Tagebuch (7): Ukraine im Krieg - "Man konnte zur Kochstelle laufen, umrühren und sich wieder verstecken"

Sa 16.04.22 | 18:12 Uhr | Von Natalija Yefimkina
Tagebuch: Ukraine im Krieg. Journalistin Tatjana (Quelle: privat)
Audio: rbb24 Inforadio | 11.04.2022 | Kriegsreporterin Tanja | Bild: privat

Tanja ist eine erfahrene Kriegskorrespondentin. Über Wochen ist sie im belagerten Mariupol eingeschlossen. Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

Die Regisseurin Natalija Yefimkina lebt in Berlin, sie hat ukrainische Wurzeln. Seit Beginn des Kriegs hält sie Kontakt zu vielen Menschen vor Ort. In diesem Tagbuch berichtet sie darüber, wie es den Menschen in der Ukraine geht, aber auch, was die Situation mit ihr macht.

Donnerstag, 14. April 2022, Berlin

Ich habe aufgehört, Briefe von Behörden zu beantworten. Ich muss mich zwingen, sie überhaupt zu öffnen. Meine Film-Projekte liegen auf Eis. Aber wenn eine ukrainische Verlegerin, Großtiere aus Charkiw rettet und Kontakte in Berlin sucht, eine ukrainische Friseurin ihre Berliner Retter nicht versteht oder ein Photograph ukrainische Künstler sucht, dann bin ich da. Ich regele, vermittle, schreibe Anträge. Hier kann ich schnell und gezielt helfen.

Zum ersten Mal wird mir klar, wozu ich so viele unterschiedliche Menschen kenne. Dieses schnelle Glück vom Helfen trägt einen über die Ohnmacht hinweg, täuscht aber eine falsche Realität vor.

Mehrere Tage lang telefoniere ich mit niemandem in der Ukraine - und mir geht es von Tag zu Tag schlechter. Nach den Fotos von Butscha bin ich wie gelähmt, ich liege nachts im Bett und realisiere, dass ich den ganzen Tag nichts gemacht habe und dass es genau das ist, was nicht sein darf.

Zur Person

Die Regisseurin Natalija Yefimkina (Quelle: Lucia Gerhardt)
Lucia Gerhardt

Natalija Yefimkina lebt in Berlin. Sie ist in Kiew aufgewachsen. Nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zog die Familie zunächst nach Sibirien. In den 1990er Jahren emigrierte die Familie dann nach Deutschland.

Doch dann telefoniere ich mit Tanja, einer Kriegskorrespondentin, und das ist wie eine Erdung. Es ist das Wichtigste, was ich diese Woche getan habe. Tanja erreiche ich über andere Journalisten, wir verabreden uns zum Gespräch. Während Tanja redet, schreit im Hintergrund ihre dreijährige Tochter.

Ich bin 45 Jahre alt, Journalistin. Ich habe als Kriegskorrespondentin gearbeitet und war auf die Region um Donezk spezialisiert, direkt an der Frontlinie. Mein Sohn ist 22 Jahre alt und befindet sich gerade im okkupierten Gebiet. Ich habe ein kleines Mädchen, sie ist drei Jahre alt. Mein Mann ist auch in der Donezk-Region und führt Kampfeinsätze für die Armee aus.

Warum ist Ihr Sohn im okkupierten Gebiet?

Er hat es erst nicht geschafft, aus Mariupol rauszukommen. Später ist er da rausgekommen, aber ich werde nicht sagen, wo genau er sich befindet. Jedenfalls ist er in dem Gebiet, das nicht von der Ukraine kontrolliert wird.

Das ist doch sehr gefährlich!

Ja, natürlich, aber er kann nicht raus. Es werden leider nur Menschen Richtung Russland rausgelassen, aber nicht Richtung Ukraine. Er lebte ja schon mit seiner Freundin zusammen, Sie können sich nicht vorstellen, aus welcher Hölle wir rausgekommen sind. Wir wussten 20 Tage lang nichts voneinander, denn schon seit dem 2. März gab es in Mariupol keine Elektrizität mehr. Aber das Wichtigste, es gab keinen Empfang. Für mich als Journalistin war das Schlimmste, dass ich überhaupt nicht erfahren konnte, was geschieht.

