- Lesen und hören Sie mit uns!
Wir haben uns vorgenommen, mit Ihnen zusammen Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen, denn besonders große Vorhaben bewältigt man am besten gemeinsam. Schreiben Sie uns!
Sie wollten schon immer "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" lesen? Besonders große Vorhaben bewältigt man am besten gemeinsam. Deswegen haben wir uns vorgenommen, mit Ihnen zusammen Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen bzw. zu hören.
Wir begleiten die Lesung mit einer wöchentlichen Kolumne der Autorin und Journalistin Doris Anselm, die einerseits die großen Momente dieses Romanzyklus feiert und andererseits zum Durchhalten und Dranbleiben anfeuert, denn dieses Werk ist wie eine Gipfeltour: herausfordernd, aber jede Mühe wert!
Darüber wollen wir auch mit Ihnen ins Gespräch kommen. Kommentieren und tauschen Sie sich aus. Schreiben Sie uns eine Mail an proustlesen@rbbkultur.de.
Oder treten Sie unserer Facebook Gruppe "Proust lesen mit rbbKultur" bei: www.facebook.com/groups/4824467260960056
1288 Kommentare
Liebe Frau Windeck, liebe Hörerinnen und Höerer, die neue Lesungs-Kommentar-Seite ist da:
https://www.rbb-online.de/rbbkultur/themen/literatur/lesungen/kommentare.html
Jetzt, zum Start der neuen Lesung, konnten wir Ihren Vorschlag in die Tat umsetzen. Wir freuen uns über zahlreiche Kommentare.
Viele Grüße - Petra Hitzig
Liebe rbb-Kultur-Redaktion, liebe Frau Hitzig,
ich freue mich sehr, dass es demnächst eine Seite für die Lesungen gibt. Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass möglichst viele Hörer sich zu Wort melden, damit keine Monologe gehalten werden, sondern Austausch stattfindet, aus dem sich interessante (oder schräge oder witzige…) Gespräche entwickeln, bei denen man auf neue Ideen kommt. Zu R. Ford z.B. fällt mir bislang wenig ein, was der Mitteilung wert wäre, aber ich wüsste riesig gern, wie diese Lesung bei anderen Hörern ankommt und wirkt. Vielen Dank , dass Sie uns Hörern eine solche Plattform zur Verfügung stellen!
Danke, Frau Hitzig -
Frau Windecks Anregung scheint also auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein.
Warten wir also auf die redaktionelle Aufbereitung und Präsentation durch rbbkultur.
Ich denke, viele wünschen Ihnen ein gutes Händchen (und Vertragsgeschick) bei der Literaturauswahl für die künftigen Lesungen.
Viel Glück und nochmals danke
MR
Lieber Herr Reimann, liebe Frau Windeck,
wir werden bald für die Lesung generell eine Seite haben, auf der Sie die Folgen kommentieren und sich austauschen können. Sobald dies der Fall ist, werde ich hier einen entsprechenden Link einfügen.
Vielen Dank für Ihre zahlreichen Kommentare und Ihre Anregungen. Über die e-Mail-Adresse lesung@rbbkultur.de können Sie auch schon jetzt direkt mit uns in Kontakt treten.
Viele Grüße - Petra Hitzig
Liebe Sandra,
schreiben Sie gerne eine Mail an proustlesen@rbb-online.de, wenn Sie eine Folge nicht finden. Dann kann ich direkt mit Ihnen in Kontakt treten.
Viele Grüße - Petra Hitzig
Guten Abend,
Mir verbleiben noch 5 Folgen und nun stelle ich fest, dass die Folge 37 von 39 der wiedergefundenen Zeit verschwunden ist. Bitte laden Sie sie wieder hoch, damit mein Glück vollkommen ist. :)
Merci
Seit dem 1. Mai 2022 kein Eintrag / keine Antwort der rbbkultur-Redaktion -
Was sollen wir daraus schließen ... ?? ... !!
Ein Minimum wäre schlicht : Höflichkeit ..........
Als gewohnheitsmäßige Hörerin Ihrer Lesungen (vor Proust meist nur im Radio) würde ich mich freuen, wenn es ein Hörerforum für die Literaturlesungen als ständige Einrichtung gäbe, und bestimmt bin ich mit diesem Wunsch nicht allein. – Oder gibt es das längst, und ich habe es nur nicht mitbekommen?
Herzliche Grüße
Elsa Windeck
Liebe rbb Kultur-Redaktion,
nochmals herzlichen Dank für das Wagnis, Hörer und Leser zu motivieren, Prousts Monumentalwerk kennenzulernen. Für mich war vor allem das Kommentarforum ein Ansporn, ‚dranzubleiben‘. Man hört und liest anders, wenn man weiß, dass man sich anschließend mit anderen Hörern darüber austauschen kann.
Dabei kam mir der Gedanke, dass das Hörer/Leserforum nicht nur für so aufwändige und umfangreiche Projekte, sondern auch für die regelmäßigen Literatur-Lesungen an diesem Sendeplatz eine gute Sache wäre. Man könnte damit sowohl neue als auch langjährige Hörer ansprechen und eine Plattform bieten, um Meinungen, Eindrücke, Infos zum Gehörten spontan und unkompliziert auszutauschen, ohne den Umweg über Facebook&Co zu nehmen.
Von Proust zu Ford ist ein harter Schnitt. Die Story von „Happy“ hat mich noch nicht ganz mitgenommen. Unzerstreut aufmerksam und hellhörig wurde ich seit dem Beginn von Henrys Bericht in „Am falschen Ort“. Wie einschneidend der Tod des Vaters ist(der auch den sozialen Status verändert), zeigt sich indirekt am Verhalten der Mutter, der Mitschüler. Desorientierung und Hilflosigkeit beim Versuch, mit der veränderten Situation, auch der eigenen Trauer, umzugehen, werden nicht thematisiert, sind aber überall spürbar. Und dann ist da dieser charismatische Niall, selbst durch seine irische Herkunft „am falschen Ort“. Nirgends ein Wort zuviel, so mein Eindruck, und doch erlebt der Leser Henrys Abend im Autokino in Panorama- und gezoomten Szenen beinahe hautnah mit. Das ist so überlegt, knapp und treffsicher erzählt – meine Bewunderung für diesen Autor wächst.
... Forum adieu, Forum merci ...
nun vom Matic-Sound zum Stöbern im frz. Original ...
rbb: "Fehler: Leider konnte Ihr Kommentar wegen technischer Probleme nicht erfasst werden. "
Werter Herr Reimann,
ihr heutiger Kommentar kommt mir leicht verschwurbelt vor.
Das war doch sonst nicht Ihre Art...
Oder doch?
Alles schon vergessen!
Verlorene Zeit?
Fragezeichen >>
RUNDFUNK BERLIN-BRANDENBURG
Störung
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Nach 329 Lesungen Proust-Matic nun also Ford-Brückner.
Übertreibt die werte Redakteurin es da nicht ein wenig mit dem Feminismus?!
Nach einer knappen Woche ohne Marcel Proust mit der Stimme von Peter Matic fühlt man mehr oder weniger heftige Entzugserscheinungen... Ein sehr großes Dankeschön für diesen beständigen und großartigen Hörgenuss! Er hat mir die vergangenen Monate sehr bereichert.
Test
Dem möchte ich mich anschließen. Ohne die Form des täglichen Podcasts und die Unterstützung durch die FB Gruppe und die Kommentare hier im Forum, hätte ich den Roman nicht geschafft. In Häppchen eingeteilt und mit der Chance, am Wochenende Verpasstes aufzuholen, hat es geklappt. Hier im Forum habe ich durch die Kommentare und besonders durch die erklärenden kurzen Zusammenfassungen von Herrn Werkmeister (leider haben Sie damit irgendwann aufgehört) und die tiefen Einsichten und Interpretationen von Frau Windeck Vieles besser verstanden. Aber der Text spricht für sich und hat mich zutiefst ergriffen und begeistert. Viele Grüße an alle und Danke für die schöne Zeit mit Ihnen und Marcel.
Forts. zu 1267 folgt irgendwann ...
Betriebsgeheimnisse des Autors sind Sache von Literaturforschern. Proust fordert auf auf, nach eigenen Betriebsgeheimnissen... zu forschen .. lol
Ich erinnere wage eine Gespräch zwischen dem Erzähler und Albertine über Literatur in der Wohnung des Erzählers. Albertine imitiert ihn, ironisiert ihn . .. und Proust sich dabei sich selbst. Ach das Leben ist so schön......grins
hoppla - "technische Probleme" ...
... verflossenen Monate eine gewonnene Zeit gewesen, wir standen in all unserem Austausch unter der Patenschaft des Autors, aber auch ...
Liebe Frau Windeck, ist es nicht schön, dass wir am Ende dieser Proustfahrt einander danke! sagen können.
Für mich sind die ...
Zunächst einmal ein großes Dankeschön an den rbb für fast 16 Monate mit Marcel Proust! Ohne diese 329 allwerktäglichen Lesungshäppchen wäre für mich dieser gewaltige Roman wohl nie aus der "Müsste man ja eigentlich auch mal lesen"-Ecke herausgekommen. Danke auch an Peter Matic für die wunderbare Lesung, an Doris Anselm für die humorvolle Erstlese-Begleitung - und natürlich auch an jene kleine Schar von klugen Menschen, die das Gehörte im Forum immer wieder mit - gelegentlich zwar auch selbst annähernd empfundenen, sehr viel öfter aber gänzlich neuen und augenöffnenden (und, nun ja, manchmal auch verwirrenden und sich über mehrere Etappen entwickelnden)- Eindrücken, Interpretationen und Fragen bereichert haben. Alles in allem auf jeden Fall: keine verlorene Zeit!
Lieber Herr Reimann, last not least möchte ich mich von unserem ‚Neuzugang‘ verabschieden (auf diesen Status haben Sie stets gepocht), der sofort zum power booster des Forums wurde, unermüdlich herausforderte, neue Gesichtspunkte, andere Blickwinkel zu berücksichtigen. Sie haben dafür gesorgt, dass unsere Überlegungen nie ins Stocken gerieten. An manche Ihrer Wortschöpfungen (wie die „mäandernden Satzgetüme“) werde ich mich noch lange erinnern. Vielen Dank und À la prochaine.
Als die Lesung anfing, war ich vor allem fasziniert von der Intensität in der Darstellung der Sinneseindrücke des Erzählers. „Der Bilderrausch erzeugt den Sprachrausch erzeugt den Bilderrausch erzeugt…usw.“ notierte ich mir damals auf einem Zettel. Hätte ich weiter nur so vor mich hingelesen, wäre es lange bei diesen schwelgerisch-diffusen Eindrücken geblieben. Für einen Beitrag im Forum aber muss ich meinen Impressionen eine Form geben, mit der andere Hörer etwas anfangen und Ihre Ansichten dazu äußern können. Durch treffsicher pointierte Formulierungen (danke, Herr Stellmann) ergab sich in den ersten Monaten manchmal ein unterhaltsamer Schlagabtausch. Die Beiträge wurden Teil meines „Leseerlebnisses“, und der Austausch hat mir Spaß gemacht. Die 16 Monate mit der Recherche waren für mich eine positive Erfahrung. Ich danke allen (aktiven und passiven) ‚Foristinnen‘ und ‚Foristen‘, die das Forum mitgetragen haben.
Zwei Danksagungen muss ich noch loswerden. Danke an Sie und auch an Frau Windeck, auch wenn ich manchmal, nein oft gedacht habe, worüber Sie sich nur Gedanken machen.... Diese Exerzitien...grins..Aber so sind halt die Perspektiven, innerhalb derer man liest.
Und ein zweiter Dank an Frau Anselm, a) Sie weiß schon wofür...und b) für das hochriskante Projekt, Proust so zu lesen, wie sie es getan hat... Respekt!
Lieber Herr Stellmann, danke für Ihre Adieu-Worte.
Ich freue mich mit Ihnen, dass wir das Romanende so lebendig und zukunftswach erreicht haben. Dank auch für Ihren Humor und die Stachel, die Sie gesetzt haben. Und - erinnern Sie sich noch an die "Zärtlichkeit des Zoologen" ?
Also bis in 5 Jahren im Menschenreich ...
MR
Ich bin nicht mehr der, der ich war, und noch nicht, der ich sein werde...und tschüß..
Es ist geschafft: Na dann, heben wir die Gläser im Wohnzimmer, also auf Proust, der meinem Leben mehr gibt als seine Interpreten. Ich lese jetzt erst einmal etwas, das an meine nierdersten Instinkte rührt.... Und dann fange ich in in fünf Jahren noch einmal an, so die eigene Sterblichkeit es zulässt. Grins...
Muss man das gelesen haben? Was muss man schon gelesen haben? Nur das, was das eigene Leben zum Glück hin wendet... lach
Und dann hoffe ich noch, dass die nächste Einladung zum Klassentreffen an mir vorüberziehen mag...Der morgendliche Blick in den Spiegel reicht..
... in einer Aufeinanderfolge von Szenen, Orten, Landschaften vom erzählenden (gealterten) Ich erinnernd, reflektierend und imaginierend – Ich-mischend und Ich-scheidend - vergegenwärtigt. Das erzählende und erzählte Wachrufen ist mehr als das Vergegenwärtigen von Vergangenem (Erinnerung), als das Zurückholen und Aufheben verlorener Zeit.
Zugleich bedeutet es Verzauberung durch (bildhafte, verwandelnde) Sprache. Augenfällig daher all die Szenen des Aufwachens und des Augenaufschlagens, vom Neubeginn im „Wiederauferstehen“. Die wichtigen Lebensmomente sind voller „Zufälle“, voller „Sesam-öffne-dich“-Empfindungen.
Das Faszinosum der Proust-Prosa? Mir fällt dazu ein Viergestirn ein: Vergegenwärtigung – Verwandlung – Verkörperung – Verzauberung.
Gewiss, Frau Windeck, im Finale des Romans jede Menge Lese- und Verstehensanleitung,
ein Punktsieg für den Erzähler -
Dank einer Art Gnade der späten Geburt, d.h. meiner späten Proust-Lesepremiere, nach etwa einem Fünftel bis zum Ende durchgehalten, empfinde ich den Abschluss der „Recherche“ aber doch anders: Ende und Anfang des Ganzen werden ja e r z ä h l e n d zusammengebunden, nicht primär deutend. Plausibel finde ich in dieser Fiktion aller Lebensfäden das schließliche Zurückgehen auf das Trauma der Urszene (Warten auf den Mutterkuss, Swanns Besuch, François le Champi), das Hindurchgehen nicht nur durch den Schrecken (der Masken) des Alters, auch durch den Tod: der Hall des Gartentorglöckchens gleichsam als Vorklang von Tod- und Erlösung ...
Ein/Der Grundgestus der Recherche ist wohl der des Wachrufens: Seine Lebenspunkte und die Lebensfäden der Anderen, denen der Erzähler ‚begegnete’, werden ...
wie blanke Ironie. Ich hoffe aber, dass die verbliebenen Hörer/Leser mit mir gemeinsam über diese ‚Einsicht‘ schmunzeln können.
Als die Lesung des letzten Bandes begann, hatte ich manchmal das Gefühl, nur noch lahme Paraphrasen zu Prousts Text zu formulieren. Ich hatte mich wohl so sehr ‚eingelesen‘, dass mir alle Geschehnisse, alle Reflexionen viel einleuchtender und folgerichtiger erschienen, als sie es sind, wenn man aus einiger Distanz auf sie blickt. Langsam ging mir auf, dass es für ‚Kommentatoren‘ von Seite zu Seite immer weniger zu tun gab, denn sämtliche Erläuterungen und Deutungen werden vom Erzähler gegeben. Zwar hatte er das in den vorangegangenen Bänden in seinen Reflexionen auch getan, doch es blieb Aufgabe des Lesers, Zusammenhänge und Rückverweise zu erkennen und Überlegungen dazu anzustellen. Nun übernimmt der Erzähler selbst die Rolle des Kommentators. Angesichts von rund 1250 Forum-Kommentaren muss das natürlich klingen …
Gilbertes Tochter?
Da kommt wohl noch etwas auf der Zielgeraden !?
…als die einzige Spezies, die den Faden, der sie über den Abgrund trägt, aus sich selbst hervorzuspinnen vermag. Nietzsches Parabel meint allerdings mehr (und anderes) als Prousts Metapher, und Nietzsches Abgründe waren wahrlich andere als die Prousts. Toleriert man jedoch eine gewisse Unschärfe des Blicks, der nur die Ähnlichkeit der Konturen wahrnimmt, ist die Assoziation vielleicht dennoch nicht abwegig. Sie verweist dann nicht mehr nur auf die Entstehung eines Romans, sondern auf den Schriftsteller, für den zwölf Jahre lang Schreiben und Leben in einem sehr radikalen Sinn ein und dasselbe bedeuteten.
Das sehe ich ganz ähnlich, lieber Herr Reimann.
Ein paar Gedanken zum ‚Gewebefond der Lebensfäden‘: die Gedankenlinien, die in Gilbertes Tochter zusammenlaufen und von ihr zurückstrahlen, verwandeln sich in Fäden, die Personen, Erinnerungsebenen, Orte miteinander verknüpfen. Der Erzähler übernimmt die „Fäden“ in die Metapher für das Werk, das er schaffen will. Das lässt zunächst an einen Bildteppich denken; aber viel zu schwer wäre ein solches Gewebe, die Fäden zu fest vernäht. Was Proust beschreibt, ist eher ein filigranes, elastisches Gespinst, aus dem Fäden gezogen, anders verflochten und neu vernäht werden können (und das Françoise fachmännisch auszubessern versteht). Jenseits der suggestiven Metaphern, die Proust verwendet, fiel mir Nietzsches Parabel von der Spinne ein. Nietzsche kennzeichnet sie …
... Prousts Konzept des Erzählens aus Erinnerung (in stets neuen Anläufen) realisiert sich nicht nur im Wachrufen, Bauen, Schichten von erinnerten Bildern der Vergangenheit; ihrer Verarbeitung zugrunde liegt wohl auch der Glaube an eine Wahrheit, die aus überindividuellen Determinanten erwächst (s. die häufigen Erzählexkurse in Genealogie, Biologie, Physiologie, Neurologie, Medizin ...). So viel- und tiefenschichtig müssen wir uns wohl das ‚Ausleuchten’ in der Recherche denken und somit den Anspruch, die Phänomene des Lebens in ihrer jeweiligen „Formation“ (ein Proust-Begriff) zu verstehen.
Danke für dieses besondere œuf de Pâques, Frau Windeck.
Der Bezug klingt plausibel, ich erinnere mich ans „Kryptogramm“.
Es scheint, als wolle der Erzähler/Proust die Protagonisten, um sie in ihrem ‚Kern’ zu verstehen, zurückführen auf eine Charakterisierung ihrer Spezies, sie als individuelle Verkörperung der Kräfte sichtbar und verstehbar machen, welche diese Spezies in der Tiefe der Zeit geprägt haben: Das reicht bis zu Landschaft, Klima, Geschichte (inkl. Sprache, Namen, Symbole, Bauten) und körperlichen Merkmalen wie die gebogene Nase der Guermantes.
So verfährt er auch beim Juden Bloch und bei der bäuerlichen Françoise. Das Zurückführen auf ferne Wurzelgründe funktioniert ‚leichter’ bei Adel und Bauerntum, die Stadtbevölkerung der Moderne gäbe sich ‚sperriger’ - wird auch sie auf ‚Gesetze’ zurückgeführt?
Es entsteht jedenfalls der Eindruck, ...
Lieber Herr Reimann, ich vermute, die Stelle nimmt Bezug auf einige Passagen in Bd 2 („Im Schatten..“), in denen Proust seine Überzeugung darlegt, dass jeder Mensch ein dem eigenen Leben weit vorausliegendes Leben hat, nach dessen unabänderlichen Gesetzen er denkt, lebt, sich verändert und entwickelt. Seine Physiognomie ist festgelegt samt ihren Veränderungen im Laufe des Lebens; sein Geist enthält (wörtlich)“ wie ein Kryptogramm“ bestimmte Denkweisen, die unabhängig von ihm sind und älter als er selbst. Seine Entschlüsse und Handlungen werden stets mitbestimmt von diesem „inneren Gesetz“, das sich immer durchsetzen wird, auch wenn seine bewussten, individuellen Überzeugungen dagegen stehen. Von diesen ihm selbst unbewussten Gesetzen wird jeder Mensch gesteuert, meint Proust.
Ja, Frau Windeck, die Überlegungen zum zeitlichen Ablauf sind mit bewusst, auch aus dem Kommentar-Band von Bernd-Jürgen Fischer. Auch was Marcels eigenes Alter in den verschiedenen Lebensabschnitten betrifft. Diese fast präzise Unschärfe trägt für mich zum schwebenden Charakter des Ganzen bei - natürlich wird man gelockt, sich zu fragen, wie denn nun, was denn nun, warum denn nun... aber man kann es auch einfach so stehenlassen, wie Proust es geschrieben hat, es steht doch eigentlich alles drin.
... schälen sich Elemente der künftigen Erzähllinien heraus; oft umrissen in Bildern (Nr. 31-33: Negativabdruck; Gewebefond der Lebensfäden; Altar-Rekonstruktion; Eimerkette; Schmuckvasen in der Allee; Zifferblatt; Kaufmannsbücher).
Bemerkenswert in Nr.33 auch: die Hervorhebung des Verlangens nach „Frauen“, der Imagination ihres „idealen Leibs“, bewahrend die doppelten „Landschaften“ seiner Träume und der mit ihnen aufgesuchten „Stätten“. –
Unklar: Was ist gemeint mit dem Versuch, „die Kurve zu definieren und das Gesetz herauszustellen, das (...) ihr* Leben, ihre Natur bestimmte“?
*das der anderen Menschen, ihr „Ich“, „ihr eigenes Innere“
In der Gesellschaft der Matinée Guermantes hängt der Erzähler seinen Bibliotheksgedanken weiter nach, kann sie sogar vervollständigen beim Betrachten der Gäste, v.a. der ihm vertrauten Personen, deren ‚Masken-Erscheinung’ als gealterte Gesellschaftsmenschen er allmählich auflöst, indem er insbesondere ihre in Gesprächen geäußerten Erinnerungen mit seinen eigenen vergleicht und anhand der Diskrepanzen nachdenkt über den ‚Bau’ seiner inneren Bilder erlebten Vergangenheit(en), der wichtigen Orte und Wegmarken usw. Stets läuft es hinaus auf das Problem der Vergegenwärtigung des zeitlich Disparaten, das nicht ‚harmonisiert’ werden dürfe, sonst gehe nämlich die „Essenz“ jedes „Eindrucks“ (welcher dem jeweiligen „Ich“ zuteil wurde), des „Äthers“ und der „Flora“ usw. verloren. Er hält fest an der Ambivalenz von flüchtigem Leben und festen Bildern der Erinnerung.
Schritt für Schritt ...
Liebe Frau Windeck, Sie wissen bestimmt, dass ich Ihnen ganz gewiss nichts vorwerfe, denn Ihre Kommentare und Anregungen sind das Herzstück des Forums.
Aber es ist wohl wahr, dass ich zu Unzufriedenheit neigte, wenn Aspekte der - analog zu Ihrer Formulierung – Erzähllinien* in meinen Augen zu kurz kamen oder vage blieben (*Erzählformen, die Proust für die Realisierung seines/r Romans/ Leitgedanken findet).
Aber wir sind auf der Zielgeraden. Die Doppelszene Bibliothek und Matinée Guermantes hält sicherlich Verstehens-Schlüssel bereit; auch für das WIE des Immer-neu-Ansetzens, das Sie hervorheben.
