Saša Stanišić: "Wolf" © Carlsen Verlag
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Kinderbuch | Ab 11 Jahren - Saša Stanišić: "Wolf"

Bewertung:

Für seinen Roman "Herkunft" wurde Saša Stanišić 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Auch seine anderen Romane sind preisgekrönt, darunter "Vor dem Fest", für den er den Preis der Leipziger Buchmesse bekam. In den letzten Jahren hat Saša Stanišić begonnen, auch für Kinder zu schreiben. Zuerst zusammen mit der Illustratorin Katja Spitzer "Hey, hey, hey, Taxi" ein Kinderbuch mit Taxigeschichten für Kinder ab vier, das für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war. Jetzt ist mit "Wolf" sein erster Kinderroman erschienen, mit dem Saša Stanišić endgültig beweist, dass er auch für Kinder schreiben kann.

Es geht ums Anderssein, um Ausgrenzung und letztendlich um Mobbing. Saša Stanišić erzählt davon sensibel und trotz des harten Themas im leichten Ton. Stellenweise wird es richtig lustig, was vor allem an seinem Sprachwitz liegt. Und er hat ein perfektes Setting für eine Geschichte über Mobbing gewählt. Denn sein Roman spielt in einem Ferienlager im Wald. Ziemlich beklemmend, wenn man sich vorstellt, hier nicht so leicht wegzukönnen und seiner Gruppe ausgeliefert zu sein.

Bäume mag er nur als Schrank

Kemi, der Ich-Erzähler, hat absolut keine Lust auf dieses Ferienlager. Weil seine alleinerziehende Mutter arbeiten muss und auch seine Oma keine Zeit hat, wird er aber trotzdem für eine Woche hingeschickt. Genauso wie fast alle aus seiner Klasse. Und genau wie in der Schule, beginnt schon beim Warten auf den Bus die Grüppchenbildung. Die Netten stehen zusammen, die Sportlichen, die Zocker und die Pferdemädchen. Und natürlich gibt es in einer Geschichte übers Mobben auch drei Fieslinge: Marco und die Dreschke-Zwillinge.

Jörg ist noch ein bisschen "andersiger"

Kemi gehört zu keiner dieser Gruppen dazu. Er ist anders als andere Gleichaltrige. Er interessiert sich für andere Dinge und redet anders. Die meisten Kinder finden ihn deshalb seltsam. Man könnte leicht auf die Idee kommen, dass Kemi das Mobbing-Opfer in dieser Geschichte ist. Und wahrscheinlich wäre er das auch, wenn es nicht Jörg geben würde. Denn Jörg ist – um mit Kemis Worten zu sprechen – noch ein bisschen "andersiger" als er. Oder wird er nur "andersig" gemacht?

Manchmal reicht es, "Jörg" zu heißen

Während Kemi beobachtet, wie Jörg von den anderen Kindern im besten Fall ignoriert und im schlimmsten Fall drangsaliert wird, macht er sich viele Gedanken darüber, was jemanden zum Mobbingopfer macht. Wie beliebig die Gründe dafür sein können. Dass es manchmal schon reicht, "Jörg" zu heißen. Und dass es niemals die Schuld des Gemobbten ist, anders oder "andersiger" gemacht zu werden, sondern immer die der Mobber.

Im Gegensatz zu Kemi freut Jörg sich eigentlich auf das Ferienlager. Er liebt die Natur und das Wandern. Mit seinem Vater macht er regelmäßig Wanderausflüge und bringt von jedem einen neuen Anstecker für seinen alten Wanderrucksack mit. Ausgerechnet diesen schmeißen seine Peiniger bei einem Ausflug ins Wasser und bis auf einen gehen dabei alle Anstecker verloren.

Glaubwürdige Geschichte mit wichtiger Botschaft

Kemi ist hin- und hergerissen. Er durchschaut die ganze der Dynamik der Grüppchenbildung und der Ausgrenzung viel besser als die erwachsenen Betreuer, die das Mobbing nicht ernst genug nehmen und den Kindern raten, ihre Konflikte doch erstmal allein zu klären. Und trotzdem dauert es lange, bis er seine Beobachterrolle irgendwann ganz zaghaft verlässt und Jörg beisteht. Denn ihm ist klar, dass er eigentlich genau so ein Außenseiter ist wie Jörg, und auf eine gewisse Art ist er froh, dass Jörg den ganzen Hass abkriegt, der sich sonst vielleicht gegen ihn richten würde.

Nachts quälen ihn deshalb Albträume, in denen immer wieder der titelgebende Wolf auftaucht, der für Kemis Angst und seine innere Zerrissenheit steht und sich auch in Regina Kehns fantastischen schwarz-gelben Illustrationen durchs Buch zieht. Die Geschichte macht seine Zögerlichkeit umso glaubwürdiger. Denn zum Mobbing gehört ja immer auch das Wegsehen und Schweigen der Mehrheit. Das ist die Botschaft dieses tollen Kinderbuchs.

Sarah Hartl, rbbKultur