Mein Informationskreis beschränkte sich auf den Keller, in dem wir mit meiner Tochter die ganze Zeit über saßen. Nur über Geräusche konnte ich verstehen, wann Angriffe kommen. Mehr bekam ich von dem, was in Mariupol passierte, nicht mit. Wir haben im alten Zentrum von Mariupol gewohnt, in der Altstadt. Im wunderbaren Mariupol.

Wenn ich ehrlich bin, ich bin gebrochen. Ich sehe physisch anders aus als noch im Februar. Vor dem Einmarsch der russischen Armee war ich auf dem Höhepunkt meiner physischen Form. Ich habe in den Spiegel geschaut und konnte wirklich im Bikini auftreten. Jetzt wiege ich bei einer Größe von 1,70 m nur noch 48 kg. Ich bin ausgemergelt, verstehen Sie, ich bin einfach ausgelaugt, physisch, aber in erster Linie psychisch. Faktisch hat Russland, haben die Russen in diesem Monat die Menschen in Mariupol zerstört. Und sie haben das mit Absicht gemacht.

Tagebuch: Ukraine im Krieg. Journalistin Tatjana (Quelle: privat)
Bild: privat

Als Kriegskorrespondentin, die an der Front war, weiß ich, was Krieg ist, was es heißt, unter Artillerie-Beschuss zu stehen, was Panzer und Granatwerfer sind. Aber was die Kampfjets machen, die nichts mehr von den Häusern übriglassen, ist das Schlimmste. Das ist so eine Angst, so ein Horror und das machen die dort gezielt.

In zwei Nächten haben sie die Straßen nicht einfach zerstört, sondern komplett von der Erdoberfläche getilgt. Die Kampfjets schossen ihre Raketen erst alle 15 Minuten ab, dann alle Fünf Minuten. Mein Kind, hat zwei Tage nichts gegessen, gar nichts, überhaupt nichts hat sie gegessen.

Alle Tagebuch-Einträge von Natalija Yefimkina

RSS-Feed
  • Ukraine Tagebuch: Jana, 28, Enerhodar (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (25): Ukraine im Krieg 

    "Auf dem Gelände des Atomkraftwerks brannte es. Es war so gruselig"

    Janas Familie arbeitet im größten Atomkraftwerk Europas. Als die Russen kommen, flüchten sogar Ukrainer hierher. Ein Atomkraftwerk ist schließlich sicher, erzählt sie Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch. Oder?

  • Porträt.(Quelle:privat)
    privat

    Tagebuch (24): Ukraine im Krieg 

    "Er sah die Minen nicht. Er hielt sie für Steinchen oder Äste."

    Maria sitzt im Keller, zwei Wochen lang. Oben detonieren Bomben. Unserer Autorin Natalija Yefimkina schildert die 18-Jährige ihre Flucht aus Mariupol - über verminte Straßen, durch russische Filtrationslager und quer durch die Front.

  • Helfer evakuieren Menschen in Cherson, Ukraine (Quelle: Marcus Heep)
    Marcus Heep

    Tagebuch (23): Ukraine im Krieg 

    "Sie haben nicht geglaubt, dass der Wasserspiegel so sehr steigen wird"

    In den tief gelegenen Stadtteilen von Cherson herrscht Dauerbeschuss. Galina fährt trotzdem hin, um die Leute dort zu versorgen. Doch seit dem Dammbruch von Kachowka flutet der Dnepr die Häuser, erzählt sie Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch.

  • Ukraine Tagebuch. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (22): Ukraine im Krieg 

    "Ich habe Angst, wie weit man Menschen zombifizieren kann"

    Ihre Tochter sitzt im Rollstuhl. Den hievt man nicht einfach so in den Luftschutzbunker. Doch Oksana lässt sich nicht klein kriegen. Nicht von den Russen, nicht von dem Krieg, erzählt sie Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch.