Ich vermute, erst vom Ende erschließt sich der Bau (des Werks), gibt Antwort auf frühere Fragen, macht mir Ihre Antworten verständlicher – und ermöglicht einen freien Blick auf den Zusammenhang der Gedanken- und Erzähllinien.
Lieber Herr Reimann, einigermaßen erstaunt nehme ich Ihre (mit gewohnter Eloquenz vorgetragene) Unzufriedenheit zur Kenntnis. Seit fast einem Jahr versuche ich, auf Ihre Äußerungen detailliert einzugehen, Ihre Anregungen weiterzudenken und Wege aufzuzeigen, wie Ihre Fragen sich aus dem Text beantworten lassen könnten. Prousts Methode des Immer-neu-Ansetzens rechnet nicht mit dem Ausfall des Langzeitgedächtnisses beim Leser. Auf den letzten Metern möchte ich mich nun ganz auf Prousts Gedankenlinien konzentrieren.
Lieber Herr Schlothauer, wussten Sie, dass Luzius Keller nachgerechnet hat und anmerkt, dass wir uns Mme Verdurin in der Matinée Guermantes als eine Hundertjährige vorstellen müssten? Er führt dies als Beispiel dafür an, dass alle Datierungsversuche der Recherche scheitern müssen, da Proust sowohl die innere als auch die äußere Chronologie absichtlich im Vagen belassen hat. Ich finde die Vorstellung immerhin amüsant.
... die Metamorphose von Gewissheiten und Erinnerungen allerdings nicht ausschließlich als naturgegebene Relativität von allem, sondern versehen mit einem zweifachen Korrektiv, denke ich: Zum einen begreift er den Wandel als historisch – Kräfte der Historie können durch Kenntnis und Spurensuche erhellt werden; zum andern hält er fest am persönlichen Erinnern, das durch Erzählen beglaubigt und vermittelt werden kann.
Es lässt sich denken, dass gerade auch darin - eben erzählend - dem Verschwinden und Vergessen und dem Relativismus der „Zauber“ eines Hoffnungskorrektivs entgegengehalten werden soll.
Ich halte die Lesefolge von heute (Nr.30) für außerordentlich.
Das Erzählen ist gleichsam spiralförmig in das Wahrnehmen des gesellschaftlichen Wandels vorangetrieben. Die Bewegung verläuft von Kleidung, Auftreten, Physiognomie der ‚Masken‘ im Salon zum inneren Wandel dieser Zeitgenossen des Nachkriegs (> neue Gesichter, Rollen, Ränge …), so dass die ehedem festen, in den (alten) Namen repräsentierten Haltepunkte erodieren oder verschwinden (über Umdeutungen bis zum Vergessen).
Der soziologisch abstrakt-dünne Begriff der „neukonstituierten Gesellschaft“ wird so in reichem Maße anschaulich.
Der Erzähler steht mit seinem Wissen einer „Auflösung der Kenntnis“ gegenüber: der Unwissenheit, Ahnungslosigkeit, dem oberflächlichen Jetzt-Bewusstsein samt dessen Medien-Echo. Zugleich spürt er – angesichts des Unterschieds „zwischen ihrem und meinem Vokabular“, dass ein „Teil meiner Vergangenheit der Vernichtung anheimgefallen war“. Er konstatiert ...
Sehr geehrte Redaktion,
großartig, dass Sie es angesichts des kulturellen Wandels dieser Zeit gewagt haben, dieses
literarische Weltereignis in das Programm aufzunehmen. Hoffentlich nehmen es viele HörerInnen wahr!
Vielmals Dank und freundliche Grüße,
ClUs Wettermann
... freiesten gleichzeitigen Wahrnehmens alles Konkreten im jeweiligen Lebensumkreis.
Hinzu kommt, dass diese Simultan-Wahrnehmungen (die stetig zu Vergleichen und Metaphern drängen) libidinös aufgeladen sind, so dass alles Sehen, Fühlen, Anfassen usw. und somit auch das Erzählen den Duft des Begehrens, des Aneignens tragen und offenbaren, dass der Erzähler ohne Unterlass ‚Stoff’ aufsaugt für künftiges oder sofortiges Erzählen - als innere ‚Not’, als produktive Verwandlung seelischen Leidens in Literatur.
... als irrige bzw. vorläufige Vorannahme fungieren kann. Mischt sich nicht immer wieder ‚der Erzähler der späten Perspektive’ ein? Konfrontiert nicht das Proust’sche Modell der ‚Ich-Wahrnehmung(en) über die Zeit(en) hinweg’ die Perspektiven ‚von damals’ mit dem ‚später’?
Relativierung (s.o.) ist weniger eine erkenntnistheoretische Grundaussage des Autors als Stimulans/Movens für seinen Roman, sofern dieser von Täuschungen und Selbsttäuschungen, von Träumen und Ernüchterung handelt [was ihn übrigens in die Tradition von vielen großen epischen Werken seit dem Mittelalter hineinstellt].
Mir scheint allerdings das Konzept der ‚Verzauberung’ viel entscheidender für Prousts Erzählen zu sein. Ich denke, man könnte sogar sagen, dass die Entzauberungen dazu da sein sollen, den jeweils spontan erlebten Zauber nicht ‚rational’ zu ernüchtern, sondern - in einer nächsten Amplitude - neuem Zauber einen Antrieb zu geben – mittels Imagination und Sprachkunst auf den Flügeln ...
Was ich ständig mache: den Roman lesen, wohl gemerkt zum ersten Mal. Ich beschäftige mich - zugegeben - kaum mit meinen Vorannahmen. Ich protokolliere meine Lesebeobachtungen und -gedanken und teile sie mit. Insofern biete ich sie zur Diskussion an. Auch stelle ich immer wieder Fragen, von denen in diesem Forum die wenigsten beantwortet werden.
Ich finde das schade.
Nebenbei bemerkt: Ich habe nicht den Eindruck, dass Prousts Text als Plädoyer für die ‚Relativität von Wahrheit’ gesehen werden sollte. Warum?
Die fiktive Gesamtkonstruktion mit der Ich-Verschachtelung basiert auf einer narrativen Entscheidung, die irgendeinmal gefallen sein muss. [Ich muss das nicht im Detail recherchieren, es wird nur so sein.] Mit dieser Entscheidung ist die Setzung verbunden, welche ‚Wahrheit’ sich im Laufe des Erzählens oder der Zeit relativiert oder ...
…literarischen Werk unbewusste Projektionen völlig ausschließen kann, versuche ich zumindest, mir die eigenen Vorannahmen bewusst zu halten und ständig zu hinterfragen – und nichts in den Text hineinzulesen, das nicht darin ist.
Das Plädoyer wird nicht von mir gehalten, sondern von Prousts Text. Die Relativität und Vorläufigkeit jeder gefundenen Wahrheit wird in der Recherche in immer neuen Varianten dargestellt, demonstriert, reflektiert und theoretisch begründet. Was ich am 31.3. geschrieben habe, ist mir nicht als impressionistische Eingebung zugeflogen, sondern lässt sich für jeden Leser nachvollziehbar Punkt für Punkt aus dem Text belegen. Ganz trendwidrig räume ich dem Werk jederzeit den Vorrang ein gegenüber meiner Kreativität als Leserin. Ich habe die Recherche nie als bloßen Impulsgeber für eigene gedanklich-sprachliche ‚Höhenflüge‘ benutzt, die unterhaltsam sein können, aber von Prousts Roman wegführen. Mein Anliegen war und ist, die Recherche als Sprachkunstwerk zu erleben und allein auf der Grundlage des Textes zu verstehen, worum es Proust geht. Da jedoch kein Leser und keine Leserin bei der Auseinandersetzung mit einem …
Danke, bin auf dem Weg - habe auch schon das Original mit herangezogen, um unklare Stellen (z.B. den Bezug von Pronomen) zu erhellen, und gemerkt, dass der Rhythmus recht anders ist, z.B. bedingt durch die Stellung der Satzaussage oder eben die Möglichkeiten der Verwendung von Partizipien, dadurch oft knapper. Also die Wirkung ist recht anders und insofern lohnt das Original sehr, aber die Fassung von Rechel-Mertens/Keller hat natürlich ihren eigenen Zauber.
Natürlich haben Sie Recht: es ist auf jeden Fall sinnvoll, die Recherche als Ganzes noch einmal zu lesen.Wenn Sie in Betracht ziehen, Prousts Original zu lesen, sollten Sie das tun, unbedingt. Ich lese seit Februar letzten Jahres Woche für Woche die französische Ausgabe parallel zu den Hörfolgen. Anfangs muss man sich in die langen Satzperioden eingewöhnen, ab und an im Wörterbuch nachschlagen, aber man bekommt mit der Zeit ein Gefühl für Prousts Stil. Obwohl unsere Übersetzung oft (auch sprachlich) beeindruckt, ist die Wirkung des Originals naturgemäß viel tiefer. Ich bin sicher, Sie werden mir zustimmen, sobald Sie sich eingelesen haben. :-)
Lesung27
Über das Altern. Sind 20 Jahre vergangen oder 40? Ist „Maske“ die Chiffre nur für die in plötzlicher Konfrontation (mit Erschrecken, Verblüffung, Lachen, Mitleid ...) entdeckte Verwandlung der Person? Oder gilt sie auch rückwirkend, retrospektiv für die Person von früher? Welches „Empfinden“ aus welcher Zeit und welchen Alters entscheidet über die Wahl des Ankerpunkts für das Erzählen von der Person? Schaut auch der Erzähler in den Spiegel, wenn er in seine Tiefe hinabsteigt? Und tritt er erzählend in eine Konkurrenz mit der Zeit ein um die Laterna-magica-Bilder, die von den Personen, den Puppen, den Greisen, der Jugend, der Liebe, dem Schmerz projiziert werden?
... (woran die Mahnung haften soll: bedenke, nur beschränkt erkenntnisfähig zu sein), sondern - gerade im Moment des überraschend Formulierten, Gestalteten (‚Zauberwort’) - ein Stück uneingeschränkte, beglückende ‚Wahrheit’, die gar nicht in subjektive Erfahrungsdifferenzen zergliedert und in ‚Wahrheit im Plural’ relativiert werden müsste.
der Wahrhaftigkeit, ganz auf der Höhe der ‚Moderne’ mit ihren Rissen. [Wir haben wieder Krieg in unserer Mitte!] Dank also für die Proust’schen Bilder. Das Räsonnement über die Zeit dagegen – soll ich sagen: aufgesetzt? Richtig jedenfalls der Hinweis auf all das, was die ‚Zeit braucht’: Körper und Raum.
Zur Anziehungskraft: Ich gestehe, ich blende nicht selten aus, w a s gesagt wird, und staune viel mehr über die Sprache und die stilistische Komplexität der Aussagen - weil die es sind, die beflügeln. Dieses Leichtwerden, Öffnen, Aufschließen, das ich an mir spüre und insofern auf mich beziehe, ist selten von der Art, dass ich versuche mich einzufühlen oder nachzufühlen [toll, so ist es auch mir ergangen usw.], dazu empfinde ich den Proust-Erzähler viel zu idiosynkratisch. Nicht das Ich, das erzählt, zieht mich an, sondern der angeschaute und in Worte gefasste Welt- oder Wirklichkeitsausschnitt. Für mich ist der aber kein ‚Fragment’ ...
Liebe Frau Windeck, was für ein Plädoyer für das Proust-Angebot zu Selbsterfahrungen und für den Deutungspluralismus. Ja, die Interaktion Autor-Leser - ganz d’accord.
Das Werk zieht seine Anziehungskraft auf mich nicht aus dieser Öffnung, wenn ich’s recht bedenke. (Bin ich undankbar oder verwöhnt?) Meine erste Begründung in unverschämter Direktheit: zu viel Nabelschau und ‚Welthaltigkeit’ zu gebremst. Man vergleiche nur den Umfang der Seiten über die Salons und Albertine und den über den Krieg [nichts über den Aufenthalt im Sanatorium!]. Dabei sind das ‚Kriegskapitel’ und das ‚Nachkriegskapitel’ (inkl. der Lesung heute) von großartiger Reife und Souveränität. Meine Hilfsbegriffe ‚Maskerade und Totentanz’ finden womöglich in der Passage heute (Fest im Palais Guermantes) eine Bestätigung. In diesem ‚Milieu’ der Verkleidungen und Metamorphosen werden Wahrheiten über die Abgründe und Absurditäten unseres Daseins anschaulich gemacht. Die Öffnung zur Groteske ist für mich ein Zeichen ...
Möglichkeiten der Erkenntnis auf Wirklichkeitsausschnitte, d.h. auf Fragmente beschränkt bleiben, ganz gleich, ob wir ein Mikroskop oder ein Teleskop bei der Betrachtung der Welt(en) benutzen.
…der Rückgriff auf eigene Erfahrungen weniger beitragen kann. Da der Leser inzwischen vertraut ist mit der Art, wie dieser Erzähler die Welt erlebt und einschätzt, kann er seinen Gedankengängen auch folgen, wenn ihm die ‚abgeleiteten‘ Schlussfolgerungen überraschend oder abwegig erscheinen, und sie mit den eigenen „Grundaxiomen“ vergleichen, die er bei dieser Gelegenheit womöglich erstmals scharf ins Auge fasst. Nicht zuletzt hier erweist sich für mich der Rang der Recherche als Werk der Weltliteratur: obgleich uns Proust (nicht nur im Bibliothekskapitel) unmissverständlich mitteilt, wie er als Autor gelesen und verstanden sein möchte, ist das von ihm erschaffene Universum weiträumig genug, die Wahrheit, die jeder Leser für sich selbst in der Recherche finden kann, mühelos zu umspannen. Und jede einzelne ist wahr. Eine der „überzeitlichen“ Lehren, die sich aus der Recherche ziehen lassen, ist die, dass es ‚Wahrheit‘ nur im Plural gibt, da unsere…
… und in einem Werk stets (auch) sich selbst begegnen wird, ist natürlich weder neu noch originell. Um den Leser zu bewegen, sein eigenes „inneres Buch“ zu entziffern, geht Proust nach meiner Beobachtung gleichsam ‚verdeckt‘ vor. Es gelingt ihm, im Leser den Eindruck zu wecken, der Text sei an ihn persönlich gerichtet, obgleich der Erzähler ausschließlich von sich selbst spricht. Am Anfang gibt es noch kein verallgemeinerndes „wir“. Ich kann mir keine Leserin, keinen Leser denken, der die Erlebnisse des Erzählers auf Sonntagsspaziergängen, seine Empfindungen und Ängste in den Schilderungen des Ferienalltags in Combray nicht unaufhörlich und unwillkürlich mit den eigenen Erfahrungen vergleichen würde. Die allerersten Kommentare, die wir hier im Forum ausgetauscht haben, sind ein Beleg dafür. An diese ‚Lesehaltung‘ gewöhnt sich der Leser unmerklich, und sie kommt ihm zustatten bei der Lektüre der Romanteile, zu deren Verständnis…
Zur Lesung gestern: Der Autor stellt dem Leser mit seinem Werk ein Instrument zur Verfügung, das ihn in die Lage versetzt, in sich selbst zu lesen und dabei vielleicht zu Einsichten zu gelangen, die ihm ohne das Buch verschlossen geblieben wären – diese Vorstellung finde ich ungemein anziehend. Zudem mutet sie überaus modern an, setzt sie doch eine Interaktion zwischen Leser und Werk voraus, bei der dem Leser eine aktive (statt einer vorwiegend rezeptiven) Rolle zugewiesen wird. Freilich muss der Autor zugestehen, dass die ‚Wahrheiten‘, die dem Leser mit seiner Hilfe aufgehen, unter Umständen andere sind als die, welche er selbst gefunden hat; sie könnten sich sogar auf die ‚unverbrüchlichen Gesetzmäßigkeiten‘ erstrecken, die der Autor ‚erkannt‘ hat und auf denen sein Werk beruht. – Die Erkenntnis, dass der Leser, der ein Buch aufschlägt, - ob er es sich bewusst macht oder nicht – immer auch in sich selbst zu lesen beginnt…
Ich komme mit dem Fortgang der Bibliotheksszene nicht klar. Der Erzähler zieht im Handumdrehen reihenweise Lehren („Lektionen“) aus seinem Leben, seinen Begegnungen, Gefühlen usw., deren W a h r h e i t er nach eigenem Bekunden (wie von ihm in derselben Szene mehrfach geäußert) doch erst finden könnte, wenn er sie in einem längeren, von Zufällen begleiteten Prozess - im Aufschreiben, im Verfassen seines Werks – aus zeitlich verstreut W i e d e r g e f u n d e n e m verstandesmäßig aufs Ideale, Allgemeine hin läutern und ‚komponieren’ würde.
Noch ist er nur im Begriff, der Künstler zu sein oder zu werden, den er in sich glaubt und den er nun den Mut hat, schriftstellerisch h a n d e l n d zu beweisen. Dass die „Auslösung des geistigen Lebens“ in ihm „jetzt nachdrücklich genug erfolgt“ sei, klingt mir eher wie ein Wunsch, übrigens ebenso seine Gewissheit, auch das Gesellschaftliche über analoge tiefe Empfindungen ästhetisch zu meistern.
Warum nicht ein zweites Mal lesen? Jedenfalls abschnittweise, und wenn auch mit Mühe, dann vielleicht im Original. Manche Bücher begleiten einen eben länger durchs Leben, oder lohnen ein Wiederlesen in einem anderen Lebensalter oder -abschnitt. Ich erinnere mich, zuerst in jungen Jahren durch die Lektüren von Alexander Neill (Summerhill) auf die "Liebe von Swann" gestossen zu sein, und habe mich damals einfach maßlos gewundert über diese Erwachsenenwelt. Aber das "nicht sein Genre" hallte eben lange nach (wie ich inzwischen weiß, auch damals noch in französischen Filmen als Ausdrucksweise verwendet, übersetzt dann aber einfach als "nicht sein/ihr/mein Typ").
Danke für die umgehende ausführliche Antwort, Herr Reimann. Und für dies: …“dass für ihn das Traumverborgene und das Augenaufschlagen der Dinge und des Schlafenden zusammengehören; sie fungieren als vorbewusste Boten dessen, was offenbar werden soll“ … wunderbar.
…die Eigenart seiner Gedankenkomposition erst richtig durchschauen und genießen kann, wenn ihm die Leitmotive vertraut sind und er imstande ist, symbolische Anspielungen „nicht nur rückwärts, sondern auch vorwärts zu deuten“. Trifft dies nicht auf die „Recherche“ in noch höherem Maße zu? Dennoch würde man heutzutage wohl zögern, eine erneute Lektüre aller 7 Bände zu empfehlen. Aber ein ‚Wiederlesen‘ von Passagen, die beim ersten Hören/Lesen etwas in mir zum Klingen brachten, empfinde ich als Bereicherung. Das Bibliothekskapitel gehört ohne Frage dazu.
Lieber Herr Schlothauer, ich freue mich, dass Sie noch dabei sind. Wir sind in der„Recherche“ schon auf viele Passagen gestoßen, die es ‚in sich hatten‘, aber in diesem Kapitel treten sie so gehäuft auf, dass ich mich geradezu überrumpelt fühlte. Als Leser/Hörer kann man die Aufmerksamkeit nicht auf alle wichtigen Aspekte gleichzeitig richten. Selbst beim Zurückblättern und Wiederlesen erfasst man nur Ausschnitte und muss mit dem Bewusstsein leben, dem Werk als Ganzes nicht gerecht werden zu können. Wir müssen uns auf wenige Aspekte beschränken, und selbst diese können wir selten angemessen würdigen. - In der „Einführung in den Zauberberg“ für Studenten der Universität Princeton stellte Thomas Mann die von ihm selbst als „anmaßend“ bezeichnete Forderung, seinen Roman zweimal zu lesen. Dieses „sehr arrogante“ Ansinnen begründete er damit, dass der Leser…
...offenbare das Geheimnis der Dinge, sie schauen ihn gleichsam selber an – Proust verwendet dafür Worte wie „Zauber“ oder „Sesam-öffne-dich“ und personifiziert die scheinbar toten Gegenstände, um auszudrücken, dass sie zum lebendigen Innen des Entdeckers werden, ihn enthusiasmieren. So auch Elstir, dessen Sehe-Kunst in der Verwandlung der Dinge bestehe.
Wir dürfen wohl anmerken, dass 100 Jahre zuvor Eichendorff eine vergleichbare Empfindung hegte, s. seine „Wünschelrute“:
„Schläft ein Lied in allen Dingen,/Die da träumen fort und fort,/Und die Welt hebt an zu singen,/Triffst du nur das Zauberwort.“ Prousts Umgang mit dem Traum-Motiv (und dem Aufwachen!) zeigt, dass für ihn das Traumverborgene und das Augenaufschlagen der Dinge und des Schlafenden zusammengehören; sie fungieren als vorbewusste Boten dessen, was offenbar werden soll.
(Das war also mein ‚Senf’ zum Anaxagoras und seinen Erben ...)
... Der Erzähler bezieht dieses Moment wiederum auf das gelungene Kunstwerk. Der Gedanke läuft auf die Feststellung hinaus, >>dass echte Einheit (des Werkes) am Anfang nichts von sich wisse, lebendig, nicht logisch entstehe, aus Eingebung geboren sei ... >> Freude, Jubel, Beflügeltsein des Schaffenden und: Rückbindung an „unermüdliche Arbeit“ und „stoffgebundene Apparate“<< (mein Kommentar vom 1.12.21)
Das „lebendige“ (aus innerer „Notwendigkeit“ geschaffene) Werk, in seiner wahren Subjektivität also, erzeuge echte Intersubjektivität, es vermittle jedem seelenverwandten Leser das Eintauchen in sich selbst und die Entdeckung sowohl seiner selbst als auch der Künstler-Seele als des authentischen Anderen. Beide klingen sozusagen zusammen – literarisches Ideal, das Proust mit seinem Werk wohl vor Augen steht.
Ein Schlüssel dafür sei die wahre Dichter-Sprache; sie sei Augenöffner auch hinsichtlich der Erscheinung, der Dinge; das ingeniöse Empfinden/Wahrnehmen des Künstlers ...
Zu Wagner: Ich meinte keinen seiner Texte, sondern bezog mich auf seine Erwähnung in Prousts Roman, hatte v.a. die Klavierszene aus „Die Gefangene“ vor Augen. Im nachhinein erscheint mir diese Episode wie eine Vorszene zur Bibliothekszene. Der Erzähler befasst sich mit dem, was landläufig Wagners Leitmotiv genannt wird, geht aber, denke ich, in zweifacher Hinsicht darüber hinaus. Für ihn sind Leitmotive nicht nur Marken der Wiedererkennung, sondern er spürt darin, dass Wagner in seiner Musik solche Motive (in späteren, entwickelteren Kontexten) wiederfindet (!), die Spuren, die einmal gelegt waren, selber ‚überrascht’ erneut komponiert. Man könnte darin eine Analogie zum Proust’schen „Wiederauferstehen“ sehen. Der Gedanke/die Analogie wird sogar erweitert, indem Wagner unterstellt wird, er habe erst im Fortgang solchen Komponierens sein „Werk“, den Zyklus des „Rings“ z.B., entdeckt.
Andererseits ist Bestandteil der Klavierszene die Reflexion über das „Anderssein“: ...
