documenta fifteen | 18.6. - 25.9.2022 - Andere Spielregeln bei der documenta und ein Skandal

Die documenta gilt als der wichtigste Gradmesser der Kunst weltweit. Erstmals seit ihren Anfängen 1955 wird die "Weltkunstausstellung" in diesem Jahr von einer Gruppe verantwortet: der Künstler:innengruppe Ruangrupa aus Indonesien. Dass sie vieles anders machen würden als ihre Vorgänger:innen, zeichnete sich schon lange ab. Aber es gab auch schon lange Antisemitismus-Vorwürfe.

Seit Monaten gab es Warnungen, einige Mitglieder von Ruangrupa würden der Israel-kritischen BDS-Bewegung nahestehen, was Antisemitismus befürchten lasse. Spätestens als kurz nach der Eröffnung der documenta fifteen auf einem großformatigen Banner des indonesischen Kollektivs Taring Padi tatsächlich antisemitische Darstellungen entdeckt wurden, war der Skandal perfekt.

Kunst machen und sich politisch engagieren

Die documenta fifteen ist angetreten, Gemeinschaft und Miteinander zu feiern. Sinnbild dafür ist "Lumbung", womit in Indonesien eine Reisscheune gemeint ist: ein Ort, der kollektiv genutzt wird für den Ernte-Überschuss und von dem auch die profitieren, die selbst nichts beisteuern können.

Lumbung wurde von Ruangrupa zum zentralen Begriff ihrer documenta erklärt. Auch hier soll es ums Teilen, um Gemeinschaft und Nachhaltigkeit gehen – nicht nur in der Kunst. Und so ähnelt das Ganze auch mehr einem Festival - inklusive Open Air Kino, Konzerten und "Nongkrong", was im Slang der indonesischen Hauptstadt Djakarta so viel bedeutet wie "sich treffen", gemeinsam "abhängen".

Die Kommunikations-Strategie ist bezeichnend: Mit dieser "Indonesierung" bestimmter Schlüsselbegriffe signalisiert Ruangrupa, dass sie diese documenta umformen: Statt Spitzen-Kunst und Höchstleistungen geht es ihnen ums Miteinander und Mitmachen und darum, voneinander zu lernen. Gemeinschaftlichkeit soll praktiziert und demonstriert werden. Documenta fifteen ist eine Plattform insbesondere für Kollektive aus dem globalen Süden – für Gruppen, die oftmals nicht nur selber Kunst machen, sondern sich auch sozial und politisch engagieren.

Der Skandal

Das gilt auch für die indonesische Gruppe Taring Padi, ein Kollektiv, das sich nach dem Sturz des Diktators Suharto Ende der 1990er Jahre gründete. Taring Padi sieht Kunst als Katalysator sozialen Wandels, engagiert sich für Menschenrechte, will "organisieren, bilden und agitieren". Auf dem zentralen Friedrichsplatz u.a. hatten sie zur Illustration ihrer Arbeit eine halbe "Armee" aus bunt bemalten Pappkarton-Puppen aufgestellt, nebst einem großformatigen Banner, das erst kurz nach der offiziellen Eröffnung der documenta gehängt wurde.

Als man auf diesem "Wimmelbild" antisemitische Klischees entdeckte – einen Mann mit Haifisch-artigen Raffzähnen, Schläfenlocke und Hut mit "SS-Runen" sowie eine schweinsgesichtige Figur mit dem Namen des israelischen Geheimdienstes "Mossad" auf dem Kampfhelm – wurde es erst schwarz verhüllt und schließlich abgehängt. Taring Padi entschuldigte sich, weist aber in einem Statement auf der Webseite der documenta fifteen darauf hin, dass die überzeichnende Form des 2002 entstandenen Bildes sich nicht "Hass gegen eine bestimmte ethnische oder religiöse Gruppe" verdankt, sondern unter dem Eindruck der Straßenkämpfe entstand, die 1998 Suharto zwangen, abzutreten – und denen viele ihrer Freund*innen zum Opfer gefallen waren.

Dass ihnen und vor allem auch dem kuratorischen Team um Ruangrupa nicht klar war (und offenbar auch nicht hinreichend klar gemacht wurde), welche Reaktion solche eindeutigen antisemitischen Bildformeln in Deutschland auslösen mussten (noch dazu in einer öffentlich geförderten Ausstellung), führte zu Rücktrittsforderungen quer durch die Reihen der Verantwortlichen - und die Institution documenta in eine schwere Krise mit – einstweilen noch – ungewissem Ausgang.

Webdoku

Andere Spielregeln

Im Sturm der Antisemitismus-Debatte geriet weitgehend aus dem Fokus, was diese documenta eigentlich vermitteln wollte, nämlich andere "Spielregeln". Sie will dem "Globalen Süden" Gehör und Deutungshoheit verschaffen, nicht hierarchisch, nicht kontrollierend sein und statt künstlerischer Exzellenz die Energie und die Möglichkeiten des Kollektivs feiern.

Dabei offenbart sie aber auch Grenzen des Verstehens. Ob Agit-Prop à la Taring Padi oder die Dokumente, Fotos oder Videos, die die Arbeit zahlreicher anderer Kollektive vermitteln sollen: Allein mit Verständnis-Bereitschaft ist es nicht immer getan. Wenn der Kontext unklar bleibt, ist Miss- oder Unverständnis vorprogrammiert. Das gilt für Besucher wie offenkundig auch für die Produzenten, wie Taring Padi jetzt in Deutschland erleben musste.

Verweigert oder gescheitert?

Der "Antisemitismus-Skandal" sticht genau ins Herz dieser documenta. Denn angesichts der deutschen Geschichte und des öffentlichen Drucks war die Entfernung eines Banners mit antisemitischen Motiven zwar alternativlos, doch nehmen damit erneut "wir" im "Globalen Norden" die Deutungshoheit, was geht und was nicht, an uns. Das Muster, das diese documenta unterbrechen wollte, bleibt bestehen.

Was sie darüberhinaus an Prozessen anstossen, wie "nachhaltig" sie sein und ob sie damit ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden kann, bleibt abzuwarten. Sie an Kunst-immanenten Maßstäben messen zu wollen, wäre auch ohne Skandal verfehlt gewesen, denn von Anfang an verweigerte sie den gewohnten Überbietungswettbewerb, demzufolge die documenta alle fünf Jahre das Herausragendste, Relevanteste in der Kunst vorzuführen (und damit auch einen begierigen Kunstmarkt zu füttern) hat.

Dafür schien sie unter Ruangrupa einen anderen Pfad einzuschlagen, der inzwischen ebenfalls gang und gäbe ist: Kunst als Labor für Weltrettungsansätze. "Lumbung" sei nicht die Lösung aller Probleme, sagte ein Mitglied der Gruppe zum Auftakt dieser documenta – wohl kaum ahnend, wie bitter sich das bewahrheiten sollte. Wenn die Kasseler "Weltkunstausstellung" immer schon ein Seismograph sein und "den Zugang zum Erkennen des Zustands der Welt auf unterschiedliche Weise" ermöglichen sollte, dann – soviel zumindest steht fest - erfüllt sie diese Rolle auch diesmal.

Silke Hennig, rbbKultur