  • Symbolbild: Nach ihrer Ankunft mit dem Zug aus Kiew stehen Geflüchtete am frühen Morgen an der Passkontrolle am Bahnhof von Przemysl in der Nähe der ukrainisch-polnischen Grenze. (Quelle: dpa/K. Nietfeld)
    dpa/K. Nietfeld

    Tagebuch (21): Ukraine im Krieg 

    "Ich rede wenig. Ich helfe ihnen einfach, Russland zu verlassen. Das ist alles."

    Viele Ukrainer hat der Krieg unfreiwillig nach Russland verschlagen. Eine Russin hilft ihnen seit einem Jahr, das Land zu verlassen. Natalija Yefimkina erzählt sie anonym in ihrem Kriegstagebuch von Unvorhersehbarkeit, Angst und der Kraft des eigenen Willens.

  • Tagebuch Ukraine: März 2023 (Quelle: rbb/Natalija Yefimkina)
    rbb/Natalija Yefimkina

    Tagebuch (20): Ukraine im Krieg 

    "Die Russen stecken selbst bis zu den Ohren in der Scheiße und denken, dass das so sein sollte"

    Vjacheslav hat einen Traum: "Vollständig das gesamte Territorium der Ukraine von diesen Mistkerlen befreien". Der 52-Jährige erzählt Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch, wie er zum Militär kam und warum er keine Angst hat, im Krieg zu sterben.

  • Marine - Tagebuch. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (19): Ukraine im Krieg 

    "Wir verstecken uns nicht unter dem Teppich"

    Philipp ist 20, schwul und studiert in Odessa. Er erzählt Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch, wie verknöchert seine Uni ist, wie es sich anfühlt als queerer junger Mann in der Ukraine und warum er nicht zur Armee darf.

  • Oksana aus Mariupol
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    Tagebuch (18): Ukraine im Krieg 

    "Mein Herz sagt mir, dass er am Leben ist"

    Die verheerenden Bomben auf Mariupol haben sie getrennt: Oksana gelang die Flucht, ihr Mann geriet im Stahlwerk in Gefangenschaft. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über Verlust und Ungewissheit – und die Verschollenen von Azovstal.

  • Ukraine-Tagebuch: Oksana Chernaja, 42, Rettungssanitäteterin, Bachmut (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (17): Ukraine im Krieg 

    "So leben wir seit neun Monaten und beschweren uns nicht"

    Oksana ist Professorin für Ökonomie. Eigentlich. Seit Kriegsbeginn dient sie freiwillig als Rettungssanitäterin. Natalija Yefimkina spricht in ihrem Kriegstagebuch mit Oksana über den Alltag an der Front – und den Dauerbeschuss der Stadt Bachmut.

  • Swetlana aus Cherson. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (16): Ukraine im Krieg 

    "Jemand verrät jemanden. Trotzdem, ich verurteile niemanden"

    Swetlana legt Tarotkarten – und ist damit nicht nur in Cherson ziemlich erfolgreich. Mit den Karten kommen die Geschichten ihrer Kunden zu ihr. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über systematischen Raub, Ursachen von Verrat und streunende Hunde.

  • Haus und Garten von Mykola Ivanovich Smoljarenko in der Ukraine (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (15): Ukraine im Krieg 

    "Alle Tiere, die wir hatten, sind weg"

    Gemüse anbauen, Tiere füttern, fischen gehen - das war bisher das Leben des ukrainischen Rentners Mykola Ivanovich Smoljarenko. Dann kam der Krieg bis in seinen Garten. Natalija Yefimkina hat in ihrem Ukraine-Tagebuch Mykolas Geschichte aufgeschrieben.

  • Archivbild: Feuerwehrleute in Kiew arbeiten nach dem Beschuss von Gebäuden durch eine Drohne. (Quelle: dpa/E. Lukatsky)
    dpa/E. Lukatsky

    Tagebuch (14): Ukraine im Krieg 

    "Wir lesen jeden Tag dieses Grauen"

    Die Russen nutzen vermehrt Drohnen, um die Ukraine anzugreifen, erzählt der Vater von Natalija Yefimkina. Jeden Tag sei Bombenalarm und alle stünden ständig unter Stress. In ihrem Kriegstagebuch hat sie das Gespräch aufgezeichnet.