… Beobachtungen von Pflanzen auf Spaziergängen etc.) Im Laufe des Romans begreift der Erzähler, dass die verborgene Welt, auf die ihn die Dinge verweisen, nicht außen, sondern in ihm selbst liegt. In der Aufgabe, die Zeichen der Bilderschrift seines eigenen „inneren Buches“ zu entschlüsseln und in Sprache zu übersetzen, erkennt der Erzähler im Bibliothekszimmer Sinn und Ziel seines zukünftigen Werks, an dessen Entstehungsprozess er den Leser von der ersten Seite an teilnehmen lässt. Der Titel des Zyklus betont das Unabgeschlossene, das Werden; der Titel des letzten Bandes lässt sich streng genommen nur auf die beiden letzten Kapitel beziehen. Die Bibliotheksszene steht im Zeichen der Hoffnung und Zuversicht: Die kostbaren Augenblicke, die verloren waren und ihm , zeitenthoben, wiedergeschenkt wurden, gilt es festzuhalten im Werk, das ihn überdauern wird.
Lieber Herr Reimann, verraten Sie mir, an welchen Stellen Sie an eine Patenschaft Wagners dachten? Wenn ich mich mit einem Text als Sprachkunstwerk beschäftige, bin ich manchmal so ‚eingelesen‘, dass ich selbst naheliegende Parallelen übersehe. Die einzigen Gedanken von ‚außerhalb‘, an die ich mich in der Recherche häufig erinnert fühle, stammen, kurios genug, von den Vorsokratikern. Ein Beispiel: einem Anaxagoras zugeschriebenen Satz zufolge eröffnen die Dinge, die unseren Sinnen in der sichtbaren Welt erscheinen (phainomena), eine Sicht auf die nicht offenbare, verborgene Welt. Seit seiner Kindheit sucht der Erzähler in den „erscheinenden Dingen“ nach der nicht offenbaren Welt in und hinter den Dingen, deren an ihn gerichtete Botschaften er zu enträtseln versucht. V.a. in „Combray“ und „Im Schatten…“gab es viele Beispiele (Widerschein des Lichts auf einem Stein nahe Montjouvain, die Bäume von Hudimesnil,…
Liebe Frau Windeck - ohne viele weitere Worte möchte ich Ihnen nur kurz versichern, dass ich diese Passagen (in der Bibliothek, die Lektüre liegt bei mir schon einige Zeit zurück) auch mit am bedenkenswertesten fand, Proust schlägt da wirklich noch einmal großartige Volten um sein eigenes Schreiben herum.
Ich stimme vollkommen zu, Herr Reimann. Künstlerische Wahrhaftigkeit ist nicht abhängig von der Ehrlichkeit des Künstlers sich selbst oder dem Leser gegenüber.
Noch ein Nachtrag, der mir heute beim Wiederlesen auffiel und die ‚Nobilitierungsthese‘ stützt: Jäh überwältigende Freude, die alle quälenden Fragen, alle Ängste gegenstandslos macht – Gewissheit. Gewissheit jenseits aller Beweise und verstandesgemäßen Einsicht. Vor allem durch die beschwörende Wiederholung („Certitude!“) wird für das französische Publikum hier ein Echo von Pascals berühmtem „Mémorial“ unüberhörbar, das ganz gewiss nicht zufällig ist.
Ja -
Die Fragen nach Plausibilität von Erinnern und/oder Vergessen sind kaum zu beantworten. Regie führt der Autor, der entschieden hat, zu welchen „Wiederauferstehungen“ (auch bis in die Details) das ihm zufallende/ereignende „Wunder“ oder die „göttliche Speise“ des unwillkürlichen Aufblitzens (Madeleine, Teelöffel usw.) ihn das „Wesen“ (seine ihm zuteil gewordene innere Kraft) führt. Das ist die Autonomie des Schriftstellers/Künstlers, der wir folgen, wenn wir lesen – und erst recht, wenn wir die Worte hören. Prousts Imaginationskraft und ihr Zwilling, seine Sprachkraft, sind wohl die eigentliche Beglaubigung seines Werks. Die künstlerische Wahrhaftigkeit möchte ich nicht abhängig machen von der Ehrlichkeit (s. Montaigne: Dies ist ein aufrichtiges Buch, Leser!). Als literarisches Kunstwerk bleibt es ungeschmälert groß, auch wenn die in der Bibliotheksszene präsentierte „Offenbarung“ wohl seiner Analyse ein gesteigertes ‚laureatus sum’ verleihen möchte.
…dieser Woche bietet dafür eine neue Erklärung. - Ergebnis solch kritischer Hinterfragungen kann letztlich bestenfalls der Nachweis sein, dass die Imagination des Künstlers an den Ergebnissen seiner Analysen mehr Anteil hat, als er den Leser glauben machen will. Und ich wäre die letzte, die einem Autor das Recht abspräche, an jedem Punkt seines Werks den Eingebungen seiner Vorstellungskraft zu folgen – selbst wenn sie in Gestalt scharfsinniger Deduktionen auftreten, die nach den Regeln lupenreiner Logik gewonnen wurden.
Bei den Lesungen der Bibliotheksszene scheint kommentierende Deutung durch den Leser sich zu erübrigen: Proust entwickelt seine Haltung Schritt für Schritt und spricht sie unmittelbar aus; wir brauchen ihm lediglich zu folgen. Deshalb finde ich es angemessen, wie Sie es tun, hier eher mit Zitaten als mit eigenen Paraphrasen zu operieren. – Meine Frage nach den Seltsamkeiten der 3 „Visionen“ zielte weniger auf ihre Zufälligkeit. Als seinerzeit die Madeleine-Episode gesendet wurde, fanden es manche Leser – auch ich – schwer nachvollziehbar, dass dieser mit einer so außerordentlichen Empfänglichkeit für Sinneseindrücke begabte Erzähler seine Kindheit in Combray (bis auf das ‚Gutenachtkuss-Trauma‘) ganz ‚vergessen‘ haben sollte, bis sie der Geschmack der Madeleine wie durch Zauberschlag in ihm wiedererstehen ließ. Die Lesung…
22/39:
Die Reflexionen zur Poetik wirken überzeugend und befreit vom mystischen Auftakt der Bibliotheksszene, vor allem die Kritik an den Spielarten von plattem Realismus und Tendenzliteratur. -
Es findet sich eine Passage, die wunderbar formuliert ist, und zwar am Ende des Abschnitts über ‚François de Champi’, die Kindheitslektüre (von der Mama vorgelesen). Der Erzähler bekennt seine Angst, diesen Roman als Erwachsener aufzuschlagen, denn es würde sich der ursprüngliche Eindruck (unverhofft „wiedererweckt“ beim Erblicken des Romantitels auf einem der Buchrücken) verfälschen, ja das Kind von damals „für immer begraben und vergessen“ sein, da „dieses Kind den Tonfall des Werks nicht wiedererkennen (...) würde“. Das ist eine schöne Umschreibung des Ideals einer Vergegenwärtigung vergangener Wirklichkeit.
[Frage: Hatten wir nicht festgestellt, dass in Prousts Roman der ‚Erzähler’ oft als späterer dem frühen die Feder/das Wort/die Gedanken führt?]
...
Mir kommt der ‚Mönch in der Klause’ in den Sinn, dessen Streben nach einer ‚summa’ mir den Gedanken nahelegte, er wolle einen ‚Gottesbeweis aus sich herauspressen’.
Hier ist’s die Beglaubigung von Wahrheit und Leben durch eine „ewigkeits“geprägte Wesenssubstanz im tiefen „Empfinden“, worin Subjektivität als in überzeitliche Wahrheit verwandelt erlebt wird (Transsubstantiation – heißt es auch an einer Stelle) ...
Uneingeschränkte Zustimmung, Frau Windeck! - Enthusiasmus und Gestus von Religiosität und Mystik kommen in dieser Passage zum Ausdruck. Besonderen Dank auch für die Hinweise auf Wagner; dessen Kunst- und Lebenspathos standen im Roman schon oft Pate.
Also ja! Der Pan-Physiologe wird zum Mystiker. Ein „Wesen“, wortreich im betörenden Proust-Sound beschworen, kommt über den Erzähler, senkt sich in ihn und „beschenkt“ ihn mit „Beseligung“, „Errettung“, „Wiedergeburt“, „Auferweckung“ usw.
Metaphorisches Sprechen liegt wohl nicht vor, eher das Bedürfnis, in dramaturgischer Zuspitzung das eigene Künstlertum aufspringen zu lassen aus („Zu-fall“!) „dunkler“ Koinzidenz, Korrespondenz und Resonanz – eine Überhöhung auch, die wohl das in der Folge ausgebreitete ästhetische Credo adeln und dem Künstler-Ich absolute Nobilitierung verschaffen soll.
...
Die masochistischen Gelüste des Charlus oder die allg. Enthemmung (Metro-Szenen) gehören wie auch die absurden Gespräche der Arbeiter und Soldaten und der Heroismus Saint-Loups für mich zum ‚Totentanz’ im allgegenwärtigen Krieg. Es sind zugleich Bilder von Niedergang und bizarrem Überleben aus der Perspektive friedlicher Ohnmacht und Weichheit.
Umso stärker der Kontrast zum Erweckungserlebnis des Erzählers in der Bibliothek.
Interpunktion in Zeiten des Krieges...
Merkwürdig. Ich lese Proust wie zur rechten Zeit. Ideologiesierung und Selbstideologiesierung, gar Ästhetisierung(???) des Krieges. Das Leben Charlus' zwischen den Welten seiner Herkunft, seines Daseins. Die Betrachtung seiner sexuellen Obsession keines Kommentars wert? Dass Bevölkerungen sich im Krieg ähnlich schräg wie Individuen verhalten...mein Gott.. schöngeistige Debatten...bewahre mich vor dem Kaffeehaus...grins
…von inszeniertem Pathos vermeiden - oder den Vorwurf der Irrationalität im Voraus entkräften. Trotzdem: die Beschreibungen vermitteln eine Ahnung des Sakralen und, ja: Mystischen, das in den ausgefeilten Rationalisierungsversuchen nicht aufgeht.
…nicht die Vinteuils, sondern das Karfreitagsmotiv aus dem 3.Akt des ‚Parsifal‘. Es fällt nicht schwer zu sehen, worin der „reine Tor“ dem Erzähler ähnelt: ergriffen von dem heiligen Geschehen, dem er beiwohnt, erstarrt er, da er mit dem, was ihm widerfahren ist, nichts anzufangen weiß. Erst als er ‚versteht‘, ist er fähig zu handeln. Der beibehaltene Titel des Kapitels ließ sich leicht auf die rituelle Gralsenthüllung beziehen; andere Parallelen sind sinnfällig. In „Im Schatten…“ ist der Bezug zu Wagners Oper erhalten: die „jeunes filles en fleur“werden in einer längeren Passage explizit mit den Blumenmädchen in Klingsors Garten gleichgesetzt; damals lasen wir sie freilich nur als weitere poetische Metapher. Wir können nur spekulieren, warum sich Proust für die vorliegende Version entschied; ich vermute, er wollte mehr Gewicht auf die vernunftgeleitete, nach seiner ‚Methode‘ durchgeführte Analyse der drei Erlebnisse legen und jeden Eindruck …
Was in der Bibliotheksszene auffällt, ist die Häufigkeit von Wörtern aus der religiösen Sphäre. Die Momente der Koinzidenz von Vergangenheit und Gegenwart sind „Visionen“, der Erzähler erlebt sie als „Beseligungen“. Das Wesen in ihm, das außerhalb der Zeit steht, empfängt dadurch „himmlische Nahrung“. Mehrfach ist von „Auferstehung“ (résurrection) die Rede; in der ‚Erkenntnis‘ des Erzählers schwingt eine ‚Offenbarung‘ mit. Das Kapitel trägt den Titel „Die ewige Anbetung“(wurde in der Lesung nicht mit vorgelesen): ein Begriff aus der katholischen Liturgie (l’adoration perpétuelle).Kein Zweifel, dass hier aus Sicht des Erzählers Außerordentliches berichtet wird. – Wir müssen die Recherche so lesen, wie sie vorliegt. Dies eine Mal möchte ich dennoch eine frühere Fassung erwähnen. Ursprünglich sollte die bei den Guermantes‘ aufgeführte Musik, die der Erzähler im Bibliothekssalon hört, Teil seiner ‚Erkenntnis‘ sein, und zwar …
... nicht frei. -
Was könnte „zufälliger“ sein als solche Boten wie Pflastersteine, Madeleines, Teelöffel oder Stoffservietten?
Ist auch die Empfindungsfähigkeit und Evokationskraft des Erzählers zufällig?
Und - hat er nicht die Aufgabe vor sich, das, was er „zeitenthoben“ und „außerhalb der Zeit“ und „von der Ewigkeit geprägt“ nennt, erzählend in Orte und Zeiten zurückzuübersetzen und für diese Aufgabe die Form zu finden?
Lesung 21) Sammeln, sacken lassen und den Kopf heben:
„(...) hatte sich in mir (...) eine Empfindung gebildet, deren Strahlung (...) dem Ort, an dem ich mich befand, sowie auch einem anderen Ort gemeinsam zugehörig war“ -
„(...) dass wir ein derart starkes Glück empfinden , wenn uns ein Zufall die wirkliche Erinnerung daran* entgegenträgt“ (*an „unser wahres Leben, die Wirklichkeit, wie wir sie verspürt haben“) -
Es gelte offenbar, dieses „Geschenk“ von „Wiederauferstehungen“ oder „Wiederauferweckungen“, von „wirklicher Erinnerung“ und „Vision“ - sekundenschnell aufscheinend, „allumfassend“, aber „flüchtig“ - festzuhalten; den „Ein-druck“ letztlich in Erzählung zu verwandeln.
Der Text charakterisiert solches Erzählen so: sinnfälliges Wachrufen der „Stätten/Orte“ des Lebens; Hinabtauchen in die Tiefe des Ich, um das „Buch in meinem Innern“ zu entziffern („Schöpfungsakt“);
Schreiben als Entdecken einer „präexistenten“ Schrift („notwendig und verborgen“), der Künstler ...
…allen Schlussfolgerungen und der „Lehre, die sich daraus ziehen ließ“ in einer einzigen Lesefolge vorkommen. Sogar sein Fazit „Die wahren Paradiese sind die, welche wir verloren haben“ ist enthalten. In dieser (und vermutlich der heutigen) Folge enthält jeder Satz grundlegende Aufschlüsse über Prousts Denkweise, sein Selbstbild als Künstler und seine Weltanschauung.(„Nur zum Schluss, da scheint es schnell zu gehen und schnell gegangen zu sein, dem Ende zu…“) Im Augenblick weiß ich kaum, wo man mit eigenen Überlegungen anfangen sollte. Am besten ist es wohl, abzuwarten, welche Aspekte den verbliebenen Foristen (ich weigere mich noch, den Singular zu setzen) denkwürdig scheinen.
Nach der Lesung gestern müssen wir wohl alle einiges „sacken lassen.“ Ich wollte noch ganz gemächlich auf die Passage (Montag) hinweisen, in der der Erzähler durch die ihm von früher vertrauten Pariser Straßen fährt. Man kann sich von der Sprache tragen lassen und wird von sanfter, weicher Melancholie angesteckt. Allenfalls könnte man sich fragen, wie es kommt, dass dieser Erzähler sich eigentlich nie auf etwas ‚ganz Neues‘ gefreut hat, Unbekanntes stets mit erhöhter Anspannung, ja Abwehr erlebt und erst dann erleichtert und zufrieden genießen kann, wenn in neuen Eindrücken das Vertraute überwiegt. -
Jetzt hat es mich kalt erwischt. Meine Begegnung mit der Recherche liegt Jahre zurück; ich hatte nicht damit gerechnet, dass die drei „beseligenden Erlebnisse“ (über deren Seltsamkeiten ich gern die Meinung anderer Foristen wüsste), die anschließenden Reflexionen samt…
Erst Krieg, Maskerade und Totentanz - nun erlebt der Erzähler unwillkürlich den Moment einer Neu- und Wiedergeburt:
Nach heftigen ‚intermittences’ von Zweifeln und Skrupeln wird ihm durch Zufall eine beseligende Empfindung geschenkt, für ihn die plötzliche Erkenntnis seines wahren Ich, doch zum Schriftsteller und Künstler befähigt zu sein.
Der Erzähler wird sich seiner originären Befähigung bewusst, die „Essenz der Dinge“ (die wahre Wirklichkeit) mit allen Sinnen zu empfinden - losgelöst und befreit von der Zeit oder: außerhalb der Zeit, wie es heißt.
Beglückend ist der Moment für ihn, weil er dank seiner tiefen Empfindungsfähigkeit die Wirklichkeit von damals in allen sinnlichen Facetten aufs neue erlebt – weil wachgerufen aus scheinbar verlorener Zeit Vergangenheit zur wiedererweckten Gegenwart wird - für den Erzähler das Zeichen, zum Erzähler seines wirklichen Lebens berufen zu sein.
Intermezzo Krieg bei Proust: Maskerade und Totentanz ... – und danach? Ein Wendepunkt?
Geil - Marcel beschreibt heute die Lactoseintoleranz! ;-).
Geil - Marcel beschreibt heute die Lactoseintoleranz! ;-).
Danke für die Zitate. Sacken zu lassen brauche ich nichts. Es schien mir sinnvoll, kurz vor Beginn des vorletzten Teils innezuhalten und die Frage nach dem Titel des Romanzyklus ins Spiel zu bringen. Der Fluss der Erzählung geht in den kommenden Leseabschnitten in eine Richtung, zu deren Erhellung die zitierten Textpassagen nur indirekt beitragen. Wir sollten sie im Hinterkopf behalten und Ihrem Vorschlag gemäß später darauf zurückkommen.
...
„(...) Wahrheit unserer Charaktere, deren wesensmäßige Gesetze uns verborgen blieben und der mächtigen Zeit bedurften, um uns offenbar zu werden“ /
„Nicht allein Albertine war eine Aufeinanderfolge von Augenblicken, sondern auch ich selbst.“ /
„Später aber, als ich in umgekehrter Richtung die Zeiten wieder durchmaß, durch die ich hindurchgegangen war (...)“
Mein Vorschlag: sacken lassen und später aufgreifen ...
(1188): „Trotz der Widersprüche und scheinbar unlösbaren Schwierigkeiten im ‚Umgang‘ mit der Zeit mutet Proust dem Leser die Vorstellung zu, Zeit sei etwas, das man verlieren könnte, das man suchen und sogar wiederfinden kann.“
Dazu 5 Zitate aus: Die Entflohene
„Wenn auch Albertine in meinem Gedächtnis, so wie sie nacheinander im Laufe des Lebens erschienen war, wohl einzig in Fragmenten der Zeit existierte, so machte mein Denken, das unter ihnen die Einheit wiederherstellte, wiederum ein einziges Wesen aus ihr (...)“
„(...) und meine Trauer um Albertine und das Fortbestehen meiner Eifersucht (...) hätten zweifellos sich nie sehr gewandelt, wäre ihre Existenz (...) einzig dem Spiel meiner Erinnerungen unterworfen gewesen – den Wirkungen und Rückwirkungen einer Psychologie, die auf unbewegliche Zustände anwendbar ist – und nicht in den Sog eines umfassenderen Systems, in welchem die Seelen sich in der Zeit bewegen wie die Körper im Raum“.
...
… und setzt ein anderes Zeitempfinden voraus (selbst wenn wir annehmen würden, dass es um nichts anderes als um ‚Wiedergabe‘ geht), das sich wiederum von dem unterscheidet, das der Leser beim Lesen erlebt, indem er der Erzählung folgt. Trotz der Widersprüche und scheinbar unlösbaren Schwierigkeiten im ‚Umgang‘ mit der Zeit mutet Proust dem Leser die Vorstellung zu, Zeit sei etwas, das man verlieren könnte, das man suchen und sogar wiederfinden kann. Eigentlich kein Wunder, wenn wir uns bei unseren Bemühungen um Verständnis in (echten oder vermeintlichen) Paradoxien verheddern…
Die Zeit ist der ‚Hintergrund‘, der auch dann da ist, wenn Zeit sich nicht zu manifestieren scheint oder kein Aspekt wahrgenommen oder erlebt wird, der auf sie verweist. Der Beginn des Romans ließe sich unter dem Gesichtspunkt lesen, dass die Zeit für den Erzähler etwas Unfassbares ist, das er dennoch in seinen Empfindungen und Erinnerungen zu „fassen“ versucht. Die erzählte Zeitspanne wird dadurch unvermeidlich bis an die Grenze des Nachvollziehbaren gedehnt: der Leser vergisst leicht, in welcher Situation das „Ich“, von dem die Rede ist, sich befindet. Von Anfang an tut sich mehr als ein Dilemma auf. Zeit lässt sich selbstverständlich weder dehnen noch kürzen; der Eindruck unterschiedlicher Dauer wird durch verschiedene Erlebnisweisen bewirkt: der des Erzählers, als er die flüchtig in ihm aufsteigenden Bilder und Reflexionen zunächst im Gedächtnis zu fixieren versucht; die Tätigkeit des Aufschreibens übersteigt bei weitem die Dauer des Erlebten…
Gegen diese Interpretation ist nichts einzuwenden, lieber Herr Reimann. Ich habe Nr 1178 nochmals gelesen, und für mich sieht es aus, als würden Ihre ‚Entgegnungen‘ (z.B. ‚Ambivalenz der Dinge ist keine zeitliche Kategorie‘ – wo hätte ich dies behauptet?) meine Überlegungen eher unterstützen. Zeit als Kategorie wird von Proust nie direkt thematisiert. Seinen Zugang könnte man als pragmatisch bezeichnen, und dies setzt er wohl auch beim Leser voraus. Ich bin ihm darin gefolgt. Der Erzähler erlebt Zeit indirekt, als Wirkung, deren alleinige Ursache die Zeit nicht unbedingt zu sein braucht. Zeit ‚manifestiert sich‘ auf verschiedene Weise. Proust stellt allerdings sehr wohl eine Beziehung her zwischen der fortschreitenden Zeit und dem unablässigen Wandel und den Veränderungen, die der Erzähler in der Außenwelt und in sich selbst wahrnimmt und registriert. Je mehr Zeit abgelaufen ist, desto auffallender naturgemäß die Veränderungen, bis hin zum Nichtwiedererkennen. ...
... Wendungen wie „ein beachtlicher Teil der Schönheit in den Dingen selber“, „angemessenste Sicht“, „Malerei in geliebter Erinnerung immer beheimatet“, „ein wenig von der Schönheit im Dunkel versank“. Der Erzähler rückt ab von der Ausschließlichkeit (s)eines „absoluten Gesichtspunkts“ und bestätigt abermals das Moment der Geschichtlichkeit: Elstirs gemeinsame „Heimat“ mit Verdurin vergeht realiter mit dessen Tod (und erst recht mit Elstirs Tod). Was nach dem Tod davon bleiben soll, kann im historischen Bewusstsein (von Schönheit) bewahrt werden. Individuelle Erinnerung ist darin jeweils eingebettet und bedarf selbst der Realien, der Gesellschaft usw. – Die Elstir-Passage steht wohl wieder einmal für das Proust’sche Credo des Erzählens.
Ich würde auf eine Replik verzichten, liebe Frau Windeck, sähe ich nicht dank Ihrer Anregung in der diskutierten Passage eine Flaschenpost-Stelle des Romans mit einer Botschaft zur Proust’schen Ästhetik. Elstir betrauert M. Verdurins Tod, weil mit diesem ein Stück „Materie“ des Werks verstorben sei. Es geht um das, was v o r der Betrachter-Rezeption liegt: um die reale Innenseite der ursprünglichen, im ‚Austausch’ zwischen Künstler und Modell/Gesellschaft erlebten und vollzogenen Kunst-P r o d u k t i o n - einen nicht wiederholbaren oder reproduzierbaren Schöpfungs- oder Verwandlungsakt; diese gemeinsame, untrennbare Teilhaberschaft an der Entstehung von Schönheit erlebt Elstir gleichsam auch als doppelte Zeugenschaft auf Seiten des Künstlers wie des Teils der Gesellschaft, die in Kunst verwandelt wurde. M. Verdurin war für E. deshalb auch mit „Augen und Hirn“ Teil seiner Werk-„Heimat“. So der Kontext, denke ich, zum Verständnis von ...
