Alfonsina Storni © Hildegard Keller
Hildegard Keller
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Vergessene Autorinnen wiederentdecken - Die Überlesenen: Alfonsina Storni

Das Frühjahr steht vor der Tür und mit ihm eine große Zahl neuer Bücher. Ob diese Bücher Bestand haben, das wird sich später zeigen. Wir nehmen die Frühlingsprogramme der Verlage zum Anlass zurückzuschauen. In unserer Reihe "Die Überlesenen" stellt Manuela Reichart vergessene oder unbekannte Autorinnen vor, die die Lektüre in jedem Fall lohnen. Heute geht es um die 1938 gestorbene argentinische Schriftstellerin Alfonsina Storni.

Zähne aus Blüten , die Haube aus Tau
Hände aus Kräutern, du, meine feine Amme
Bereite mein Bett, mit Laken aus Erde
Und einer dicken Decke aus gezupftem Moos

Ich gehe schlafen, meine Amme, deck mich zu,
Stell mir eine Lampe ans Bett,
Irgendein Sternbild, das dir gefällt
Alle sind recht, ein wenig näher bitte.

(Aus dem Gedicht "Ich geh schlafen" von Alfonsina Storni)

Zwei Tage nach dem Selbstmord der Dichterin veröffentlicht die argentinische Tageszeitung "La Nación" dieses letzte Gedicht von Alfonsina Storni. Sie hatte es noch zur Post gebracht, bevor sie ans Meer fuhr und sich dort wegen einer wieder aufgeflammten Krebserkrankung von der Mole stürzte.

Der Name Alfonsina - eine Art Kühlschrankmagnet

Bei uns kennt sie fast niemand: diese ungewöhnliche 1882 in der Schweiz geborene argentinische Dichterin. Ihre ausgewanderten Eltern waren damals gerade zu Besuch in der alten Heimat. In Argentinien ist sie bis heute berühmt – obwohl – sagt die Zürcher Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller, die das Gesamtwerk von Alfonsina Storni übersetzt und herausgibt: "Der Name Alfonsina ist eine Art Kühlschrankmagnet, er erinnert an das Lied von der Selbstmörderin, die ins Meer ging, und dieses Lied kennt jeder, weil es die große Mercedes Sosa gesungen hat. Was man nicht kennt, ist das große Werk der Künstlerin namens Alfonsina Storni. Das muss wiederentdeckt werden."

Provozierend

Alfonsina Storni hat Gedichte und Theaterstücke geschrieben, für Kinder und für Erwachsene, Essays und Zeitungskolumnen; sie war eine ungemein vielseitige und vielseitig interessierte Autorin. Sie hat über Frauen und Männer geschrieben, etwa in einer ihrer Kolumnen, in der sie das Frauenproblem geradezu nebenbei löst, indem sie betont, es ginge eigentlich nur um Selbstbestimmung und vor allem darum, dass die Frauen sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssten. Die hergebrachte Familie würde sich jedenfalls zurecht in einer Krise befinden.

Das war 1920 in einem südamerikanischen Land eine ziemliche Provokation.

Sie selber hat nie geheiratet, zog ihren Sohn ohne Vater auf.

Sie war auch Lehrerin, leitete eine Weile lang eine Internatsschule, sie führte Regie, gab Schauspielunterricht, war Reporterin, hielt Vorträge. Ihre Lyrikbände wurden hoch ausgezeichnet. Sie war eine öffentliche Person in Argentinien, wurde nach ihrer Meinung gefragt. Es gibt viele Interviews mit ihr.

Was zeichnet diese Autorin, die Person vor allem aus?

Hildegard Keller: "Mut und Fantasie, eine kämpferische Intelligenz und eine tiefe Humanität, in deren Dienst auch die Kunst steht. Kunst verfeinert ein menschliches Wesen und befähigt es zur Liebe, sagte Alfonsina Storni nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Die Liebe ist die einzige Empfindung, die das Leben rechtfertigt, auch wenn die Menschen durch die die Liebe strömt, sie immer wieder verraten."

Wegbereiterin moderner lateinamerikanischer Frauenliteratur

Alfonsina Storni gilt heute als Wegbereiterin moderner lateinamerikanischer Frauenliteratur. In Lateinamerika sind Straßen und Plätze, Bibliotheken und Schulen nach ihr benannt.

Bei uns ist sie immer noch eine Unbekannte. Dass sich das ändert, dafür sorgt Hildegard Keller in ihrem Verlag "edition maulhelden". Fünf Bände hat sie herausgebracht und übersetzt. In der Einleitung zum Band "CHICAS – Kleines für die Frau", der Zeitungskolumnen dieser klugen Autorin versammelt, schreibt der Schweizer Philosoph Georg Kohler:

"Man kann Alfonsina nicht lesen, ohne von ihr verführt zu werden – aber zu was eigentlich? Bewundern tun wir sie ohnehin; für die knappe Eleganz, mit der sie das 'perfekte Bürofräulein', die 'Tänzerinnen von Buenos Aires', die 'Lehrerinnen', das 'Mädchen mit dem Schirm' beschreibt. Für die blitzende Härte, den nie höhnischen, aber immer erbarmungslos wahrhaftigen Sarkasmus, die verschwiegen lächelnde, nie auftrumpfende Klarheit ihrer Kolumnen; geschrieben 'Für die Frau' – und für alle, die denken und auch ungesagt-wortlos Erscheinendes zu hören und zu sehen imstande sind. Für alle also, die sich ihrer ganz und gar menschenfreundlichen Intelligenz nicht verweigern."

Manuela Reichart, rbbKultur