  • Tagebuch: Ukraine im Krieg (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (13): Ukraine im Krieg 

    "Es war verrückt, dass das Tattoo eine solche Macht hatte"

    Ein Zufall hat Tilde aus ihrem Kaffeeladen in Schweden an die Front in der Ostukraine geführt. Natalija Yefimkina berichtet in ihrem Kriegstagebuch über eine Frau, die ihren ganz eigenen Umgang mit dem Grauen in der Ukraine hat.

  • Tagebuch Ukraine (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (12): Ukraine im Krieg 

    "Sie fahren besoffen mit ihren Militärfahrzeugen in den Gegenverkehr"

    Anja hat wochenlang im besetzten Cherson ausgeharrt – bis ihr die Flucht glückte. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über Anjas Alltag unter russischer Okkupation, den Fluch der Propaganda und Müllhalden mit Leichenteilen.

  • Bohdan. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (11): Ukraine im Krieg 

    "Sucht nicht den Krieg, er wird euch von selbst finden"

    Das Azot-Werk ist ein gewaltiger Industriekomplex in Sjewjerodonezk. Seit Wochen kämpft hier Bohdan gegen die Russen. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über einen Freiwilligen, der den Krieg da erlebt, wo er am schlimmsten tobt.

  • Ukraine-Tagebuch. (Quelle: privat)
    Quelle: privat

    Tagebuch (10): Ukraine im Krieg 

    "Den Mädchen wurden die Zähne ausgeschlagen, die Vorderzähne"

    Wer zu Tatiana kommt, ist am Ende. Die Psychologin arbeitet in Kiew mit den schwer misshandelten Opfern des Krieges. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über den Versuch, sich aus dem Grauen wieder herauszukämpfen.

  • Tagebucheintrag vom 13.5 (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (9): Ukraine im Krieg 

    "Ich verdamme deine Tante und den Tag, als ich dich geboren habe"

    Jana ist mit ihren Töchtern bei einer Berliner Familie untergekommen. Doch damit kehrt kein Frieden ein: Ihr Mann ist in der Ukraine, die Mutter beschimpft sie von Russland aus. Natalija Yefimkina in ihrem Kriegstagebuch über innere und äußere Zerrissenheiten.

  • Tatjanas Familie. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (8): Ukraine im Krieg 

    "Es war sehr gefährlich, Wanja herauszubringen"

    Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine. Für diesen Tagebucheintrag hat sie mit Tatjana gesprochen. Die hat ihren Sohn Wanja aus Donezk herausgebracht, damit er nicht gegen die Ukraine kämpfen muss.

  • Zettel in den ukrainischen Nationalfarben (blau und gelb) hängen an einer Brüstung des Ufers der Moskwa, im Hintergrund sind Gebäude des Hochhausviertels Moskwa City zu sehen. (Quelle: dpa/Ulf Mauder)
    dpa/Ulf Mauder

    Tagebuch (6): Ukraine im Krieg 

    "Du wirst es doch nicht so publizieren, dass man weiß, wer ich bin?"

    Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine. Für diesen Tagebucheintrag hat sie allerdings Kontakt mit Freunden und Bekannten in Russland aufgenommen - es sind für sie keine einfachen Gespräche.