…erkannt und so in gewisser Weise hervorgebracht. Diese von Verdurin erkannte Schönheit erlischt mit ihm. Unberührt davon bleibt Elstirs Zuversicht, dass nachgeborene Betrachter neue, andere Schönheiten in seiner Kunst finden werden – aber eben nicht die Verdurins.
In Nr 1176 weise ich auf eine Textstelle hin, die einen Aspekt der Zeit enthält, der mir bedenkenswert scheint und im Forum noch nicht besprochen wurde. Auch wenn Sie anderer Meinung sind, empfindet Elstir die Sichtweise seiner Zeitgenossen als richtiger: so schreibt es Proust. Natürlich können Sie dem Text Ihre Sätze entgegenstellen. -Mir fiel eine mögliche Analogie der Passage zu Bergottes gelbem Mauerstück auf, das – vielleicht- nur er in Vermeers Gemälde gesehen hat. Elstirs Trauer über Verdurins Tod setzt das Wissen voraus, dass ein Kunstwerk nicht ausschließlich aus sich und für sich dasteht, sondern der Betrachter an ihm Teil hat, es in sich erschafft, indem er es ‚sieht‘ und erkennt. Nach Elstirs Überzeugung hat Verdurin die Schönheit seiner Werke in seiner eigenen Sichtweise…
Lesung 12/39:
Ich würde gern wissen, w a n n Proust diesen Abschnitt über den 1.Weltkrieg verfasst hat. Er lässt Charlus hier Dinge sagen, deren ungeheure Menschlichkeit uns gerade heute treffen und tief berühren kann, die wir abermals zu Zeugen des Kriegs in Europa geworden sind. -
Ich hatte zum ersten Mal - 2011 in Naumburg anlässlich einer Ausstellung zur Skulptur der Gotik in Europa - von der Beschießung der Kathedrale von Reims erfahren ...
... *(s.1178)eine Mystifikation, Wendungen ähnlich wie „Der Krieg fordert Opfer“.
À propos Krieg: Die Protagonisten mit ihren Gewohnheiten, Bedürfnissen, Phrasen werden nun kenntlicher. Und der Erzähler, unkriegerisch und weich wie auch Charlus, scheint (ratlos/pessimistisch?) Zuflucht zu suchen in einer Geschichte konterkarierenden physiologischen Psychologie ...
... Wenn etwas seiner Meinung nach ‚untergeht’, so bedauert er dabei das schwindende historische Bewusstsein. Das macht die Anschauungen von damals/der Zeitgenossen aber nicht authentischer, gerechter oder richtiger. Sie bleiben als historisch gewusste oder als gemeinsam erlebte aber s c h ö n ! Der Erzähler/Proust hebt das Vergehende/Vergangene in Ästhetik auf. Und die modernen (Kunst-)Deutungen (der alten Werke) können für ihn weitere Jahresringe ihrer Schönheit ansetzen, Facetten ihrer Schönheit ans Licht bringen – ebenfalls ‚gerecht’ sein. Schönheit unterliegt so gesehen ebenso dem, was wir Wandel nennen. >>
Ihre Gedanken sind gut nachzuvollziehen, Frau Windeck. Ich würde indes anders akzentuieren.
Knapp gesagt in 6 Sätzen:
> Ambivalenz der Dinge ist keine zeitliche Kategorie.
> Wandel findet statt und wird erlebt – dass dabei Zeit abläuft, nun gut; erlebt wird aber nicht die Zeit.
> Zeit bestätigt nichts. Was wir feststellen oder erkennen können, hängt nicht von ihr ab.
> All das o.G. vollzieht sich allerdings ‚in der Zeit’, ‚braucht’ Zeit, that’s all.
> Nicht ganz: Wir neigen dazu, der Zeit eine aktive Rolle zuzuschreiben, z.B. so: „Zeit heilt Wunden“*.
> Wer seine Zeit, d.h. sein Leben erinnernd reflektiert, ‚sammelt Zeit’.
Nun etwas zum ‚zerstörenden Aspekt der Zeit’:
Der Erzähler beweist wie so oft/wie schon früher im Roman einen wachen Sinn für Geschichte, für das Gewordene, für Wurzeln des Gegenwärtigen, für Spuren des Vergangenen – alles Elemente, die in die Gegenwart hineinreichen. Zeitgenossenschaft ist für ihn nur e i n e Form der Authentizität. >>
…die seine Auseinandersetzung mit Whistler und Monet nachvollziehen und daher sein Werk ‚richtiger‘ und ‚gerechter‘(frz „juste“) beurteilen konnte. Elstir fühlt, dass mit den Augen, mit dem Denken von Verdurin, mit seinem besonderen Verständnis und Bewusstsein von der Schönheit seiner (Elstirs)Werke, ein Teil dieser Schönheit selbst ausgelöscht wird.
Die Zeit wird in der Recherche als ständiger Wandel erlebt, vor Augen geführt und reflektiert. Sie steht hinter der Ambivalenz der Dinge, den Fehleinschätzungen und Missverständnissen von Personen und Situationen; sie bestätigt, dass nichts feststeht oder sich feststellen lässt, jede Wahrnehmung, jede Erkenntnis vorläufig ist. Hier nun, im letzten Band, verschiebt sich der Akzent zunehmend auf den zerstörenden Aspekt der Zeit: das Untergehende scheint dem Erzähler wertvoller als das, was an seine Stelle tritt. Das naheliegende Stichwort von der Nostalgie des alternden Menschen, der das Neue nicht mehr versteht und daher das Vergangene zurücksehnt, würde hier aus meiner Sicht zu kurz greifen. In Elstirs Trauer über den Tod von M. Verdurin wird deutlich, dass mehr gemeint ist: Verdurin gehörte nicht nur der Generation an, die das Umfeld teilte und verstand, in dem Elstirs Kunst sich entwickelte,…
Berlin ist das einzige Bundesland, in dem der Weltfrauentag zum Feiertag erkoren worden ist.
Die einen sagen, weil Berlin weniger Feiertage hat als alle anderen Bundesländer. Andere sagen, wurde auch höchste Zeit. Wieder andere sagen, für mich gibt es 365 Frauentage im Jahr.
Wie auch immer: Berlin regulär arbeits- und schulfrei, um 8 Uhr Klassik für Kinder im RBB Kultur.
Und dann natürlich in anderen Bundesländern anrufen und Freundinnen oder Verwandte zwickeln:
WIE JETZT, DU MUSST ECHT HEUTE ARBEITEN?!
Zur Anselm-Kolumne: Ich finde es verblüffend, wie wir derart unterschiedlich einen Text aufnehmen, obwohl wir doch dieselben Wörter und Sätze hören/lesen: Keine Sekunde bin ich auf die Idee gekommen, dass Proust über Strecken nur seine Innenwelt sprechen lässt. Für mich war das immer eine sehr gute Spiegelung der Außenwelt, bei der es oft überraschend heutig und zeitlos psychologisierend aktuell in der Menschenbeobachtung zuging.
Habe ich etwas verpasst? Ich finde heute (8.3.2022) keine Proust-Folge im Podcast. Ist bei Ihnen ein Feiertag?
MfG Claudia Brebach
Kein Problem...und mein Gelächter über " unschön" ging nicht gegen Sie. Es rief nur Erinnerungen wach gegen meinen Deutsch-Oberstudienrat.......
Zu 1170: Claudius statt Gryphius! Tut mir leid – hatte aus dem Gedächtnis zitiert.
„S’ist Krieg! ... Gottes Engel wehre ... und ich begehre, nicht schuld daran zu sein.“(Gryphius)
Selbst fassungslos angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine erlebe ich die Lesung dieser Tage erst recht mit gemischten Gefühlen. Die bekannten Motive, Protagonisten, Schauplätze werden nun unter dem Kriegsvorzeichen abgewandelt/weitergeführt: Das Auf und Ab der Salons, die Mode, das Schwadronieren über Politik (Patriotismus, Dreyfus, Spionage), Adel, Männlichkeit und Inversion ... Wir sind anscheinend schon mittendrin in einer grotesken Maskerade – Bilder von Ensor, Grosz, Beckmann lassen grüßen.
Der Erzähler, als Sanatoriums-Patient vom Kriegsdienst freigestellt, leidet - und bleibt Beobachter, Flaneur: nach Venedig nun Paris, der Giotto-Himmel verwandelt in den Kriegshimmel des verdunkelten Paris, die Engel als Flugzeuge ...
Unschön? Lach!
Für mich ist das Traktathafte unschön, aber kein Problem und die Relativierung von zunächst scheinbar festen Deutungen nicht unbedingt das Wesentliche. Warum?
Zunächst: Es handelt sich bei Prousts Roman um ein fiktives Ganzes, ein aus der Ich-Perspektive gesteuertes erzählerisches Bauen, das – da jene letztlich retrospektiv angelegt ist – mit einem Ich-Baukasten aus zahlreichen Ichs („Personen in mir“) operiert und insofern Aspekte wie Entwicklung, Wandel, Umkehr, auch Voreingenommenheit, Täuschung, Desillusionierung usw. auf beiden ‚Seiten’ – beim Beobachter/Erzähler wie bei allem Beobachteten – stets inkludiert.
Das Spannende für mich: Wie wird dieser ambitionierte epische Bau mit seinen Orten, Protagonisten, Momentaufnahmen ‚in der Zeit’ ausgespannt und ‚am Ende’ zusammengefügt? Zu einem Leben? Zu einem Werk? Oder ...
…werden umso deutlicher, je mehr Zeit vergangen ist. Dies gilt nicht nur für einzelne Romanfiguren, die der Erzähler über Jahre beobachtet (St. Loup, Charlus). Als der Erzähler nach längerem Sanatoriumsaufenthalt nach Paris zurückkehrt, stellt er fest, dass gewohnte Orientierungen nicht mehr gelten.Veränderungen – der Gesinnungen, des Verhaltens, der Mode etc.- haben dazu geführt, dass das Gefüge der gesellschaftlichen Kreise, in denen er verkehrt, sich auflöst, verschiebt, umkehrt. Der Krieg scheint diesen Wandel zu beschleunigen und sinnfällig zu machen. „Die Zeit hat ungleiches Maß" heißt es im Zauberberg. Auf diese vermeintliche Binsenweisheit werden wir wohl noch zurückkommen, ehe unsere Lesung abgeschlossen ist.
Der Anspruch eines Autors, allgemeine psychologische Gesetze aus eigenen Beobachtungen abzuleiten und theoretisch darzulegen, birgt die Gefahr, dass sein Roman zu einem Traktat gerät, bei dem Figuren und Situationen vorwiegend als Illustrationen und Exempel dieser Gesetzmäßigkeiten dienen.(In den vorangegangenen Bänden sind mir manche Szenen aufgefallen, bei denen ich diesen Eindruck nicht ganz beiseiteschieben kann.)Ein starkes Gegengewicht sehe ich jedoch darin, dass der Erzähler als Beobachter meist nicht nur eine, sondern mehrere einander widersprechende Deutungen des Beobachteten in Erwägung zieht und damit unterstreicht, dass ein umfassendes „Durchleuchten“ illusionär ist: unser Urteil stützt sich stets auf Momentaufnahmen eines wahrgenommenen ‚Wirklichkeitsausschnitts‘; zudem ist der Gegenstand der Beobachtung keine feste Größe, sondern wandelt sich ständig, wie der Beobachter selbst. Veränderungen…
Es geht wohl insbesondere um das Problem der Schreibhemmung des Erzählers.
Welche Art der „Beobachtung“ ist nötig, welche „Person in mir“ tauglich für die Realisierung – in einem „Werk“?
In welchem Verhältnis stehen „Oberfläche“ und „Tiefe“, was müssten „Linien“ sein usw.? Wo/bei wem finde ich „Anregung“?
In der genannten Passage ist die Rede von „halber Tiefe“ – was könnte diese Formel bedeuten im Kontext? Ist die nicht-akademische Malerei gekennzeichnet durch „halbe Tiefe“? -
Und angewendet auf die nun einsetzende Kriegsthematik – wie die feine Gesellschaft beobachten, welche Bilder geben diese Leute ab – an der Oberfläche/in der Tiefe? Rückwirkung auf den Erzähler?
…wenn er in verschiedenen Individuen gemeinsame Wesenszüge bemerkt, die auf allgemeine psychologische Gesetzmäßigkeiten schließen lassen. Um diese ist es ihm zu tun. Überzeugender als seine theoretischen Erörterungen wirkt auf mich der Vergleich mit der Portraitmalerei: die akademische Malweise gibt die gefällige Oberfläche wieder (wie die Goncourts), während die andere Wesenszüge aufdeckt, von denen der Betrachter nichts wusste und die er bei dem ‚Modell‘ des Portraits nicht erkannt hätte. Die Schlussfolgerungen, die der Erzähler aus diesem Gleichnis zieht, sind – wie so oft- ambivalent, weil er das Kunstwerk aus einander entgegengesetzten Blickwinkeln betrachtet.
Zu Folge 3u.4: ich könnte mir vorstellen, dass frz.Leser den fingierten Auszug aus dem Journal der Goncourts – eine Parodie ihres gesucht preziösen Connaisseurjargons- mit größerem Vergnügen lesen als deutsche (Proust hat einen ganzen Band mit solchen Stil-Imitationen veröffentlicht). Innerhalb der Recherche ist er aber nicht nur ein Divertissement: dem Erzähler geht es darum, seine eigene Haltung als Schriftsteller von der der Goncourts abzugrenzen. Frühere Äußerungen, er sei ein schlechter Beobachter,hatte ich eher als Koketterie verbucht; jetzt bin ich nicht mehr sicher. Was ihn zu einem „schlechten Beobachter“ im Sinne detailgenauer Wiedergabe der ‚Außenseite‘ von Objekten und Personen macht, ist nach seiner eigenen Einschätzung seine besondere Begabung, jenseits der Oberfläche „in halber Tiefe“ zu sehen. Menschen, denen er begegnet, „durchleuchtet“ er eher, als sie zu betrachten. Seine Aufmerksamkeit erwacht erst,…
Die im Kontext beiläufige Verwendung des Ausdrucks „Exposition“ anlässlich der Betrachtung des Romanauftakts hat anscheinend Igel-Reflexe geweckt ... rätselhafte Empfindlichkeit ... wie nun weiter, liebe Foristen?
Es beruht weder auf Zufall noch auf Wortmangel, wenn ich nie von „Exposition“ o.ä. gesprochen habe. Ich fasse die genannten Passagen nicht in dem konventionellen Sinn auf. Das soll niemanden hindern, der eigenen Lesart zu folgen. Wir wissen ja: es gibt so viele „Recherches du temps perdu“, wie es Proustleser gibt. Ob die Aussage, der gesamte Roman sei eine Exposition für den Leser, (wie frühere Anmerkungen) geeignet ist, echte Geistesblitze auszulösen, bleibt vorläufig dahingestellt.
Ich gehe sogar noch weiter...der gesamte Roman ist als Exposition für den Leser angelegt...
Ich gehe sogar noch weiter...der gesamte Roman ist als Exposition für den Leser angelegt...
Und die Exposition des Romans umfasst mindestens den ersten Band..
Danke für die Erklärung...hätte ich nicht gewusst, was Exposition bedeutet...lol
Dann lesen Sie noch einmal...den gesamten ersten Band.. ohne Frau Windeck lach
Proust lädt ja doch zum Kaspern in einer permanent verkasperten Welt ein. Lach...
Ich verstehe Ihre Frage nicht, lieber Herr Stellmann.
Exposition ist nur ein Ausdruck für den Auftakt des Romans (die ersten ca. 15 Seiten, Vorschlag von Frau Windeck).
Dieser Auftakt ist zweigeteilt: zunächst eine Art Tableau des Gewahrwerdens beim Aufwachen in den verschiedenen Zimmern, die der Erzähler später, im Fortgang des Erzählten, näher beschreiben wird; zweitens die Urszenen der Kindheit in Combray mit den Protagonisten dieser Kindheit. So fängt es an.
Möchten Sie damit sagen, dass man Exposition ernst nehmen sollte..?
Vielleicht zur Verdeutlichung der Grundform Gewahrwerden (wie ich sie nenne):
Wir finden sie immer wieder im Roman, v.a. im Gewahrwerden der Orte*: zunächst Haus und Garten in Combray, dann die Spaziergänge usw.; später Balbec, Doncières, Paris, Venedig. Diese Erkundungen leben von der jeweiligen ‚Beleuchtung’* in ihrem Wechsel, sie führen Täuschungen vor, pendeln zwischen Ver- und Entzauberung usw.
Das Gewahrwerden von Räumen, Orten und Gegenständen ist, denke ich, auch ein zentraler Modus für die Konstituierung des Erzähler-Ichs und seiner Facetten.
Die Orte (zu Beginn von ‚Combray’ heißt es Stätten und Menschen) sind Ankerpunkte der Erinnerung an Menschen, ihr Aussehen, ihre Gesten, ihre Kleidung, ihre Sprache usw. - und das Erinnern selbst, in zeitlichen Schüben und Schichten, fügt alle Elemente zu einer „Masse“ mit den Spuren ihres Ursprungs, ihrer „Formation“(zit. Ende ‚Combray’ – Vgl. dort geäderter Marmor).
*gilt auch für die Salons, Oper, Theater ...
... ganz sicher beides, das dort (anfangs) Erzählte und die in ihm bereits enthaltenen Spuren oder Reflexe des Ganzen.
Ich zögere aber, hier von Sinnbild oder Metapher zu sprechen. Prousts Erzählen ist zwar oft metaphorisch. Doch hier, denke ich, wird die Form oder Grundform angelegt, in Bewegung gesetzt, zum ersten Mal in Anschauung gebracht: elementar das >Gewahrwerden von Raum, Gegenständen und Ich (im Widerspiel von Dunkelheit/Licht, von Realität/Phantasie/Traum/Täuschung), das >Erinnern anhand der Räume/Zimmer (quer durch die Zeiten), das
>Wiederempfinden der Gefühle, Lust, Wünsche, auch Sinneseindrücke usw.; zur Exposition gehört auch das elementare
>Personal des Anfangs: Mutter, Großmutter, Vater, Françoise, Swann – und die doppelte >Urszene a) Großmutter liest vor/Laterna magica/Genoveva-Golo, b) Kuss der Mutter .
Vor 4-5 Wochen hatte ich die Anfangsseiten des Romans (Combray) zur Hand genommen und beim Lesen das Gefühl gehabt, nun in jeder Phase der Eingangsszenen etwas wie ein Hindurchleuchten des später Erzählten wahrzunehmen. Im Grunde war das ein Hinweis auf eine gerade am Anfang von all dessen, was erzählt werden sollte, angelegte Bewegung, die sowohl diesen Ausgangspunkt als auch das Romanganze meinte, weil bereits auf diese ersten Einzelszenen die Blicke einer übergreifenden Retrospektive gerichtet waren.
Ich ließ die Sache dann liegen, weil ich dachte, darauf könnte ich später, nach der Gesamtlektüre, wieder zurückkommen.
Auch erinnerte ich mich, vor Monaten einmal den Begriff der Gesamtform gebraucht zu haben, die Proust von Anfang an vorgeschwebt haben müsste und die [das ursprünglich gebrauchte Wort „füllen“ war zu schematisch-missverständlich] Erzählschritt für Erzählschritt entfaltet werden sollte.
Die Anfangssequenzen bezeichnen ...
Demonstration und Illustration dessen, was in ihnen (vorerst unerkannt) enthalten ist wie ein Universum in der Nussschale. Wenn man also nach einem Textausschnitt sucht, der die Recherche möglichst vollständig in sich schließt (mit Ausnahme der Gesellschaftspanoramen) und zudem erkennen lässt, wie der Autor beim Schreiben verfährt, scheint es sinnvoll, sich mit diesem Abschnitt zu beschäftigen.
Lieber Herr Reimann, ich habe nochmal nachgedacht: für das, was Ihnen vorschwebt, könnte es erfolgversprechend sein, den Anfang (ca. 15 Druckseiten, bis zum Gutenachtkuss-Drama) und das Ende (knapp 2 Seiten) von „Combray“ in den Blick zu nehmen. Auf diesen ersten Seiten muss der Leser in die seltsame Welt des Romans hineinfinden, sich einlesen/-hören, und konzentriert sich daher meist auf den Inhalt. Er bemerkt nicht, dass hier nicht nur erzählt wird, sondern jede Empfindung, jeder Halbschlafgedanke, jede Geste und jede Bewegung ein vielschichtiges, ‚komprimiertes‘ Sinnbild ist für das, was dann in 7 Bänden breit aufgefächert wird. Der Leser befindet sich in einem Geflecht von Metaphern, bei denen er nicht erkennt – nicht erkennen kann -,dass sie welche sind. In extremer Zuspitzung könnte man fast sagen, alles, was auf diese wenigen Seiten folgt,sei im Wesentlichen …
Ihre Antwort erscheint mir fürs erste plausibel, Frau Windeck. Ich selbst habe beim Versuch, die 'Probe aufs Exempel zu machen', festgestellt, dass der Venedig-Abschnitt zu begrenzt wäre und die darin anklingenden Themen, Echos etc. ihren Wert aus dem Wechselspiel mit dem in vielen anderen Passagen des Romans gesetzten Motiven, Farben, Bildern, Perspektiven, Spiegelungen, Kontraste ... beziehen und schöpfen (darf man sagen: wie in einem Blutkreislauf des Erzählens und Erzählten ?).
Also warte ich auf den (Zeit-)Punkt, da das Riesengewölbe fertiggebaut sein und der Kathedralenhimmel alle Bauteile ins rechte Licht gesetzt haben wird.
Ich glaube, eine Annäherung an die Recherche ist nur möglich, indem man in Gedanken ständig zurückblättert und schon Gehörtes (und scheinbar Verstandenes) in immer neuem Licht sieht.
Einen Abschnitt des Romanzyklus als pars pro toto lesen zu wollen, halte ich für keine gute Idee. Es bestünde die Gefahr, den Blick zu verstellen auf das filigrane System von Echos, Anspielungen, Symmetrien und Entsprechungen, die die Recherche ausmachen; auch die inneren und äußeren Kreisbewegungen würden ausgeblendet. Die Venedig-Passage enthält wiederkehrende Themen und Motive, die wir als zentral einstufen dürfen; doch dies gilt ebenso für viele andere Abschnitte(nicht nur in diesem Band), deren Anfang und Ende sich einigermaßen klar abgrenzen lassen. Zwar verknüpft sich Venedig für den Erzähler mit einem der seltenen Erlebnisse der Zeitenthobenheit, die Ursprung und Anfang der Recherche sind und um die das ganze unüberschaubare Riesengewölbe sich dreht; doch das erfahren wir erst viel später. Es erschließt sich, wie so oft, erst in der Rückschau. ...
pars pro toto -
Liebe Frau Windeck, angenommen, wir nehmen das Venedig-Kapitel als Teil-Baustein/Bauform für die „Kathedrale der Zeit“ - könnten wir das Proust’sche Muster/seinen Anspruch daran begrenzt, aber exemplarisch nachvollziehen und verstehen?
Liebe Redaktion,
die Folgen 22 und 24 der "Entflohenen" lassen sich sich in der ARD-Audiothek nicht herunterladen... Gibt es dafür einen Grund?
