, wo der Kopf schräg gehalten wird. Solche Bilder hat man vielleicht auch im Rahmen der Olympischen Spiele in Tokio jetzt gesehen, wo Leute zum Beispiel auf den Füßen wippen und den Kopf zur Seite geneigt haben. Und damit komme ich an bestimmte Gleichgewichtskerne im Gehirn sozusagen ran, die auch wieder Bewegung verbessern.
Wie funktioniert das auf der muskulären Ebene? Bzw. was funktioniert durch dieses Training besser?
Einerseits: Man stellt seinem Körper im Alltag einfach kleine Aufgaben, ohne dass man sich jetzt eine Sporthose anziehen muss. Z.B. das Fahrrad einfach mal auf der anderen Seite schieben oder auf die Leiter mit dem schwachen Fuß zuerst steigen - und das hat einen Trainingseffekt und der Körper wird einfach vielfältiger ausgebildet. Das heißt, auch wenn dann irgendetwas in den Bewegungsmöglichkeiten mal "ausfällt", kann der Körper viel besser auf andere Reserven zurückgreifen. Ich habe mehr Werkzeuge, die ich zur Hand habe, um irgendeine Aufgabe zu lösen.
Und als zweites ist toll, dass es in der Regel körperlich nicht so wahnsinnig belastend ist. Das heißt, dass auch jemand, dem es eben nicht gut geht, der ansonsten vielleicht Nebenerkrankungen hat usw., weshalb er oder sie jetzt nicht eine halbe Stunde spazieren gehen könnte beispielsweise - diesem Menschen kann man eben trotzdem Dinge an die Hand geben, die insgesamt seine körperliche Fitness oder seine Gesundheit verbessern und ihn da unterstützen. Und das eben auf dem Level, wo jeder gerade steckt.
Frau Dr. Lock, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Lucia Hennerici