  • Andrei und seine Frau Elena vor ihrem Hotel Stockholmstudios in Irpin (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (5): Ukraine im Krieg 

    "Sie schossen durch die Küchentür, mit einem Abstand von vier Metern"

    Andreis kleines Hotel in der Nähe von Kiew wird beschossen. Kurz darauf dringen russische Soldaten ein: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

  • Alexander Sasnovski vor dem Krieg zu Hause in Mariupol. (Quelle: privat)

    Tagebuch (4): Ukraine im Krieg 

    "Ich wache morgens auf und denke, ich bin zu Hause, aber ich habe kein Zuhause mehr"

    Alexander und seine Frau wollten Mariupol nicht verlassen. Doch Putins Krieg zwang sie zur Flucht: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

  • Viktor mit seinem Sohn Zenja in Deutschland (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (3): Ukraine im Krieg 

    "Er hat immer davon geträumt, ein Offizier zu werden. Gestorben ist er am 27. Februar"

    Ein Vater spricht über seinen im Krieg gefallenen Sohn, die fliehende Familie erreicht endlich Berlin: Natalija Yefimkina hält von Berlin aus Kontakt mit den Menschen in der Ukraine - und berichtet darüber in diesem Tagebuch.

  • Oleg sitzt als Beifahrer in dem Transporter. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (2): Ukraine im Krieg 

    "Bitte komm, Oma, es ist Krieg!"

    Die Regisseurin Natalija Yefimkina hat ukrainische Wurzeln. Seit Tagen hält sie Kontakt mit den Menschen vor Ort. In diesem Tagebuch berichtet sie darüber, wie es den Menschen in der Ukraine geht, aber auch was die Situation mit ihr macht.

  • Die Ukrainerin Julia T. hat sich entschieden, mit ihren beiden Kindern aus der Ukraine zu fliehen. Die beiden Kinder im Zug. (Quelle: privat)
    privat

    Tagebuch (1): Ukraine im Krieg 

    "Julia, entscheide dich!"

    Die Regisseurin Natalija Yefimkina hat ukrainische Wurzeln. Seit Tagen hält sie Kontakt mit den Menschen vor Ort. In diesem Tagebuch berichtet sie darüber, wie es den Menschen in der Ukraine geht, aber auch was die Situation mit ihr macht.

  • Der zentrale Platz der Stadt Charkiw liegt nach dem Beschuss des Rathauses in Trümmern.
    picture alliance / AP

    Berichte aus der Ukraine 

    "Ich will nicht für die Ukraine sterben, ich will für sie leben!"

    Plötzlich leben die Menschen in der Ukraine im Krieg. Eine Lehrerin harrt voller Angst auf dem Land aus. Ein Fabrikarbeiter baut Molotow-Cocktails. Ein Chirurg arbeitet seit sechs Tagen ohne Pause. Sieben Protokolle aus der Ukraine.

Wir haben den ganzen Monat das Essen auf einem Feuer vorm Haus gekocht. Erst schafften wir das mit hin und her laufen, denn das Feuer war nur drei Meter von unserer Eingangstür entfernt. Man konnte zur Kochstelle laufen, umrühren und sich wieder im Keller verstecken, dann wieder hin, umrühren und zurück.

Aber dann gab es nicht mal mehr diese Möglichkeit. Wir waren richtig hungrig. Zwei Tage wurde heftig bombardiert. Die Nachbarn nebenan sind schließlich doch rausgegangen, um sich was zu kochen. Dort schlug sofort eine Rakete ein und zehn Menschen sind gestorben. Gleichzeitig.

Ich weiß nicht, wie viele Menschen umgekommen sind in Mariupol. Man spricht von 20.000, aber ich denke, dass ist die minimalste Ziffer, diese 20.000.

Tagebuch: Ukraine im Krieg. Journalistin Tatjana (Quelle: privat)
Bild: privat

Um neun Uhr morgens, flog eine Rakete in mein Haus. Es war am 20. März, davor waren wir die ganze Nacht bombardiert worden. Als die Rakete einschlug, saßen wir gerade im Keller und packten mit Sophia unsere Sachen, Dokumente und sowas, für den Fall, das wir raus müssen.

Tanja stockt am Telefon

Als sie einschlug, rieselte sofort Staub und Putz von der Decke. Die Rakete durchschlug das Nachbarhaus, das Haus, was hinter unserer Küche liegt. Von meinem Haus blieb nur ganz wenig übrig, nur ein Teil vom Wohnzimmer, der Flur und das Bad, das wars.