Liebe Grüße
Lieber Herr Reimann, meine Aufmerksamkeit gilt nicht nur einem empfindsamen Sprachkünstler, sondern dem Autor, der nach eigenem Bekunden nichts Geringeres unternimmt als die Errichtung einer „Kathedrale der Zeit“, gestützt nur auf die eigene Wahrnehmung.
…die Recherche zu verfassen. Joyces gehässige Bemerkungen scheinen aus seiner Sicht durchaus verständlich. Als Persönlichkeiten könnten Proust und Joyce kaum gegensätzlicher sein – obwohl es nicht schwerfällt, auch Parallelen zu entdecken.
Ein prominenter Kritiker, der in der ‚Nouvelle Revue Française‘ als einer der ersten „Un amour de Swann“ rezensierte, bezeichnete den Roman als „ein Werk des Müßiggangs“ und ließ keinen Zweifel, dass er ihn auch für ein „müßiges Werk“ hielt. Ähnlich dachte André Gide, der dafür sorgte, dass Prousts Werk nicht in der ‚NRF‘ veröffentlicht wurde; er hat seine Meinung später von Grund auf geändert. – Der erste Verleger, dem Proust sein Manuskript anbot, lehnte ab mit der Begründung, er könne nicht begreifen, wie jemand 30 Seiten benötigt, um zu beschreiben, wie er sich mehrmals im Bett umdreht, bevor er endlich einschläft…Am Ende von „Die Welt des Marcel Proust“ stellt Céleste Albaret fest, es sei ein Glück gewesen, dass Proust sich über seinen Lebensunterhalt nie Gedanken zu machen brauchte; arm zu sein hätte für ihn bedeutet, kaum lebensfähig zu sein, geschweige denn ...
... Er selbst, dem Pulsschlag seines Verlangens folgend, erlebt das Welken seines Vermögens ...
Und die (nun verwelkte) Liebe zu A.? Wird auch als Melodie von Verzauberung/Entzauberung durchgespielt, indem sie in den übergreifenden Rahmen der Erinnerung gestellt wird mit dem „Monstrum“ Vergessen als – Durchgangspunkt: schließlich wird A. in der „Recherche“ weite Bereiche der Erinnerung für immer ausfüllen. -
Am Ende das alte Lied: Der ewige Sohn, Sole-mio-Trotzkopf, gefangen in seinem Liebes-Komplex (der nicht mehr nach A. heißen soll), flüchtet sich zur Mutter. Venedig lässt er entzaubert zurück, als Eismeer, ohne Seele, ohne Ich-Anmutung, zersetzt in Wasserstoff und Sauerstoff ...
N.B. Dank an P. für das Lob der wunderbaren Venedig-Skizzen von Maxime Dethomas!
-ohne Ich-Anteile
Anmerkungen zum Venedig-Abschnitt dieser Woche:
Dichte, farbige Proust-Komposition!
Der Erzähler erlebt, unter dem Schutzmantel der Mutter, die Stadt als magischen Ort des Lichts und als Ornament, dessen Muster und Linien er auf seinen Erkundungswegen auffindet und erschafft – ein Werk empfindsamen Verzauberns, an dem die Gegenstände gleichsam selbst beteiligt sind. Das geht einher mit einer Verschränkung, Verschmelzung von Orten, Zeiten und Künstler-Sichtweisen.
Die Verzauberung kann in Entzauberung, Ernüchterung, Profanisierung umschlagen: s. die Entzifferung der Fortuny-Muster für Albertines Mantel (Carpaccio-Tafel); Giottos Engel in Padua zugleich Urvögel und Flugschüler des Roland Garros - eine hingetupfte Zweifach-Dekonstruktion des christlichen Heilsgeschehens.
Der Erzähler wird Zeuge einer Alters-Groteske um das Paar Villeparisis/Norpois: welke Schönheit, welke eitle Diplomatie (am Vorabend des Großen Krieges!). >>>
Ja, Herr Reimann, es war überspitzt formuliert, etwas völlig anderes zu erwarten, würde auch nicht passen - Proust ist sicher kein Thomas Mann, der sich mal hier, mal da ausprobieren will. Aber wenn Prousts eigenes Erleben sich eben in einem anderen Umfeld abgespielt hätte, wäre es eben eine andere Erzählung, bei gleicher sensibler Empfindung und Talent aber ebenso gültige Darstellung eines dann anderen Sujets gewesen. Sicher bleibt die Frage, ob eben gerade nur Prousts Lebensumstände ihm diese Empfindung und Ausdrucksfähigkeit möglich gemacht haben (einschließlich seiner finanziellen Unabhängigkeit, die ja wohl Joyce ihm z.B. neidete, der umgekehrt aber gerade aus prekärem Leben Großes geschaffen hat).
Keine Sorge, das vergisst niemand. Nur sollte es Lesenden gestattet sein, ihr je eigenes Verhältnis zu einem Text zu entwickeln und nicht einem "wie zu lesen sei" zu folgen...
Nanu nana. Ist das Unverwechselbare, der Ton Prousts nicht an die Art und Weise gebunden, wie er die Ich-Perspektive seines Erzählers konzeptionell und sprachlich gestaltet? Wie könnte er da über „etwas anderes“ genauso geschrieben haben?
Ich möchte ihn nicht betrachten wie einen, der sich über beliebige Sujets seiner Wahl beugt und uns in einem gekonnt-betörenden Sprachfluss mit Preziosen unterhält und entzückt.
Nein, bitte nicht über der stilistischen Brillanz des Autors vergessen, dass die „Recherche“ etwas zusammenhängend Großes ist, ein Werk, das gerade auch als „unaufhörlicher Entstehungsprozess“ angelegt ist. Nicht nur zum Genießen, auch zum Verstehen von großer Literatur, die Auskunft gibt gleichsam über ihren organischen Bau.
Ich freue mich, dass Sie Ihre persönliche Art, Proust zu erleben, mit uns teilen. Dem Korso ausländischer Damen, die ihre Anstandsbesuche absolvieren und damit gleichzeitig die Freuden eines Museumsbesuchs und einer Seefahrt verbinden, bin ich auch gern gefolgt. Viel später – ich war längst mit ganz anderem beschäftigt- fiel mir die Szene wieder ein, und ich merkte, dass sich dasselbe Lächeln wie beim Hören in mir ausgebreitet hatte.
…in den einzelnen Leseabschnitten mitzuverfolgen und immer wieder (vorläufige) Rückschau auf das bislang Gehörte/Gelesene zu halten. Das Nicht-Endgültige, Unabgeschlossene ist – so viel können wir nach unserer bisherigen Lektüre sagen- eine der Grundlagen in Prousts Werk und in seinem Denken.
Ich stimme Ihnen uneingeschränkt zu: wenig würde sich ändern, hätte Proust über etwas ganz anderes geschrieben. Walter Pater riet, in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken – auch literarischen – zu einer unvoreingenommenen, geduldigen, wertschätzenden Annäherung, bei der der Betrachter nach und nach zu verstehen versucht, worin das Unverwechselbare, der ‚besondere Ton‘ liegt, der diesem Werk eigen ist und es vor anderen auszeichnet. Ohne dass man Paters Anregungen blind übernehmen müsste, bieten sie nach meiner Erfahrung wertvolle Orientierungspunkte für die sinnvolle Beschäftigung mit Literatur. Eine fundierte wertschätzende Beurteilung setzt im Allgemeinen den Überblick über das vollständige Werk voraus; bei Proust hingegen scheint es legitim, den unaufhörlichen Entstehungsprozess…
Irgendetwas stimmt mit den Bezeichnungen der Kolumnen nicht:
Kolumne #57 war DIE ENTFLOHENE (16-20)
Kolumne #58 war "WIE WIR SCHON ERWÄHNT ZU HABEN GLAUBEN" ???
Kolumne #59 ist DIE ENTFLOHENE (26-28) ???
Wo ist Kolumne 21-25? Wieso Kolumne 26-28 ???
Mit freundlichen Grüßen
Hans Bissem
Hallo Frau Windeck, ja, ich bin jetzt schon sehr angetan von Venedig. Wie Proust den Canal als blaue Straße beschreibt, die Blumenschatten der Ornamente auf dem Wasser und die schönen ausländischen Damen, die in den Gondeln schaukeln, um banale Visitenkarten zu verteilen und dabei ein Abenteuer auf See bestehen; die Mutter mit dem weißen Schleier unter dem lächelnden Fensterbogen, wieder die Erinnerung an seine Kindheit auf der kühlen Treppe des Hauses, als er sich schmerzhaft nach dem Gute Nacht Kuss sehnt. Toll, das kann ich mir X Mal anhören und genießen.
Danke, Herr Schlothauer, für diese schöne Formulierung: „grandiose Annäherung der menschlichen Empfindung an die Welt“. Von mir mehrmals unterstrichen!
Nur bitte nicht gegen „Analysen“ ausspielen oder aufrechnen - die gehören in ein anderes Register und mindern in ihrer eigenen begrenzten Dimension nie und nimmer die staunenswerte ästhetische Qualität der Proust’schen Sprachkunst, seine Empfindsamkeit und – subtile Klugheit.
Frau Windeck hat es am 7.2. eigentlich gut auf den Punkt gebracht, die Intensität des Lesenserlebnisses ergibt sich aus dem Text, seinem Rhythmus und seiner Pointiertheit, weniger aus seinem Inhalt. Proust hätte auch über etwas ganz anderes schreiben können, es wäre immer noch eine grandiose Annäherung der menschlichen Empfindung an die Welt. Daher bleiben auch die ganzen "Analysen" eher nur amüsantes Beiwerk, sind aber schon immer mal wieder unterhaltend zu lesen.
Sorry, Herr Reimann, der XXL-Kommentar war nicht ausschließlich an Sie gerichtet, auch der gestrige nicht. Ich wollte zeigen, dass weibliche Leser u.U. bei Proust andere ‚Defizite‘ wahrnehmen als männliche;dass gelegentlicher Widerwille beim Lesen ‚normal‘ ist und bei Proust zudem ‚systemimmanent‘; dass man vor nichts die Augen zu verschließen braucht, um Proust zu bewundern; dass auch ‚Schöngeister‘ dies nicht tun.Bisschen viel auf einmal, sehe ich jetzt selbst,inklusive Bauchlandung :-) . Ihrem Vorschlag folgend möchte ich vorerst wieder einzelne Leseabschnitte in den Blick nehmen und Klärungen zurückstellen.
Jetzt bin ich verwirrt, Frau Windeck. Das Wort vom Befreiungsschlag war doch nicht auf Proust und das Werk als Universum gemünzt, sondern auf bestimmte (Eros-bezogene) Facetten des Erzählers. Ich hatte das salopp als Frivolisieren in den Ring geworfen. Was das Rezeptions-Credo des Involviertseins von uns Lesern betrifft, so sind wir – denke ich – genauso bei andern Größen der Literatur (z.B. Tolstoi, Goethe, Kafka) in deren Regelwerk hineingezogen und ‚spielen mit’ ...
‚Befreit’ fühle ich mich vom Autor Proust überhaupt nicht, aber der Bursche ist so faszinierend anziehend. An meiner Abstellkammer klebt wie gesagt auch der Zettel „Verführer Proust!“
ganz genau so ticken wie Männer, kleine Lesben Anfang des 20. Jh nicht exakt wie ihre männlichen Pendants)oder die ewige Wiederkehr des Gleichen mich zeitweise ermüdet, weil ich das Prinzip längst verstanden zu haben glaube. Es hilft nichts: die Endlosschleifen sind ‚systemimmanent‘. Dass mir manches sauer aufstößt oder auf die Nerven geht, sehe ich als integrativen Bestandteil des Abenteuers, auf das ich mich vor gut einem Jahr eingelassen habe. Trotz Durchhängern bleibt es spannend und oft überraschend. Der Beweis des rbb, es sei „jeder Mühe wert“, die Recherche zu lesen,steht dagegen noch aus. Es sollte deutlich werden,dass ich beim Lesen nichts ausblende, bemänteln oder „nicht sehen will“, wie man Schöngeistern, zumal weiblichen, gern unterstellt.
Befreiungsschlag? Mitnichten. Ein Mount Everest vorhersehbarer Missverständnisse ist abzutragen. Nach monatelanger Konzentration auf einen Autor erschiene es mir unnatürlich, wenn einem nicht ab und zu der Kragen platzt. Die Frage ist, wie gehe ich um mit diesen (Selbst)-Beobachtungen, welchen Stellenwert haben sie bei meiner Beschäftigung mit der Recherche. Die (bisher) einzige Sichtweise, nach der die Recherche für mich funktioniert: der Leser ist nie außerhalb des Universums, in dem sich der Erzähler bewegt. Es umfasst viele Dimensionen, ja Welten, ist aber das Werk eines Autors, der seine inneren Grenzen hat und dies nicht verbirgt, sondern forciert und auf seiner einzigartigen subjektiven Anschauungsweise insistiert. Er mutet uns zu, nach seinen Regeln zu spielen. Als Leserin bewege ich mich selbst dann innerhalb seines Universums, wenn ich vermeintliche ‚Defizite‘ zu entdecken glaube (z.B. dass Frauen im erotischen Bereich nicht…
Liebe Frau Krings, lieber Herr Reimann, ich muss beichten: die Loopings sind eigentlich ein Plagiat, noch dazu ein gespoilertes. Bei Prousts Betrachtung der Engel in der Arena-Kapelle schob sich mir unwiderstehlich ein Bild vor die Augen, wie wir Kommentatoren über den Köpfen der Romanfiguren kreisen und unsere Kunststückchen vollführen, während sie unter uns spazierengehen. Da wir nicht über die angeborene Leichtigkeit der von Marcel beschriebenen Wesen verfügen, geht es nicht ohne Bauchlandungen ab … Sendetermin in ca. 2 Wochen.
Danke, Herr Stellmann, habe die Stelle über François de Champi nachgeschlagen: feiner Hinweis!
Wurde eigentlich schon im Forum über das Verhältnis des Erzählers zu seiner Mutter diskutiert - oder eine Diskussion einstweilen bewusst verschoben?
Und was mir in diesen Lesungswochen auch noch auffiel: Im Text hat das Wort Trauer sich in den Vordergrund geschoben und anscheinend das Schlüsselwort Angst verdrängt ... oder?
Also endlich der erhoffte Befreiungsschlag und nüchtern bilanziert, danke!
Ihre deutlichen Worte, Frau Windeck, betreffen die Romanteile II bis VI (Im Schatten bis Die Entflohene) – das ist nicht wenig!
Können wir das Proust’sche Konzept „Erinnerung“ samt der wiederum in dieser Woche vorgeführten Ich-Verwandlungen und -Häutungen vom Pubertären usw. abkoppeln und eigenständig würdigen? Mir scheint - und so verstehe ich auch Ihre Anmerkungen in Nr. 1118 nach dem Gedankenstrich - dass Prousts Ästhetik der Wahrnehmungsvielfalt sich immens erotischen Impulsen verdankt und seine Sprache prägt. Anders als das von mir so bezeichnete Scholastische berühren die sinnlich erfüllten Beschreibungen und Schilderungen, das Konkrete in oft so überraschendem, reichem Spektrum.
…oft wie vorgeschoben, um die doch wohl eher hormongesteuerte „Neugier“ zum Zweck der Erkenntnis allgemeiner Gesetzmäßigkeiten zu rechtfertigen (Stichwort Asthma-Kämmerlein).Das musste mal gesagt werden, und zwar ausdrücklich von einer w e i b l i c h e n Leserin, die bisher nicht unbedingt durch unqualifiziertes Proust-Bashing hervorgetreten ist. Wenn mich nicht alles täuscht, liege ich mit meinen Auslassungen nicht weit ab von Sondierungen zum Thema ‚Was nicht erzählt wird‘. Danke für die Erinnerung an „François le Champi“.
…beide ununterscheidbar werden und sich ineinander verwandeln. Bereits damals wurde im Forum festgestellt, dass Subjekt/Objekt-Konzepte inadäquat sind. Eine Wiedereinführung wäre ein Rückschritt. In Albertine werden Marcels Empfindungen kanalisiert und intensiviert, jede Station des Kalvarienberges ausgekostet, pardon, durchlitten. Hintergrund ist und bleibt die Erforschung der einzelnen Stadien der Erinnerung an A., die wie ein Exerzitium durchgenommen werden, damit auch der letzte Leser begreift, worauf es dem Autor ankommt. Nur: dieselben Stufen hat uns Proust schon in den Reflexionen zur Trennung von Gilberte und v.a. beim Tod der Großmutter erkennen lassen, und zwar nach meiner Auffassung in ungleich überzeugenderer Weise. In „Die Entflohene“ wirken die theoretischen Überlegungen …
…und Leser hinnehmen, dass es sich tatsächlich so verhält – bis zur nächsten ‚Inversion‘. All dies lässt sich natürlich in den umfassenderen Kontext einordnen, dass unsere Wahrnehmung Trugbilder hervorbringt, auf die kein Verlass ist, und dass wir zudem oft durch irrige Vorannahmen falsche Schlüsse ziehen (ein vorzügliches Beispiel hat Proust unlängst in der ‚Wiedererkennungsszene‘ mit Gilberte gegeben). – In den beiden ersten Bänden der Recherche („Combray“ und „Im Schatten…“)wurde in eindrucksvollen Bildern facetten- und nuancenreich dargestellt, dass erotische Impulse (im weitesten Sinn) und sexuelles Begehren für Marcel Aspekte der besonderen Weise sind, in der er die Welt erlebt und wahrnimmt. Durch Schilderungen aus ungewohntem Blickwinkel wurde (zumindest für mich) nachvollziehbar, dass Marcel z.B. eine Landschaft samt der ihr eigenen Atmosphäre aus Farben, Düften etc. in einem Mädchen lieben kann, so dass…
In den Albertine-Romanen frivolisiert der Erzähler nicht nur um seine Sexualität herum, um unentwegt dasselbe Grundthema zu variieren (begehrenswert ist nur das Unerreichbare, solange es unerreichbar bleibt), er gibt sich ungebremst seinen schwülen, meist voyeuristischen Phantasien und Bäumchen-wechsle-dich-Spielchen hin, die wir aus „Sodom und Gomorrha“ kennen. Wir haben längst aufgehört, das ungefähre Alter des Erzählers in den einzelnen Erzählepochen zu bestimmen, da stets mehrere ‚Ichs‘ simultan anwesend sind, die sich zudem ständig wandeln. Seit „Sodom und Gomorrha“ lässt die Darstellung jedenfalls oft auf einen schwer pubertierenden 13-14-Jährigen schließen, der weitgehend die Freiheiten eines Erwachsenen genießt, dessen Gedanken unablässig um Sex unter S+G-Vorzeichen kreisen und der dies auch bei den meisten übrigen Romanfiguren voraussetzt. Und da sein Wille geschieht, müssen Leserinnen…
Aber im Ernst....vielleicht kommt man dem Weggelassenen als Teil Proustscher Poetik zumindest auf die Spur, wenn man noch einmal den Beginn des Romans liest und sich mit dem Erzähler und seiner Maman erneut über Francois le Champi hermacht...
Was bin ich froh, mir keine Gedanken darüber machen zu müssen, was Proust nicht erzählt..... Lach
Zauberer Proust! Liebe Frau Windeck, es mag Sie erstaunen, aber ich kann mich durchaus mit dem Gedanken anfreunden, die großartigen Seiten des Romans, seine Sesam-öffne-dich-Momente, -Szenen und -Plätze einfach nur zu genießen. Meine Widerhaken können durchaus für einige Zeit in der Abstellkammer verbleiben und warten. Draußen steht dran: "Vorsicht Loopings!" und "Verführer Proust!"
Liebe Frau Krings, als ich vor ca. 9 Jahren das Hörbuch zum ersten Mal hörte, waren meine Reaktionen den Ihren ganz ähnlich: ich war überwältigt, wie Gedanken und Gefühle hier ausgedrückt werden. Wie berauscht von der Sprache und den überraschenden Beobachtungen des Erzählers, empfand ich die unausweichliche Tragik von Albertines Tod, nahm teil an seinen Betrachtungen über die Trauer. Ich war ganz Ohr, ohne zergliedern oder analysieren zu wollen. Ich denke, Ihr Erleben ist im Grunde viel wichtiger und wahrer als die erlesenen Gedankenloopings, die wir hier im Forum vollführen (und dabei von einem Holzweg auf den anderen geraten). Ohne etwas vorwegzunehmen, aber vielleicht Vorfreude zu wecken: in nicht allzu ferner Zeit reist Marcel mit seiner Mutter nach Venedig. Die Schilderung, wie er einen abends gesehenen Platz am anderen Tag wiederzufinden versucht, gehört für mich zu den schönsten Passagen des Romans.
... dass Aspekte wie Eigenliebe und Anziehungskraft des Erzählers auf andere, in dessen Selbstbeschreibungen unterbelichtet bleiben. Sollte das nicht in eine radikale subjektive Perspektive, ein „Bekenntnis“, eingeschlossen sein?
Der Erzähler, so mein Eindruck, schont sich, verweist auf sein Leiden und - frivolisiert lieber um seine Sexualität herum.
Ich habe hier wieder zugespitzt, denn die Romanlektüre lenkt mich auch auf die Frage, was NICHT zur Sprache kommt. Da gibt es für meine Begriffe Leerstellen im Roman, und der Erzähler ist davon gerade nicht ausgenommen.
Ein Gedankenaustausch über die Radikalität der Recherche – kontrovers, möglichst vielstimmig – wäre ganz in meinem Sinne, Frau Windeck. Ich frage: Besteht diese Radikalität maßgeblich in der gewählten Erzählstruktur, der konsequenten Beschränkung auf die eigene subjektive Perspektive, so Ihre Worte? Folgte daraus zwingend die Abwesenheit von Mitgefühl beim Erzähler? Oder aus der philosophischen Setzung, jeder Mensch könne nur sich selbst (bestenfalls) kennen, wie vom Erzähler sehr oft ausgesprochen.
Frage: Mit welchen der Recherche adäquaten Begriffen sollten wir das (Wechsel-)Verhältnis von Innen/Außen kennzeichnen, inwiefern sind Subjekt/Objekt-Vorstellungen untauglich? Der Hinweis auf eine radikal subjektive Perspektive nimmt die Kategorie wohl doch auch mit auf?
Und wenn die Abwesenheit von Mitgefühl genügt zu erklären, dass der Erzähler sich nie fragt, wie Albertine oder andere sich fühlen in der Beziehung zu ihm, so fällt doch auf, dass ...
… es auf sich bezieht. Alles andere wird konsequent ausgeblendet. Subjekt/Objekt-Vorstellungen werden hinfällig. Zumindest teilweise erklärt sich daraus auch die Abwesenheit von Mit-Gefühl. Über die philosophischen Voraussetzungen dieser Haltung wurde schon gesprochen, und er spricht sie selbst im Text immer wieder an. Mit „Egozentrik“ hat das nichts zu tun, ungeachtet der Tatsache, dass der Erzähler ein Egoist in ungewöhnlichem Grade ist.
Der Erzähler als ‚Leerstelle‘ ‚trotz aller Omnipräsenz‘?! Lieber Herr Reimann, haben Sie mal erwogen, ob einige Ihrer Konzepte evtl. auf unbewussten Erwartungen/Voraussetzungen beruhen, die leicht zu Trugschlüssen verleiten? Unser Autor hat eindrucksvolle Beispiele dafür gegeben und reflektiert. Dass der Erzähler sich nie die Frage stellt, wie Albertine sich fühlt in der Beziehung zu ihm, hat weder mit Schonungs- noch mit Rücksichtslosigkeit zu tun; es zeigt eine Abwesenheit menschlichen Mit-gefühls, die ich mitunter als geradezu verstörend empfinde. Anderen Lesern geht es ebenso, nehme ich an.- Die französische Literatur hat eine lange Tradition in „schonungslosen“ Bekenntnissen, wie Sie sicher wissen. Proust war ehrgeizig genug, etwas zu versuchen, das es so noch nie gegeben hatte, und dazu gehört für ihn eine derart radikale Beschränkung auf die eigene subjektive Perspektive,dass buchstäblich nichts außer ihm existiert, d.h. das, was er wahrnimmt ,und nur insofern, als er…
... in der Liebe zu Frauen empfände, sondern in der Liebe zu und mit ihm! Trotz aller Omnipräsenz bleibt der Erzähler im Zentrum des Erzählens zugleich eine - Leerstelle.
Ich denke, das ist die Folge der Ich-Konstruktion der „Recherche“. Diesem Ich ist alles andere Objekt; und nie ist dasselbe Ich das Gegenüber eines anderen Menschen als eines Subjekts – ein merkwürdiger Zug, da der Erzähler im Erarbeiten seiner „summa“ ansonsten jede Seite aufs penibelste darauf abklopft, welche (denkbare) Rück-, Unter oder Kehrseite ihr angehört. Vorboten dieser Inkonsequenz waren die (vor Monaten angemerkten) ‚Verschanzungen’ des Erzählers. Allerdings hält er sich an Mutter und Großmutter fest, für die er das Du bleibt, das er in seinen Betrachtungen generell negiert. Und seine „summa“ erscheint ihm als Werk gleichsam der Selbst-Befriedigung in aufsteigender Folge – s.o.
Ich frage mich:
Was soll man an Proust mehr bewundern: die überwältigende Sprachkunst oder die uns - die wir den Roman lesen und hören (rbb sei Dank!) - angebotene Rücksichtslosigkeit im Aussprechen der Regungen des Ich - eine Rücksichtlosigkeit, die mit immer neuen Facetten von (vermeintlicher) Authentizität spielt? Der Roman ist ein Geschenk an uns, zweifellos.
Rücksichtslosigkeit ist, glaube ich, das hier passendere Wort als Schonungslosigkeit.
In der Lesung gestern spricht der Text eine Wahrheit rücksichtlos aus: Der Erzähler lebt und liebt in einer Folge von Surrogaten, „Ersatzvergnügungen (...) in immer absteigender Folge“ – weil er letztlich nie das erlangen, besitzen kann, was er eigentlich will. Er verschafft sich ständig Ersatzbefriedigung (hier dürften die Wurzeln dessen liegen, was man mit Frau Anselm als pornografisch empfinden kann). Schonungslos wäre es, wenn der E. beim Abgleichen der Lustgefühle nicht nur zu imaginieren versuchte, wie Albertine ...
Noch ein Nachtrag zu Albertines tragischem Tod: Ich bin erschüttert. Das war so traurig. Und Marcels Gedanken, wie sich Trauer im Laufe der Zeit verändert, wie sie das weitere Leben beeinflusst, es in "Seelenjahre" verwandelt... berührend und beeindruckend, wie das hier in Worte gefasst ist.
... Lebens-Leiden vollständig in sich zu sammeln/zu inventarisieren, hatte der E. zuvor mit der Formel vom „Gesamtbestand unseres Wesens“ umschrieben. -
Mir vermittelt die Lektüre den Eindruck, dass - bevor A. in den Hintergrund gerückt oder besser: in den „Gesamtbestand“ eingeordnet werden könnte – noch eine Zuspitzung erfolgen solle. Der Text fasst einmal die Grundspannung - Leiden saugen aus der Unmöglichkeit, ins Wesen anderer einzudringen, bei anhaltendem Begehren nach deren „totalem Besitz“ oder „Macht“ (über A.) – in das Bild der „Flut“, die über „einen unbedeutenden Wellenbrecher hinwegbraust“. Da werden alle anderen/Frauen zu austauschbaren Partikeln, nur nicht der Erzähler. Dem ist es wichtig, sich über A. abschließend „ein allgemeines Urteil“ zu bilden, nämlich zu „wissen, ob sie mich belogen hatte“. In diesem Urteil schmelzen die so bezeichneten Liebe, Schmerz und Trauer zur „Hölle“ zusammen.
Zu heute u. gestern:
„...was uns gestattet (...) inmitten von Leiden, Lügen, Laster oder Tod unseren Weg zu verfolgen“ -
Ist der Tod für Prousts Erzähler auch nur eine Spielgröße im selbstbezüglichen Entwerfen denkbarer Konstellationen, die das Ich darauf absucht, welche Gefühlswerte ein anderer Mensch (hier Albertine) diesem Ich zuführen könnte - sei es in der dem Tod nachträglich angehängten Erinnerung oder der ihn umdeutenden Phantasie eines Fortlebens der Toten?
Der Text atmet in keiner Zeile Mitgefühl. Auch Argwohn, Leiden, Zuneigung sind, so scheint es, der Selbstbefriedigung dienende Figuren auf einem Spielbrett, auf dem deren Kombinationsbreite ausprobiert wird. So ist auch die Imagination, A. könnte in ihren Tod gegangen sein mit einer Beichte, um „in ihm zu sterben“(dem „Freund“), nur eine bizarre Hypothese, mit deutlicher Signatur von Ego-Manie - so wie auch der Wunsch, die Tote mit Aimés Recherchen zu konfrontieren.
Sein Ich-Projekt, alles ...
Lesung heute:
Der Erzähler erweitert seine Reflexionen um eine nicht unwichtige Facette: ‚Liebt’ er einen bestimmten Frauentypus in Albertine? Und führt der Gedanke der Austauschbarkeit nicht zu der Erkenntnis, die Wahl A.s sei nicht „notwendig“ gewesen? Plötzlich ist Gilberte wieder im Spiel ...
Solche Gedankenspiele tasten nachträglich und zugleich generalisierend ab, was das Ich (des Erzählers) am Weiblichen anziehend finden könnte.
Blinder Fleck/Leerstelle: Nie wird erwogen, welcher Typus Mann im Erzähler selbst denn wohl auf die diverse (imaginierte) Weiblichkeit attraktiv gewirkt haben oder wirken könnte ...
Grünewalds Antonius, zu Boden geworfen, wird heimgesucht, gepeinigt von widerlichen Dämonen. Die Szene ist sicherlich zu verstehen im Kontext heilgeschichtlicher Erwartung und Erlösung. Sie veranschaulicht - an der Extremgestalt des Eremiten und Heiligen, der die Welt flieht - die Fehlbarkeit des heilsbedürftigen Menschen, der nicht davor gefeit ist, vom rechten Weg abzuweichen, sog. Versuchungen zu unterliegen. Antonius ist unterworfen den Mächten des Bösen - und des Guten, letztlich geborgen in Gottes rettender Hand.
Proust stülpt das ‚Heilsgeschichtliche’ völlig um: Der entscheidende Unterschied scheint mir in der Gestalt des Erzählers zu liegen: Nach allen Seiten hin verströmt und behauptet er seine Ich-Absolutheit. Er selbst macht sich zum Zentrum und Bezugspunkt ... , letztlich liegt alles in seiner Hand. Und sollte sich ihm etwas entziehen, so gehört es nicht in einen anderen Kontext, sondern wird als erlittener Mangel („Leiden kostend“) seinem Ich einverleibt.
Lieber Herr Reimann, Grünewalds berühmtes Gemälde zeigt einen Menschen, der von seinen Dämonen buchstäblich in Stücke gerissen zu werden droht. Die Dämonen sind zugleich Sinnbilder seiner „Versuchungen“. Auf diesen Entsprechungen beruht mein Vergleich, nicht auf dem Einsiedlertum.
Lesung heute: Der Erzähler erforscht seine Reaktion auf die Nachricht vom Tod Albertines. Beim Durchgehen seiner Gefühle und Erinnerungsbilder wird ihm die Zeitstruktur all dessen bewusst.
Erleben, Leiden und Erinnerung erscheinen ihm in sich wandelnder Perspektive und Bedeutung, da Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sich einerseits in der Erinnerung verschränken (lassen) - z.B. vergangene Zukunft - und weil nun, nachträglich, neben das Erinnerte das Moment des denkbar oder wünschbar! Möglichen tritt. Jede Facette des auf A. Bezogenen wird v.a. zu einer neuen Facette des Ich. Dessen Vielheit wird durch A.s Tod vergrößert, dank der Sensibilität (wechselnder „Tönungen“ der Vorstellungen und „seelischen Atmosphäre“) des Ich. Vorrang und Dominanz s e i n e r Wahrnehmung und Wünsche machen sich im Umgang mit dem Todes-Faktum („A. war tot“) erst recht geltend. –
In die „summa“ muss der "Wandel der Zeit" Eingang finden.
... Hoffnungen und (Selbst-)Täuschungen (> „halb bewusste Selbstverblendung“) gedanklich-systematisch zu verarbeiten versucht. Einen Eremiten im strikten Sinn sehe im E. nicht.
... Im scholastischen Abklopfen der denkbaren Variablen wird auch die Möglichkeit von Vergessen reflektiert. Auch das Vergessen erscheint dem E. unter wechselnden Vorzeichen, mal als Katastrophe, mal als Trost oder gar Hoffnung. In allen diesen Fällen aber fungiert es als Hypothese so wie die anderen Momente im steten Hin- und Herwenden auch – und wird, da es (gedachte) Negation des Erinnerns ist, als Grenzwert mitbedacht.
Schließlich ein Gedanke zum Wirken von Vernunft, Bewusstem und Unbewussten: Der E. registriert und schildert mit Eifer und hellwach das Mit- und Gegeneinander seines Hypothesen-Räsonnements und seiner körperlichen Symptome (vgl. Philosoph/Barometermännchen). Auch das wäre gleichsam mönchisch-meditativ oder scholastisch im o.g. Sinne, weil die summa gerade auch die Unterfälle der unbewussten Regungen, ...
Liebe Frau Windeck, danke für die ausholende Erwiderung. Ich möchte meine Lesart auf Ihre beziehen:
Der Erzähler leidet an ‚Dämonen’ wie Weiblichkeit und Laster - und betätigt sein Leiden in den Gestalten Zweifel, Eifersucht und Schmerz. Albertines Laster sind die der Stufe 1 ihrer Abwesenheit (vor Flucht und Tod). Mit den Erzähl/Schreib-Exerzitien meine ich die genannten gelehrten (scholastischen), im Wechselspiel von „Hypothesen“, im dialektischen Wenden aller Konnotationen, deren Vorzeichen (+/-) ständig umschlagen. Diese Berserkerarbeit - nichts soll in der summa fehlen - dient keiner Befreiung, richtig, die wird auch immer wieder verworfen!, sondern - paradox - einer Befriedung. Die ist dem E. gar nicht denkbar ohne das vollste Ausschöpfen aller Formen und Möglichkeit des Leidens – und deren Einverleibung in die summa/das Ich.
(...)
…halb bewusster Selbstverblendung hervor, in der der Erzähler sich lange Zeit zu bewegen gezwungen fühlt. Um auf das Bild des Mönchs (als Eremit) nicht zu verzichten, fiele mir die „Versuchung des Heiligen Antonius“ von Matthias Grünewald (und von Max Ernst) ein.
Vorerst drängt sich mir ein weniger suggestives Bild auf: das des Analysanden und seines Analytikers. Dass der Erzähler/Autor beide Funktionen simultan ausübt, macht es nicht leichter, auch nicht, dass sich retrospektive Einsichten mit Gedanken und Empfindungen verschiedener Gegenwarts- und Vergangenheits-Ichs überlagern; aber Proust-Leser der ersten Stunde sind ja einiges gewöhnt. Interessant die mehrfach wiederholte Erkenntnis, das unbewusste sei hellsichtiger als das bewusste Ich. Das auf der Vernunftebene argumentierende gaukelt dem Erzähler vor, die Trennung von Albertine entspräche seinen tiefsten Wünschen. Er reagiert mit Herzschwäche und anderen körperlichen Symptomen, die ihrerseits eine Art Gaukelspiel betreiben,als deren Spielball sich der Erzähler erlebt. Vernunft, Bewusstes und Unbewusstes bringen gemeinsam eine Form …
…in Wahrheit existieren wir allein. Wir können ein anderes Wesen nicht kennen, außer in uns selbst,heißt es wörtlich.Je länger er von Albertine getrennt ist, weiß der Erzähler, desto eher wird sie „vom Vergessen verschlungen“ und in ihm ausgelöscht sein; dies ist die wahre Katastrophe, die tiefste Angst. So lange der Gedanke an Albertine ihm Leiden verursacht – und sei es der Schmerz über ihren Verlust – (wir erinnern uns: Schmerz und Eifersucht sind nach seiner Erfahrung stärker als Liebe),so lange lebt sie für ihn, unabhängig von ihrer Existenz in der Außenwelt.
Das Bild des Mönchs, der an einer alle durchlebten und erlittenen Zeiten umfassenden summa arbeitet und dabei in seiner dunklen Kammer ständig neue Laterna-magica- Bilder projiziert, sagte mir auf Anhieb zu und ging mir die ganze Woche nicht aus dem Kopf. Seine Liebe zu Albertine, sein Leiden an ihr und an den Dämonen des Zweifels und der Eifersucht kann man durchaus als Besessenheit ansprechen;doch versucht der Erzähler keineswegs, sich von seinen Dämonen zu befreien. Er steigert, vertieft und verlängert sein Leiden so weit als möglich, doch nicht im Sinne mönchischer Exerzitien. Nur so lange sein Leiden anhält, existiert Albertine für ihn und in ihm. Diese Woche hat er erneut seine Auffassung dargelegt, wonach „wir“ alles tun, um die Illusion aufrechtzuerhalten, wir könnten eine Verbindung, eine Beziehung zu einem anderen Wesen haben;…
Es ist erstaunlich, wie weit Proust seinen Erzähler die Exerzitien der Selbsterforschung vorantreiben lässt - bis zu Extrembefunden.
Hatte er zuvor diverse Albertine-Bilder übereinandergelegt, getauscht usw., so entzieht sich ihm jetzt ihr Bild in dem Maße, wie er in ihrer Abwesenheit die Gegenstände, die ihren Duft ... tragen, an ihre Stelle setzt und sie als ihre Repräsentanten imaginiert (hallo Fetisch). An sich selbst entdeckt der E., der zuvor sein Ich als Vielzahl von Ichs (vgl. auch die Passage vom Barometermännchen) wahrnahm, dass er in dem Maße, wie er in seinen Projektionen aufgeht, sich gleichsam verliert, zum blinden Fleck wird, zur Leerstelle.
Überhaupt Leerstelle: Jetzt triumphiert die Abwesenheit (Negation). Die Situation wird verschärft: A. ist erst fort, geflohen – jetzt tot. Mal sehen, wie diese Leerstellen gefüllt werden; mit welchem Leiden, welchen Bildern (von A.) - von einem „Wesen, das nicht aus sich heraus kann“, erklärtermaßen.
Zu "Die Entflohene" Lesung 2: Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? ;-)))
„Albertine fort!“ - Zeit für eine Zuspitzung:
Unentwegt, ein Mönch in seiner Klause, arbeitet der Erzähler gleichsam mit allen Kunstgriffen scholastischer Dialektik und Rhetorik an einem Kompendium, einer summa aller Zeiten, die er durchlebt und erlitten hat. Es sind Exerzitien der Selbsterforschung mit dem Wunsch auch nach Teufelsaustreibung, als wolle er einen Gottesbeweis aus sich herauspressen, um darin inneren Frieden zu finden. Zu jeder Seite dieser Recherche entstehen neue Laterna-magica-Bilder; wie zur Gegenprobe, angesichts seiner Zweifel, projiziert er sie ständig wechselnd in seiner dunklen Kammer.
Wie herzerfrischend daneben die Existenz der Françoise!
Auch Proust:
Seine Prosa ist durchsetzt mit Motiven, in denen ein tieferes, aufs Absolute gestimmtes Bedürfnis seines Schreibens und - analog - des inneren Begehrens seines Erzählers aufscheint. Hier wird es sichtbar am Beispiel des Blau: Von Albertines Fortuny-Mantel wird eine Linie gezogen zum Himmel über Versailles, auch Combray, das unvermischte Blau erahnt als reines Medium in unerschöpflicher Verschwendung, in dessen Substanz „man immer tiefer ... hätte eindringen können, ohne auch nur auf ein Atom von etwas anderem zu stoßen als immer auf dieses gleiche Blau“. Das könnte eine Umschreibung des Ideals der Aneignung von Welt, Schönheit, Wahrheit u. Liebe? sein. Albertine darf Anteil haben am Blau, immerhin, aber dank einer materiellen Verschwendung, des (Venedigverzicht-)Geschenks für sie als Gefangene. Der E. erlebt des Himmels Blau zugleich kosmisch als auch vermessen und gemeistert durch Technik (Aeroplan) - moderner Blick, ein Anflug des Futurismus?
Hydra Albertine?
Ist nicht das Wuchern von Kopfgeburten die Eigenart des Erzählers, vielköpfig und wechselhaft s e i n e Projektionen? In Frauen sieht er, wie es einmal heißt, Ewigfliehende. Proteushaft sind die Bilderfolgen und Epitheta, die er (sich) ausmalt, liebt oder erleidet – auch ganz ohne Albertines Antwort oder Gegenwart. Bedrohlich (weil fremd) erscheint ihm A. als Frau. Er inszeniert sich zwar als Drachen/Laster-Töter, kämpft aber nicht wirklich mit ihr, sondern mit sich.
Nochmal: Der E. ist Zentrum und Motor des allgegenwärtigen Metamorphosenhaften. Die ständige Verwandlung seiner (Selbst-)Wahrnehmungen und Assoziationen, das permanente Verknüpfen, Vergleichen oder Vertauschen der Sphären von Realität und Phantasie, von Natur, Kunst, Technik usw. wird zum Aneignungsmodus von Welt und Mitwelt - für ihn.
Ich möchte bei meiner Hypothese bleiben: A. (als Frau) repräsentiert ein Objekt (für den Erzähler) und einen Stoff (für den Autor) zum ‚Einverleiben’.
Lieber Herr Reimann, wie gut, dass Sie nicht ermüden und uns jedes Mal bedenkenswerte neue Aspekte liefern. Analogien und Entsprechungen zwischen der Figur Albertines und dem (entstehenden) Werk sind auch mir aufgefallen. Proust und sein Erzähler bedürfen der Fliehenden, sich Entziehenden, um „Leiden zu saugen“ aus quälender Ungewissheit und Eifersucht. Ich bin allerdings nicht sicher, ob es ihm darum geht, in Albertine einen widerspenstigen Stoff zu meistern und dem Werk „einzuverleiben“. Es ist ein Kampf mit der Hydra, doch ein Sieg über sie wäre sinnlos. Auch ähnelt diese Hydra sehr dem Meeresgott Proteus, der sich jedem Zugriff zu entziehen weiß, indem er alle Augenblicke eine andere Gestalt annimmt. Er ist stets ein anderer und bleibt nie derselbe; oder vielleicht doch?
Trockenes Auflachen und Erleichterung, dass unsere Interpretationsbemühungen noch ab und an von solchen Einwürfen durchbrochen werden.
…in dem die angespannte Konzentration auf sich selbst nachlässt. Jede Situation, in der er sich befindet, ist tiefernst und wird noch ernster, da Albertine sich nun dauerhaft entzieht ; für Leserin und Leser gibt es vorerst kein Aufatmen.
Vor meinem inneren Auge sah ich diese Woche einen unerträglich selbstgefälligen Oberstudienrat fortgeschrittenen Alters, der sich beim Nachmittagsschläfchen einen seiner Wunschträume gönnt. Genussvoll und ungebremst doziert er über seine beispiellos scharfsinnigen Ansichten und Einsichten zu Musik und Weltliteratur, während seine Lieblingsschülerin starr vor Bewunderung mit Sternenäuglein zu ihm aufblickt. Ihren Einsatz als Stichwortgeberin meistert sie stets perfekt. Wie erlösend wäre es, diese ganze Szene als Parodie zu lesen und sich Proust oder den Erzähler als jemanden vorzustellen, der gelegentlich von sich selbst einen Schritt zurücktritt und über eigene Schwächen (die er ja dem Leser nicht verschweigt) schmunzeln könnte. Im Text gibt es aber kaum Hinweise, dass eine solche Lesart vorgesehen ist; vorläufig scheint es für den Erzähler keinen Augenblick zu geben, …
... verallgemeinernd - die Grenzen seines Vermögens, in die Seele, die Tiefe anderer einzudringen („Vergesslichkeit der Natur“ – die „mythische Einheit der Körper“ aufgehoben), wohl auch eine versteckte Anspielung auf sein grundlegendes Geschlechterproblem. -
Im Grunde spürt er mit jedem Umblättern des inneren Albums - ob aus Wahrnehmung, Phantasie oder Erinnerung - seine Abhängigkeit von A. ständig wachsen, sie wird ihm zur „mächtigen Göttin der Zeit“.
Das Pianola – bizarre Szene:
Von seinem Bett aus, zuhörend und schauend zugleich, lässt sich der Erzähler von Albertine auf einem modernen Walzenklavier Vinteuil-Werke vorspielen. Die Verhörszene hat sich zu einer Lektion ausgeweitet, zu einer éducation musicale et littéraire. Albertine gegenüber betätigt der E. sein intellektuelles und materielles (Geschenke!) Imponierbedürfnis; für sich selbst sucht er so viel Hochgefühl wie möglich aus den Bestandteilen des Arrangements zu ziehen.
Seine Worte gelten daher nur vordergründig seiner Gefangenen, eigentlich spricht er zu sich selber und meint sein eigenes literarisches Sensorium, wenn er z.B. Dostojewski erklärt. Albertine, ihre Glieder, ihr Teint und Haar setzt er in einer Bilderfolge zusammen, taxiert sie als Kunstwerk oder Engel. Da sie sich ihm entziehe, beklagt er - auf sie gemünzt und ...
Liebe Redaktion,
liebe Hörer und Schreibende,
wo bleibt das Audio in dieser Woche von Doris Anselm, wo bleiben die Beiträge?!
Viele Grüße
Ihr Hörer und aufmerksamer Leser
Jörg Locke
Der Wolf sagt zu Rotkäppchen: "...du weißt, dass mein Maul nicht groß genug ist, um kleine Mädchen zu verspeisen..."
und der Erzähler sagt zu Albertine: "...du weißt, dass ich nicht die Fähigkeit habe, mich lange zu erinnern..."
... eine paradoxe ‚Aneignung’ Albertines: ein Festhalten und ein Fernhalten vom Ich, damit dieser „Schatz“ als „Ewigfliehende“ und „Sappho“ dem entstehenden (noch schlummernden) Werk einverleibt werden kann. Eine widersprüchliche Vorbedingung für das gelingende literarische Werk.
In der Konstruktion Prousts hütet der Erzähler die Frau (A.) als Objekt seiner Einbildungskraft und als Material, als Stoff für das in ihm reifende Werk - ein ihm widerspenstiger Stoff, den er meistern will.
Nicht zu vergessen: Die Albertine-Szenen stehen im Kontext von Reflexionen über Malerei, Musik und Literatur, die um das Problem des ‚echten Werks’ kreisen, in dessen je eigenem Ton die Seele des Künstlers, sein tiefstes Glücks- und Leidensgefühl, seine Weltsicht eingeschrieben seien.
... Erlebnis der Kreativität und des ungeteilten Glücks (Kirchtürme von Martinville) zu finden.