Von dem anderen Haus blieb nur Staub, es gab nichts mehr, was an ein Haus erinnerte, nur ein Haufen Staub. Und ich wusste ja, dass dort Menschen waren, weil sie einen Generator benutzt hatten, bis zuletzt.

In einer der Wohnungen über mir sind drei Menschen umgekommen und meine 94-jährige Nachbarin, die den zweiten Weltkrieg überlebt hat. Als alles anfing, fragte sie mich mal, Tanja, was sind das für Geräusche? Sie hat schlecht gehört, aber diese Explosionen konnte sie spüren, obwohl sie damals noch nicht so nah waren. Ich sagte ihr, Ewdakija Wasiljewna, das ist Krieg. Und sie sagte: Was, sind die Faschisten wieder zurückgekehrt? Und ich sagte zu ihr, ja, sie sind zurück.

Sie sind nicht einfach Faschisten, ich glaube, nicht mal Faschisten haben sowas getan, wie die Russen mit uns umgehen.

Dabei bin ich doch selber Russin. Und mein Mann ist Weißrusse. Wir hatten 20 Tage keinen Kontakt, 20 lange Tage. Als wir aus der Gegend herauskamen, die bombardiert wurde, und unser völlig zerstörtes Haus verlassen konnten, konnte ich ihn endlich erreichen. Er hat so geheult, obwohl er Soldat ist und ein starker Mensch. Ein sehr starker. So geheult.

Wie viele Menschen haben ihre Angehörigen verloren. Wie soll man weiter ohne sie leben? Ich sage Ihnen noch mehr: Ich mache mir keine Sorgen um die Wohnung, aber ich habe meinen Hund dort gelassen, ich konnte ihn nicht mitnehmen. Und das ist für mich..

Ich höre, wie sie mit den Tränen kämpft

… das ist für mich der treuste Freund gewesen, er war vier Jahre bei uns, mein Mann hat ihn von der Front mitgebracht. Er ist ein einfacher Streuner, aber er war der beste Hüter. Ich habe es nicht geschafft, ihn herauszuholen, ich habe es einfach nicht geschafft. Ich war so durcheinander, als die Kampfjets flogen, und ich musste meine Tochter da rausholen. Das Materielle hat für mich keine Bedeutung mehr, ich weiß nur, dass ich meinen treuen Rüden verraten habe und ich werde niemals diese Augen vergessen.

Tagebuch: Ukraine im Krieg. Journalistin Tatjana (Quelle: privat)
Bild: privat

Das alles ist schwer zu erzählen. Ich hatte kein reales Verständnis von dem, was passiert ist. Von den ganzen schrecklichen Sachen, wie dem Theater von Mariupol, habe ich erst später gehört als ich draußen war. Ich habe erfahren, wie viele Menschen ich von meinen Freunden in der Armee verloren habe, die versucht hatten, nach Mariupol durchzukommen.

Das sind so furchtbare Sachen, die ich erst am 21. März erfuhr, einem der schlimmsten Tage für mich. Der 20. März ist der Tag, als ich mit Sophia überlebte, ich finde, das ist unser zweiter Geburtstag. Sophia ist meine dreijährige Tochter. Und der 21. März ist ein schlimmer Tag, weil ich da ganz viele tragische Neuigkeiten über meine Freunde erfahren habe, die gefallen sind.

Jetzt haben wir uns in Tscherkassy niedergelassen, ich arbeite hier für den Notdienst des Donezker Gebiets in der Presseabteilung. So ist das. Ich weiß nicht, wann ich meinen Mann sehe, und wann Sophia ihren Vater sieht, weil er in der Armee ist. Aber ich verstehe, dass es nicht bald sein wird. Man wird uns einfach nicht in Ruhe lassen.

Die Aufhebung der Blockade von Mariupol - das ist jetzt die Hauptsache. Wenn wir genug Kampfjets und Luftabwehrraketen gehabt hätten, dann hätten wir tatsächlich keine solche Situation gehabt. Und alle wussten es. Denn die Russen suchen sich die schwächste Stelle. Und die schwächste Stelle sind wir, die Zivilisten.

Beitrag von Natalija Yefimkina

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