Albertine ist verhängnisvoller Schatz in dem Sinne, dass sie - in Anziehung wie Abstoßung - das dem Erzähler fremde Weibliche repräsentiert, das er gleichwohl seinem schlummernden Werk einverleiben muss und will.
Die Lügen-Vorwürfe an Albertine sind dialektische Manöver des E., sie weiter an sich zu fesseln, sie zu besitzen, zu beherrschen - bereit, Leiden zu saugen aus der Unmöglichkeit, ihre Geheimnisse auszuloten.
Nach dieser Lesart handelt es sich in der Szene um eine Versuchsanordnung, in der die Pendelschläge zwischen den beiden Personen durchgespielt werden: auf der einen Seite das Ich, das seine Albertine-Bilder zu vervollständigen sucht – und auf der anderen Seite eine A., die als Frau unnahbar, fremd und flüchtig bleibt.
Wir sehen ...
„Dieses magische Zauberbuch, das so klar und deutlich vor mir lag und in meinem Geiste exakte, ganz nahe Bilder abzeichnete ...“ - ich hoffe auf Diskussion im Januar:
Der Blick des Erzählers, sonst aus seinem (verdunkelten) Zimmer nach draußen gerichtet, kehrt sich nun um: von der Straße zum Zimmer Albertines, seiner Gefangenen. Wie ein transparenter Bühnen-Vorhang zur sich öffnenden neuen Szene (Verhör Albertines) erscheint dieser Moment, in dem wir erfahren, dass der E. hinter den parallelen „goldenen“ Lichtstreifen einen „Schatz“ verborgen hält: sein Zuhause nicht mehr Gefängnis A.s, sondern sein Tresor. Der E. weiß sich an diesen fremden, flüchtigen Schatz gefesselt, selbst Gefangener seines Verhältnisses zu A., das ihn daran hindere, die „Nahrung“ zu verarbeiten oder in sich neu zu schöpfen, die er „von außen“ erhält.
Ich lese hierin Andeutungen auf das Problem des (Schriftsteller-)Ich, das auf der Suche danach ist, den Anschluss an ...
Lieber Herr Reimann, liebe Proust-Diskutantinnnen und -leser, wir wünschen Ihnen und Ihren Familien und Freunden ebenfalls eine friedliche Zeit, beste Gesundheit und weiterhin einen anregenden Gedankenaustausch. Herzliche Grüße aus der Literatur-Redaktion.
Ich wünsche allen, die dieses Proust-Forum ob aktiv oder passiv mit Interesse und Leidenschaft begleiten - die rbb-Redaktion selbstverständlich inbegriffen -, frohe Festtage, freundliche Gedanken und Gefühle, guten Appetit, produktive Muße und - stabile Gesundheit. M.R.
... Saint-André-des-Champs, Giotto, Botticelli (für Swann), die imaginierten Friese, Vermeer; das Ensemble reicht von der Laterna magica und von Kunstdrucken über Spiegel zu Fotografien. –
Die Brichot-Passage (Lesung heute) über den Salon Verdurin ist angelegt analog der ‚Bildproduktion’ des Erzählers (z.B. der je vorgestellten Albertine), wenn von der Verwandlung in den „durchscheinenden Alabaster unserer Erinnerungen“ die Rede ist: Solche Bilder (sogar von Gegenständen) seien so individuell beseelt, dass sie in ihrer Farbe, ihrem Ton und Duft letztlich nicht mitteilbar sein können. Wer sie im Innern sieht, gleiche einem Maler: „Erinnerungen, die ... Möbel ... gleichsam ausschnitten und mit einer Rahmenlinie umzogen“; so entstehe „Form“ als „Urgestalt“ (hier: des Salons).
... Elstir macht er zum Maler-Pendant, der Bilder malt/baut, die er der Natur wie gemalte Äquivalente gegenüberstellt (der Natur gleichsam ebenbürtig) und die dem betrachtenden Auge als ein Gegenüber aus lauter Verwandlungen durch ein neues Sehen erscheinen (Cézanne!). Das Erzählen aber muss das Bewegliche nicht in den festen Rahmen eines Bildes stellen, ähnlich der Musik kann es sich als Komposition in der Zeit entfalten.
Das Optische, das Augen-Moment, das Einzelbild wird indes nicht überspielt. Der Autor P. stellt der Gesellschaft einen Parallel-Kosmos gegenüber, seine Protagonisten sind Vis-à-vis-Gebilde, beweglich und wandelbar angelegt in der Folge von Bildern aus der Perspektive (hauptsächlich) des erzählenden Ich. Oder anders: Kopfgeburten des Autors und – im Binnenverhältnis des Romans – des Erzählers. – Auch fungieren im Erzählfluss der Verwandlungen Bilder gleichsam dynamisch als Vor-Bilder oder als (Selbst-)Erkennungsmarken: siehe die Skulpturen von ...
„gleitende, biegsame Unterbauten“ – ja!
Prousts Ausflüge in Malerei und Musik sind wie Wegweiser zu seinem Erzählen, das über bloßes synästhetisches Changieren oder Pendeln zwischen den Sinneseindrücken oder Künsten hinausführt.
Prousts Roman, denke ich, entfaltet sich wie eine erzählerische Partitur. Das schließt mehr ein als das Harmonische (in der Malerei z.B. Farbharmonien à la Whistler) oder das Impressionistische der Wiedergabe simultaner (Oberflächen-)Reize. Solche Elemente haben gewiss Anteil an seinem Erzählen. Doch - wie in der Wagner-Passage - die musikalischen Motive als Bauformen der Komposition in ihrem Wechselspiel, ihrer Entwicklung und ihrem Wandel wahrgenommen und ästhetisch genossen, ja existentiell erfahren werden, so bewegt sich das Proust’sche Erzählen in stetem Umbauen und in Motiv-Verwandlung seiner ‚Stoffe’ oder ‚Gehalte’.
Das Tandem Form-Gehalt (oder umgekehrt) geht bei Proust auf in einer komplexeren Bauform aus Metamorphosen, Echos und Vis-à-vis: ...
Hallo, geschätzte und einfühlsame Kommentatorin Frau Anselm,
lesen Sie ab und zu Trivial-Literatur? Dann könnte Sie, wenn ich Ihren gestrigen Kommentar aufmerksam lese, das Buch "Schweigen der Lämmer" von Thomas Harris vielleicht zum Prickeln bringen...
Stets zu Diensten!
…geistige Werdegang des Erzählers spiegeln. Sie lassen tatsächlich die Beschaffenheit der gleitenden, biegsamen Unterbauten ahnen, auf denen die Recherche ruht. Musik, so das Credo vieler Künstler der damaligen Epoche, stünde über allen anderen Künsten, da nur in der Musik die vollkommene Verschmelzung des gedanklichen Gehalts mit der ‚Form‘ gelingen kann. Ganz in der Form aufgelöst, wird der Gehalt ununterscheidbar von ihr, Form und Gehalt sind eins. „All art constantly aspires towards the condition of music“ schrieb Walter Pater, der Ruskin kurz vor der Jahrhundertwende als ‚Kunstpapst‘ in England ablöste. Seine Kunstphilosophie beeinflusste auch Prousts Denken. Zu erinnern wäre hier auch an Whistler, dem die Romanfigur Elstir viel verdankt. Er gab seinen Gemälden bewusst musikalische Titel wie „Symphony in White“, „Nocturne in Blue and Gold“ etc.
Sehr treffend beobachten Sie, wie Proust in der Beschreibung der Vinteuil-Komposition die Struktur der Recherche abbildet. Mir fielen solche Entsprechungen zuerst in den Passagen über Werke der bildenden Kunst auf; im 1. Band waren es Elemente romanischer Architektur und Giottos Fresken der Tugenden und Laster in der Arena-Kapelle, die auch der Erzählsprache und Erlebnisweise etwas Konkret-Anschauliches, Gegenständliches geben, das zu der(vermuteten) Altersstufe des Erzählers stimmt. In „Im Schatten…“ bricht die Malerei der Impressionisten, Whistlers u.a. Maler der damaligen Avantgarde geradezu über den Text herein, sprengt die Wahrnehmungsgewohnheiten des Erzählers und wandelt Sprache und Erzählrhythmus. Die Passagen über Musik, die wir zuletzt gehört haben (auch die Meditation am Klavier), greifen höher und weiter, da sich in ihnen nicht nur individuelle Befindlichkeiten oder der…
Das Vinteuil-Septett - heute großartiger Proust:
Gehörte Klangfarben werden imaginiert. In einer Folge von Bildern und Bildräumen - um die Farbe Rot herum - teilt der Erzähler sein Musik-Erleben und seine Deutung der Komposition mit. Er erlebt sich zugleich selbst als tiefer Versteher Vinteuils, des ringenden, leidenden Schöpfers dieser Tonkunst, der im gelingenden Werk zum Glück gefunden habe. Und indem er sich in Vinteuil versetzen, sich ihm anverwandeln kann, ahnt (und findet) er in sich die originäre, nur ihm selbst eigene Künstlerkraft und -existenz.
Der Text macht, denke ich, die erlebte Komposition der musikalischen Motive („musikalische Fresken“) zum Spiegel der Werk- u. Erzählstruktur des Romans - darin eingeschlossen das Wechselwetter der Innenwelt des erzählenden Ich und dessen „einzigartigen Tonfall“. –
>> Das Audio 27/44 ist momentan leider nicht online !?!
Heute Abend, 20 Uhr wird ein Hörspiel über Marcel Proust auf Deutschlandfunk gesendet.
…unsere Sinne sich täuschen lassen: wir sehen und hören eher, was wir (oft unbewusst) erwarten, als das,was ‚da ist‘. Wie Sinneswahrnehmungen aufgrund einmal gewonnener Überzeugungen fehlgeleitet werden, illustriert Proust nacheinander an mehreren Beispielen. Francoise ist oft „taub“gegenüber klaren Anweisungen; der erste Diener hält unbeirrt an der falschen Aussprache des Wortes „Pissoir“ fest; das Personal eines Restaurants sieht in der jugendlichen Nichte von Mme de Guermantes eine aufgetakelte alte Schachtel, weil der Oberkellner ihnen (wohl halb im Scherz) einredet, sie sei über achtzig Jahre alt. Dieses Beispiel illustriert auf humoristische, aber auch beunruhigende Weise die Manipulierbarkeit unserer Wahrnehmung nicht nur ‚von innen‘ (wie bei Francoise), sondern auch von außen. Influencing wäre hier (unter anderen) ein aktuelles Stichwort.
Schon im Bericht von Bergottes Tod werden die Gedanken unmerklich auf die fragwürdige ‚Wahrheit‘ unserer Sinneseindrücke gelenkt. Dass es Proust genau darum geht,wird in den folgenden Leseabschnitten deutlich: Albertine versteht so ‚natürlich‘ zu lügen, weil ihre Aussagen für den Erzähler wahrscheinlicher sind als die Wahrheit (sie hat weder Bergotte getroffen noch die Freundin, die seit Monaten nicht in Paris ist). Daran knüpft sich über Zwischenstufen die Überlegung, dass das „Zeugnis der Sinne“ uns nicht unmittelbar gegeben, sondern eine „Tätigkeit unseres Geistes“ ist: er bringt die Überzeugung hervor, die dann die Evidenz erst schafft. Das sind brisante, hochaktuelle Schlussfolgerungen, die es zu Prousts Zeit in der Wissenschaft nicht mal ansatzweise gab. Sie werden von der heutigen Neuropsychologie bestätigt. Viele Experimente haben nachgewiesen, wie leicht…
Die Unfassbarkeit Albertines gründet in der Unfassbarkeit des Erzählers selbst. Die Relativierung aller Möglichkeiten/Wirklichkeiten wird so auf die Spitze getrieben, dass nichts mehr wirklich fassbar wird, Es wird so ausgeleuchtet, dass man nichts mehr klar sehen kann. Das Unbehagen oder das Rätselhafte, dass ich an der Figur des Erzahlers empfinde, liegt für mich zum Großteil eben auch in dessen eigener Unfassbarkeit: Er entgleitet mir als Leser, wie ihm das Personal des Romans, hier insbesondere Albertine immer wieder entgleitet, je präziser seine Beobachtungen und Selbst-Beobachtungen anscheinend werden. Ein Orkan an Kopfgeburten, eine frühe "Anleitung zum Unglücklich sein"?.
... des Erzählens in Vergleichen/Metaphern: Der Erzählfluss, die Satzgetüme tauchen die Handlungen/Personen in einen ständigen Wechsel von Perspektiven, Realsphären, Sinneswahrnehmungen, Ansichten (auch im übertragenen Sinn); was wir Reflexionen nennen, ist im jeweiligen Bildraum des Romans ein Hin- und Herschieben (gedankliche Schiebetüren) von möglichen Wirklichkeiten oder wirklichen Möglichkeiten; die Wir- und Man-Form dient der Selbstbestätigung des Ich durch (den Schein der) Verallgemeinerung.
Könnte der Erzähl-Kontrast zu Flaubert, der heute vor 200 Jahren geboren wurde, größer sein? Und doch, ganz merkwürdig - kann Prousts Ich-Erzählen, auf die Spitze getrieben, auch als eine - verwandelte - Form von impassibilité empfunden werden. Mir geht es so.
Heute Flaubert-Tag -
Obwohl in der Lesung jetzt Charlus und Morel dran sind, ein paar Anmerkungen zu Albertine in der „Recherche“:
Sie steht ganz unter der Beobachtung des Erzählers - real und imaginiert. Er möchte und kann sie doch nicht fixieren. Es fällt auf, dass Albertine nie als ein unmittelbares Du erscheint, nie in direkter, spontaner emotionaler Zuwendung, sondern gleichsam wie durch einen Filter hindurch, einen Filter aus Bildern, die sich der Erzähler von ihr macht. Albertine ist immer sein jeweiliges Bild (oder die Bilderfolge) von ihr. Begehren oder Eifersucht gelten nie unmittelbar der Person, dem Menschen Albertine, sie äußern sich stets - gefiltert, gehemmt, gesteuert - in einem Medium aus vorgestellten oder erinnerten Bildern. Wenn der Erzähler liebt, folgt er dem selbstgemachten bzw. erinnerten Bild seines Liebesobjekts. Sein Erzählen erzeugt und bekräftigt diese egozentrische Konstruktion.
Dem entspricht die vorherrschende Stilfigur ...
… sie kleine, abgeschlossene Kunstwerke von seltener Vollkommenheit bilden. Von jedem könnte man meinen, Prousts Text bezöge sich darauf. Bei der exakten Lokalisierung des Mauerstücks in der „Ansicht von Delft“ ist Jaubert vorsichtig; der Behauptung, Proust habe sie einfach so dazuerfunden, würde er aber sicher widersprechen. Dies nur zur Ergänzung; ich möchte keine kleinkariert-rechthaberische Diskussion anstoßen. Solche Einzelheiten können interessant sein; interessanter wäre die Frage nach dem Stellenwert des kleinen Mauerstücks innerhalb des Romans. Wichtig finde ich dagegen Ihre Vermutung, dass es das kleine gelbe Mauerstück für Bergotte auf dem Gemälde wirklich gegeben hat, er also in der „Ansicht von Delft“ etwas sah, das – vielleicht- nicht ‚da ist‘ und das Proust nicht dazuerfinden musste.
Liebe Frau Anselm, Ihr Eindruck, in der Fachwelt sei man sich einig, Proust habe das gelbe Mauerstück dazuerfunden, ist nicht ganz vollständig. In Frankreich zumindest ist es nicht so: die Herausgeber der Proust-Studienausgabe, die für alle, auch wissenschaftliche Publikationen maßgebend und zitierfähig ist, sind anderer Auffassung und verorten das Mauerstück („pan“ ist im Französischen keine Ecke, sondern eine Mauer- oder Wandfläche) am äußeren rechten Rand des Gemäldes (Proust: La Prisonnière, herausgegeben von P.-E. Robert, Gallimard Folio Classique 1989, Neuauflage 2021, S.176-177 und S.429).Der Kunsthistoriker A.Jaubert (Autor der Arte-Reihe „Palettes“), zitiert in einer Betrachtung der Werke Vermeers Prousts Beschreibung und weist nach, dass es in mehreren Vermeer-Gemälden Wandflächen gibt, die mit solcher Kunstfertigkeit gemalt sind, dass…
Lieber Herr Bissem, liebe Hörerinnen und Hörer, das fehlende Audio (22/44) ist nun online. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
Zu Frau Anselms Text diese Woche: aber die gelbe Mauer ist doch da! oder schau ich falsch?
Wo ist/bleibt das Audio von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Teil 5: Die Gefangene (22/44)?
Mit freundlichen Grüßen
Hans Bissem
Ich werde mir Ihren Hinweis auf die Emotionalität (Prousts) merken und in Zukunft darauf achten, ob ich diesen Eindruck teilen kann. -
Der Roman-Komplex Albertine war für mich als Erstleser nie ein Fremdkörper. Sollte er tatsächlich nicht ursprünglich dazugehört haben, könnte das evtl. ein Indiz dafür sein, dass Proust sich bewusst wurde (etwa so): die Hauptachse Zeit/Erinnerung allein sei nicht tragfähig, das ICH im Zentrum müsse als begehrendes Ich lebendig werden ...
Übrigens gab es in der Lesung gestern (21/44) eine merkwürdige Stelle, die die Reflexion vom Nachmittag über Kunst (Erzähler am Klavier) neu wendete und für ‚Unschärfe’ sorgte, auch weil zudem ein Zusammenhang mit dem Verlust von Ruhe und Freiheit hergestellt wurde.
Soweit ich weiß, waren die Albertine-Romane in der ursprünglichen Anlage der Recherche nicht vorgesehen. Und ja, ich denke auch, dass Proust hier das Verhältnis zwischen sich als Schreibenden und dem Ich-Erzähler ändert. Die Selbstoffenbarung hat eine andere, nicht allein beschreibende Quali(denti)tät. Die Grenzen beginnen zu verschwimmen wie in Balbec( Natur) und in der Malerei Elstirs (Kunst) schon antizipiert. Der Himmel verläuft sich im Meer und umgekehrt.
Je näher die Zeit des Erzähler-Ichs der Gegenwart des Schreibenden sich annähert, desto emotionaler wird Proust. Da wird etwas zusammengefügt und aufgehoben (Aufhebung im Sinne Hegels, negiert und gleichsam bewahrt)
Danke für die deutlich klareren Formulierungen.
Jemand sagte, es kein UTOPIA als JENSEITS eines Kaninchenlochs gabe.
Was für andere kommende „Stürze“ {durch solche quasi-Löcher wie Jockey-Club -sowie- CERCLE-DE-L`UNION - CERCLE-DE-LA-RUE-ROYALE-Mitgliedschaften} ausserhalb Karl Swann {der auch ums Leben gekommen ist} dürfte man das heutige Zitat {ver}gleichen.. Mir gefällt eine echte KONSTATIERUNG- als Zitat -„Hui, spaetestens an dieser Stelle nahm auch mein Schwindelgefühl {[türlich] beängstigend} zu“. Bei Proust -"DAS SCHWINDELGEFÜHL NAHM ZU [".." oder "..." bedeutete gazing at PRECIOUS wall]SO HÄTTE ICH SCHREIBEN SOLLEN".Zitatende -die aber bedeutete überhaupt nicht, dass MP - Bergotte {k}ein-ANATOL-FRANCE-Figur gegeben hatte. Nicht mehr so eine Romanfigur? Warum?
Als ImmernochEleve in Sachen Proust freut mich, wie Sie meine Anmerkungen aufgreifen, Frau Windeck. Ich liebe nämlich auch die Unschärfen! Die Proust-Lektüre ist mir gerade wegen der ständigen Verwandlungen sympathisch.
Ich bin dem guten Marcel bisher so willig und begierig gefolgt, weil er hartnäckig provozierend das Miteinander unter den Menschen ins Säurebad seines Scharfsinns und Humors! taucht. Oder, um in Ihrem Bild zu bleiben, sein Erzählen auch als Vexierspiel anlegt: unser aller Holzwege aufzeigend auch als erzählender Fallensteller. Für den Wechsel von Perspektiven und all die Unschärfen war mir das ‚Kaleidoskop’ eingefallen. Daneben steht selbstgewiss Prousts Credo zu Kunstwerk und Künstlerexistenz. -
Wie aber denkt und gestaltet er den Zusammenhang der Sphären Leben u. Kunst? Ich vermute, wenn wir darauf eine Antwort suchen, gab sie P. in den Ich-Formen seines Werks und seiner Sprache, die auf ‚Durchlässigkeit’ hält („durchlässig“ ein Proust-Wort).
Kein schwankender Sinn, keine bewusst herbeigeführten Mehrdeutigkeiten dagegen in den Passagen, in denen über Kunst nachgedacht wird, wie zuletzt in der Klaviermeditation über Wagner und die Möglichkeit der Lebens- und Selbstverwirklichung durch das Werk, das den Künstler überdauert. Selbst wenn die letzte Vollkommenheit nicht erreicht wird (wie in den Werken Bergottes), kann es dem Künstler doch gelingen, aus sich selbst heraus den eigenen, mit keinem anderen vergleichbaren Ausdruck zu finden und sein Inneres in ihm und durch ihn wiederzugeben(und damit sein Leben vor sich selbst und vor der Nachwelt zu rechtfertigen). Es gibt keinen Grund zu zweifeln, dass Proust hier ausspricht, wovon er zutiefst überzeugt ist.
…ausnahmsweise einmal nicht zu bohren, zu analysieren, aufzudröseln oder auf Untiefen zu achten. Der Dichter John Keats sprach von der „capability of the mind of being in uncertainties“. Eine solche Fähigkeit auszubilden, kann bei der Lektüre der Recherche mitunter hilfreich sein, so jedenfalls meine Erfahrung. Missverstehen Sie mich bitte nicht: ich halte es für völlig legitim, den ‚Marcel-Wink‘ als Signal zu verstehen, dass in der Tat eine Schranke gefallen sei. Es bleibt abzuwarten, zu welchen Schlussfolgerungen diese Lesart uns führen wird.
Ich stimme Ihnen zu, dass die Namensnennung ‚Marcel‘, die eine Identifikation mit dem Autor nahelegt, eine Zäsur im Roman darstellt. Allerdings ist mein Eindruck, dass damit wenig geklärt und der Leser im Gegenteil auf weitere Holzwege gelockt wird. Die Vexierspiele werden noch unüberschaubarer, die Möglichkeiten und Mehrdeutigkeiten nehmen eher zu. Der „Erzähler“(den der Leser mittlerweile im Plural zu denken gewöhnt ist), „Marcel“ und schließlich auch „Proust“ sind allesamt keine verlässlichen Führer durch das Labyrinth der Recherche, weil sie ihre Karten nie ganz aufdecken (können). Man darf sogar mit der Möglichkeit rechnen, dass das Ariadneknäuel zeitweise – absichtlich oder unabsichtlich- verlorengeht. Als Recherche-Leser(in) muss man, glaube ich, Spaß daran haben, sich ab und zu in einen an der Oberfläche trügerisch gemächlichen Strudel hineinziehen zu lassen und dabei…
…nach ihrer Kommunikationsfähigkeit aus meiner Sicht nur negativ beantworten. Nach dem bisher Gehörten ist Proust in dieser Hinsicht kompromisslos pessimistisch, wofür er zahlreiche Gründe anführt. Natürlich ist es sinnvoll zu fragen, ob das so sein muss und unter welchen Bedingungen Kommunikation gelingen könnte; doch das ist ein weites Feld, wie Vater Briest sagen würde. Wir müssten die Recherche ganz und gar umschreiben.
Ich finde es gar nicht vermessen, von der Recherche als einer Robinsonade zu sprechen, die u.a. die subjektiven Erkenntnismöglichkeiten auszuloten versucht. Seit geraumer Zeit scheint es mir immer plausibler, die Recherche als Ganzes bis auf weiteres vorwiegend als erforschende Auseinandersetzung Prousts mit sich selbst zu lesen; zugespitzt gesagt, als monumentales unausgesetztes Selbstgespräch, das dialogisierte Formen und Romanfiguren einschließt. Ich denke, Herr Reimann hat Recht mit dem Hinweis auf die ‚Durchlässigkeit‘ des „Autors“ und der von ihm geschaffenen Figuren, die auf ihn wie auch aufeinander einwirken und Anstoß geben für immer neue Verwandlungen, wobei das ‚Ich‘ Ausgangs- und Zielpunkt ist und bleibt. Angesichts der Praktiken, die sämtliche Liebende im Roman gegenüber den jeweils Geliebten anwenden, lässt sich die Frage …
... auch eine ‚Erlösung’ zu finden hoffen. -
Nun heißt es genau in jener Wagner-Passage, dass die Liebe solcherart Verwandlung nicht zuwege bringe. Wir sind hier beim Kommunikations-Problem, und Proust gibt eine seiner Antworten. Für Proust ist augenscheinlich das Ich jeweils Ausgangspunkt und auch Zielpunkt, weil es gegenüber einem Du usw. primär immer um einen neuen Anlauf zur Ich-Selbstvergewisserung gehe.
Deshalb auch das ständige Schwanken im Verhältnis zu Albertine – und damit verbunden die wechselnde, janusköpfige Selbstdeutung, z.B. Herr/Sklave. Der Proust’sche Vorrang des Ich in der Kommunikation findet sich auch in der Passage über Albertine, in der man eine Abwandlung des Phaidros-Motivs sehen könnte: Das Erzähler-Ich verleiht A. einerseits Flügel und gibt ihr - so der Text – Freiheit, Farbe und Schönheit; andererseits sperrt es A. ein, nimmt ihr – mit dem Erlöschen des Verlangens – allen Flügel-Zauber: Freiheit, Farbe und Schönheit.
... wie erinnernd die Zeit(en) abgeschritten werden (linear oder sprunghaft). -
Ein oder zwei Seiten später wird dieses ‚Antworten’ der Figuren abgewandelt aufgegriffen, und zwar am Beispiel der Musik Wagners: Das Ich, das sich in ein gelungenes Kunstwerk vertieft, heißt es, steigt ins eigene Innen herab. Und verwandelt sich. Das Ich wird in zweifacher Weise in ein Anderssein verwandelt. Genau diese – gehäufte – Verwendung des Begriffs Verwandlung durch Proust hat mich bewogen, von Metamorphose zu reden. (Sie ist ja auch ein erzählerisches Stilmittel des Romans und zeigt sich in den zahllosen Vergleichen/Metaphern.) Übrigens greift Proust in der eingefügten Passage zum Tod Bergottes den Gedanken der ‚Antwort’ des vollkommenen Kunstwerks wieder auf. –
Was das Ich, so Proust, in der Liebe nicht erlangen kann, kann die Kunst ihm geben. Für den Künstler/Schriftsteller heißt das wahrscheinlich, dass er Erfüllung (nur) durch sein Werk selbst erlangt. Er mag in dieser ‚Lösung’ ...
Ich versuche verständlicher zu reden.
Zur Wendung „beider Ich füreinander durchlässig“ (1031): Mit dem ‚Marcel’-Wink ist die Schranke zwischen Autor und Erzähler durchbrochen. Der Autor gibt zu verstehen, dass wir a) die Innenwelt des Erzählers auch als Innenwelt des Autors deuten dürfen, allerdings (weil die Unterscheidung von Autor/Erzähler bleibt) nicht platt 1:1, sondern in dem Sinne, dass der Autor seine Erfahrungen, Imaginationen, (Alb-)Träume in die Gestaltung seiner Figuren, auch des Erzählers, einarbeitet. Aber nun b): Durchlässig bedeutet auch, dass der Autor sich von seinen Figuren bereichern lässt. Anders ausgedrückt: Indem der Autor seinen Roman schreibt, seine Figuren schafft und ausstattet, werden sie fiktiv lebendig und geben ihm selbst gleichsam Antworten zurück; der Autor tritt mit seinem Werk in Dialog, führt ein kreatives Selbstgespräch, wenn man so sagen will. Proust setzt in der „Recherche“ beider Ich in Szene, immer wieder neu und anders – in dem Maße, ...
Über die Möglichkeiten bzw Unmöglichkeiten von Kommunikation zwischen den Menschen gibt es 1 Studienfach!
Mein Patentkind (Miss 'KommWiss') schreibt gerade eine Masterarbeit. Ich selbst bin weit entfernt von einer Masterschaft, trotz jahrzehntelanger Forschung. 2 schmächtige Erkenntnisse sind geblieben, hier einmal flappsig vorgetragen:
"Jede Jeck is anders", wie mein 5 Monate alter Neffe Lennart aus Köln später einmal sagen wird und
"Was nicht passt, kann leider auch nicht passend gemacht werden" - entgegen der Versprechungen von Werbestrategen.
Zu Band 5 der Recherche:
Auch Monsieur Proust kann mächtig herumschwurbeln. Aber ist ja Weltliteratur.
Wie auch Mister Melville zum Beispiel, der gern ganze Lexikon-Artikel in sein bekanntestes Werk einarbeitet...
Nun, ich gebe ja schmunzelnd zu, dass die 'richtigen' Fragen stets die sind, die man sich selbst stellt. Eine der für mich wichtigen Fragen ist z. B. die nach der Funktion des Selbstgesprächs im Text, im Leben. Die Recherche - da vermesse ich mich jetzt vielleicht - ist ja doch auch eine Robinsonade, ein Erforschen der Einsamkeit unter der Schädeldecke, ein Ausloten der subjektiven, vielleicht sogar nicht dialogisierbaren Erkenntnismoglichkeiten. Das ginge dann in Richtung Scheuklappenproblematik.
Eine andere Frage wäre: Kann Kommunikation zwischen Menschen eigentlich gelingen und wie sähe ein solches Gelingen aus. In der Recherche scheint mir Kommunikation per se zum Scheitern verurteilt, weil im Untergrund immer die Machtfrage und der Wille zur Über'zeugung' steht. Am Ende kommt immer etwas heraus, was niemand gewollt hat. Kann man dem entkommen...?
Ein Beispiel (Proust dt):
„Sehr verschieden darin von der Gesellschaft Albertines, half mir die Musik, in mich selbst hinabzusteigen, dort Neues zu entdecken: das Anderssein nämlich (...) Um ein zweifaches Anderssein handelt es sich dabei (...) die Essenz und Empfindungen eines andern kennenzulernen, in welche die Liebe zu einem Wesen uns nicht einzudringen erlaubt. (...)
Das ist schon ziemlich erschütternd, oder?
Und: Diese Textstelle, vollständig genommen, ist noch um einiges reicher.
So – nun wäre es schön, wenn wir darüber diskutieren könnten.
Die Devise: Fasse dich kurz und präzise ... könnte allerdings ein Hindernis sein ... –
Vielleicht noch was zum Reinwerfen von Begriffen: Was mich die ganze Zeit beschäftigt, ist die Suche nach Ausdrücken, die das Komplexe, den Reichtum der inneren Bezüge im Proust’schen Text irgendwie (metaphorisch/begrifflich) auf den Punkt bringt. Meine Wortwahl ist ein Angebot. Und vorläufig.
Gleich welche Interessen uns leiten: Gerade bei einer Beschränkung auf 1000 Zeichen sollte man vielleicht die alte Journalisten'weisheit' (Sorry, Herr Buchwald für die Anführungszeichen und die Klammern, hier sind sie angebracht) beherzigen : Fasse dich kurz und präzise.
Lieber Herr Reimann, ich will Sie doch in keiner Weise angreifen, und Ihr Erkenntnisinteresse an der Lektüre der Recherche verstehe ich durchaus. Und glauben Sie mir, ich möchte Sie auch verstehen. Doch nun eingestanden: Es fällt mir bei Ihnen meistens schwer. Ich bin ein Anhänger ganzer und klarer Sätze, aus denen hervorgeht, was der Schreiber denkt. Was ich nicht teile, aber durchaus respektiere, ist eine akademische Auseinandersetzung mit Texten, die die eigene Erschütterung außen vorlässt und sich darauf beschränkt, das Handwerkszeug des Autors zu begreifen. Das soll man halten, wie man will.
Wie es scheint, nehmen die Missverständnisse kein Ende: die ‚Scheuklappen‘ sind ein selbstironisches Bild für die ausschließliche, hartnäckige Konzentration auf den geschriebenen/gehörten Text; das ‚unbeirrte Selbstdenken‘ meint die grundsätzliche Skepsis gegenüber jeglicher „Sekundärliteratur“ (Selbstzeugnisse Prousts sowie biographische und zeitgeschichtliche Hintergründe rechne ich nicht dazu). – Die Anmerkung zu Frau Anselm bezieht sich auf den Text von Kolumne 47. - In der Kunst, die „richtigen Fragen“ zu stellen, könnten Sie uns vielleicht gelegentlich mit ein paar Beispielen auf die Sprünge helfen?
Nach 1029 die nächste heftige Reaktion, Herr Stellmann. Sie haben zu Recht angemahnt, wir sollten uns fragen, ob wir die richtigen Fragen stellen.
Nun habe ich mich einfach gefragt, WIE in der „Recherche“ erzählt wird und was sich nach und nach ZUSAMMENFÜGT, und diesen Fragen bin ich weiter nachgegangen. Auf die Textstellen/Gedanken Prousts, auf die sich das sog. Geschwurbelte bezieht, sind Sie wahrscheinlich auch gestoßen. Ich würde mich freuen, wenn Sie, bitte, sich dazu inhaltlich äußerten. Und auch den Wortlaut des Romans dabei aufgreifen.
Vergessen Sie auch nicht das 1000-Zeichen-Limit, das Argumentation und Satzbau Fesseln anlegt. Gruß vom Stakkato.
Zu 1030 - 1033. Aaahja! Danke für die Schlüssel...aber ich finde leider nicht die Tür. Bitte, bitte hören Sie auf mit diesem verschwurbelten Jargon. Fassen Sie mir zurliebe einen Gedanken in klaren Sätzen, ohne ständig Ihren Wortschatz präsentieren zu müssen. Reingeschmissene Begriffe sollten vielleicht mal erklärt und stakkatohaftes Rumgedudel vermieden werden.
Noch einmal ein Filmtipp, wieder in der Arte Mediathek: Die Welt des Marcel Proust.
Wieso kann man die Kolumne https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/der_tag/archiv/20211129_1930/kultur_aktuell_1945.html
DIE GEFANGENE (15 - 19) zwar lesen aber nicht hören? Schade!
M.f.G.
Hans Bissem
... mit den „Holz“ des Bildhauers). –
Nachträgliche Reflexion (Vorrede) und Zyklus-Findung (oder auch die Atelierarbeit Elstirs) sind weitere Stichworte zur Selbstdeutung des Romans: Proust integriert nachträgliche Reflexion in Form des rückschauenden, erinnernden Erzählers, in Form der Etablierung einer doppelten Erzähler-Ebene, die es ermöglicht, Wahrnehmung und Imagination, Bilder, Töne ... zu reihen oder zu spiegeln, übereinanderzulegen – bildhaft gestaltet/gestaffelt in der Reihe der ‚Skope’ von der Laterna magica aufwärts über die Bellevue-Ansichten bis zu den Werken Elstirs.
Wobei P. darauf Wert legt zu betonen, dass echte Einheit (des Werkes) am Anfang nichts von sich wisse, lebendig, nicht logisch entstehe, aus Eingebung geboren sei ... >> Freude, Jubel, Beflügeltsein des Schaffenden und: Rückbindung an „unermüdliche Arbeit“ und „stoffgebundene Apparate“.
... auf einer Meta-Ebene die unbedingte Ich-Setzung des Romans. Daneben soll gelten die Skepsis gegenüber jeder Art von Du- oder Wir-Illusion. Allein die Hervorbringung von Kunst, Musik, Literatur ... soll die Ich-Widersprüche aufheben und eine wirkliche Ich-Hervorbringung=Individualität erzeugen können.
Der Erzähler kann dieser Idee zufolge - sich am Klavier in die Musik vertiefend – in sein Innen eintauchen und darin sogar ein „Anderssein“ wahrnehmen, die Grenzen nur ich-bezogener Individualität überschreiten. Die Passage öffnet, erweitert das Erzähler-Ich zum Autor, zu sich selbst wie zum Anderssein. – Die anschließenden Reflexionen zur Handhabung der Motive in der Musik Wagners sollen wahrscheinlich auf die Erzählstrukturen der „Recherche“ hindeuten. Die Leistungen und Formen des Erinnerns bilden die ‚Partitur’ heraus, in der jeweils Aneignung, Festhalten und Wiedergabe der Motive sich erzählend vollziehen, deren je eigenen „Klang“ respektierend (Vergleich ...
Heute einige ‚Schlüssel’ zum Verständnis der Romankonzeption.
Die Depesche Albertines an ‚Marcel’ wie eine Fermate im Erzählkontinuum. Der Erzähler findet Momente der Entspannung und nutzt sie - am Klavier – zur Meditation.
Zunächst wird à la Hegel ein ‚dialektischer’ Umschlag: Herr/Sklave intoniert: die Ich-Spannung, der innere Widerspruch des begehrenden Ich (Vergnügen, Lust gegen Leiden, Kummer, Eifersucht). Die ‚Aufhebung’ soll nicht in der Liebe möglich sein. -
Die Erzählung bietet uns eine andere Art/Form/Sphäre dafür an - eine ‚Lösung’ mit Hilfe der Musik (oder allgemein der Kunst): Nach Proust soll maßgeblich sein die Verwandlung des Ich, hier exemplifiziert am Erzähler-Ich; das Eingangssignal ist der Name Marcel, eine Erzählwendung, die das Erzähler-Ich öffnet zum Autor und beider Ich füreinander durchlässig macht. Dieser Kunstgriff muss von Proust entschieden gewollt gewesen sein, denke ich. Er manifestiert ...
Liebe und Eifersucht: Begriffsverwirrung oder Begriffserhellung durch Proust?
Das Erzähler-Ich ist dermaßen erfüllt vom Verfügenwollen, die Ich-Perspektive so sehr in Szene gesetzt und ausgestattet mit gleichsam energetischen Eigenschaften eines Mittelpunkts oder Kraftzentrums, das anzieht und abstößt, dass Gefühl(sbegriff)e wie Liebe und Eifersucht in äußerste Relativität gerückt erscheinen (sophistisch?).
Der Erzählbewegung folgend, werden die Gefühle kaleidoskopartig wahrgenommen und in steter Bewegung gehalten. Nie erreicht die Bewegung ein Stadium des Amorphen, weil stets (auch ausgelöst durch äußere Anstöße) neue Vergleiche, Spiegelungen, Schichtungen erfolgen, welche Form annehmen und anbieten: ein Erzählen in Metamorphosen sozusagen.
Scheuklappen haben den Vorteil, unbeirrtes Selbstdenken zu fördern? Ihr Ernst? Unbeirrtes Denken?
Und ja, alles lässt sich philosophisch und als Philosophie lesen. Ich schaue aus dem rechteckigen Fenster und schaue auf rechteckige Fenster und in der Pizza steckt die Sehnsucht nach Harmonie...grins.
Und woher nehmen Sie Ihr Urteil, dass Frau Anselm so wenig Sinn für Sprach- und Klangkunst hat?
Und ein durchgehendes platonisches Denken habe ich Proust nicht unterstellt; das gibt es auch wohl auch nicht., Aber es gibt ein motivisches,an Fragestellungen orientiertes Denken. Und dann steht die Frage, ob wir überhaupt die richtigen Fragen stellen. Und da hilft Sprachverliebtheit ein wenig, aber nicht viel..
Schade, dass Frau Anselm so wenig Sinn für die Sprach- und Klangkunst hat, die in der besprochenen Passage geradezu ‚entfesselt‘ wird. Hier ist die Lesung durch Peter Matic jeder Lektüre des geschriebenen Textes haushoch überlegen. Dank gebührt auch der Übersetzerin, die Melodie, Rhythmus und Klang bewahrt , indem sie vieles in der Originalsprache belassen und die deutschen Übersetzungen diskret in den Text eingeflochten hat.
Sie schreiben: "Die Liebe würde ich zur (gelebten, geträumten und imaginierten) Erinnerung rechnen."
>> Kann ich nachvollziehen, und ist eine Lesart, denke ich, die ihre Berechtigung findet im Obsessiven, das schon so oft zur Sprache kam.
Und doch scheint mir, verweist das Obsessive auf mehr als Erinnern: auf das durchgängig spürbare Begehren. Der Roman ist doch ein großes Bekenntnis zum Eros! Lieben als Aneignenwollen (wie vergänglich und schwankend auch immer). Und gerade die Wiederaufnahme der Urszene Mutterkuss (Lesung vom 24.11.) offenbart die Grundspannung oder auch den Grundwiderspruch hinsichtlich der Liebe: Der Erzähler sucht kein Du (vgl. Nr.1001), aber weiß sich als „Du der Mutter“ und sucht diesen Halt.
Ich würde mich freuen, wenn Musik-Kenner sich in diesem Forum zu Wort meldeten. Die Lesekapitel dieser Woche sind insbesondere dem Hören von Stimmen gewidmet, ihrer Folge und Schichtung - gerade dies auch hineingenommen in die Schilderung der Phasen des Aufwachens; und dass Proust seinen Roman hier wie ein Musikstück komponiert, sprachlich Klangfarben spielen lässt usw. liegt für meine Begriffe auf der Hand. Kann jemand etwas beitragen zur Erhellung dieser Proust-Partitur?
Nun sind wir also unversehens in der Philosophie gelandet :-). Ich denke, fast jeder neuzeitliche Roman lässt sich in dem von Ihnen skizzierten Sinn als „philosophische Erzählung“ lesen. Die Haltung des Erzählers in der Recherche scheint mir in Ihrer Schlussbemerkung gut gekennzeichnet: er möchte sich „durch Kunst und Erinnern“ vom Vergänglichen so viel wie möglich aneignen.Die Liebe würde ich zur (gelebten, geträumten und imaginierten) Erinnerung rechnen.
Auf den zweiten Blick erscheinen mir die Parallelen zu Platon eher als Echo von Prousts klassischer Bildung, die damals jeder Absolvent einer höheren Schule intus haben musste. Sie betreffen Grundkonstellationen, die zu Gemeinplätzen geworden sind (so wie wir heute Freud ‚kennen‘, ohne ihn genau gelesen zu haben). Genuin „platonisches Denken“ habe ich bisher in der Recherche nicht gefunden. Trotzdem haben Sie zweifellos Recht mit der Vermutung, dass es zu dem Thema meterweise Sekundärliteratur gibt. Auf die Suche danach werde ich mich sicher nicht begeben. Bei allen Nachteilen, die die erwähnten Scheuklappen mit sich bringen, haben sie den Vorzug, unbeirrtes Selbstdenken zu fördern.
Ich stimme dem zu, dass man Prousts Roman als philosophische Erzählung lesen kann. Schopenhauer hätte seine Freude daran.
Die „Recherche“ erzählt von den Schwierigkeiten, das Ich auszuloten, ich-glücklich zu sein, Liebe zu empfinden. Die Welt als ein Ensemble von Reizen (schön und hässlich), die Mitwelt der Menschen Anstoß und Hindernis, Zumutung, Täuschung – lauter Ungewissheit und Kränkung. Die „Recherche“ erzählt von den Anstrengungen des Ich, diesen Fesseln seinen Ich-Willen entgegenzusetzen ... sich selbst zu verstehen, Liebender zu sein, sich nicht täuschen zu lassen, im stetigen Wechsel und Wandel Wahrheit festzuhalten.
Daher „Gefangennahme“ (Musterfall Albertine) als Reaktion auf das Gefangensein. Liebe und Kunst und Erinnern: Notwehr im ego-istischen Verlangen, für sich vom Ungewissen und Vergänglichen so viel wie möglich in Aneignung zu verwandeln.
....und den Begriff der Proust-Scheuklappe mit allen Implikationen finde ich anregend!
Lach, es ist wohl eher Prousts Blick, der so weite Bogen spannt.
Ich habe keine Ahnung, ob es in den stehenden Metern der Sekundärliteratur Untersuchungen gibt, die dem Einfluss der antiken Philosophie von den Vorsokratikern bis Aristoteles auf die Recherche nachgehen. Die Einflüsse sind jedenfalls da, von Denkbildern, Methodik bis hin in die inneren Dialoge des Erzahlers. Falls es dazu keine Untersuchung gibt – was ich mir nicht vorstellen kann–, wäre es eine Masterarbeit oder eine Dissertation wert..
Das Bild der Laterna magica hat mich seit Beginn der Lesung fasziniert; aber die Parallele zum Höhlengleichnis ist mir weder auf- noch eingefallen. Danke für Ihren Blick, der so weite Bogen spannt. Ich lese wohl manchmal mit einer Art ‚Proust-Scheuklappen‘, die viel zu eng anliegen…
Über den dreiseitigen Zuspruch freue ich mich sehr. Das hat mir wieder klargemacht, wie wichtig Reaktionen und ‚Rückmeldungen‘ in diesem Forum sind. Vielleicht war ich schon dabei, mir eine Schere in den Kopf zu montieren, ohne es selbst recht zu merken.
... und im übrigen, Frau Windeck: mit dem 'Beflügeln' oder 'Flügel verleihen' hat's Proust auch. Er modifiziert das sokratische Verhältnis allerdings im Sinne seiner Ich-Setzungen - werden wir nachvollziehen können, wie ich beim neugierigen Weiterlesen festgestellt habe.
Warum, Frau Windeck, sollte denn jemand Häme ausschütten? Proust ist doch voll von Anspielungen auf Platon/Sokrates. Das beginnt sinnigerweise schon in seiner Kinderhöhle in Combray mit dem Lichtzauber der laterna magica...
Das passt doch aber sehr, Prousts Text bietet ja gerade auch an vielen Stellen Assoziationen in ganz unterschiedliche Richtungen...
Ich glaube nicht, dass Sie ungenau gelesen haben, lieber Herr Reimann. Ich kann keine „plausibleren“ Alternativen zu Ihren Formeln und Thesen aufstellen. Mein Kommentar (1001-03) enthält alles, was ich derzeit zu dem Thema zu sagen habe, auch zur „obsessiven besitz-/machtheischenden Haltung des Erzählers“.
zu lieben, ohne wiedergeliebt zu werden. Die Beweggründe hinter dieser Maxime sind allerdings weder edel noch idealistisch.
Schön, dass Sie sich einmal wieder einschalten. Durch die Erwähnung von Neuenfels und Ihre Formulierung hatte ich unwillkürlich eine Assoziation, die bis in die Antike zurückreicht: in Platons „Phaidros“ heißt es, der Liebesgott sei in und mit dem Liebenden, nicht dem Geliebten. Sokrates erzählt, wie die Seele des Liebenden durch die Gegenwart des Geliebten buchstäblich „beflügelt“ wird und er ohne den geliebten Menschen nicht mehr leben zu können glaubt … dies gesagt auf die Gefahr, dass Kommentarleser, die lieber das Handfeste sehen, nun kübelweise Häme ausgießen über einen so ‚weltfremd‘ schöngeistigen Assoziations-Exkurs, der noch dazu ein gutes Stück von Proust wegführt. In Zeit und Raum näher bei Proust steht dagegen sein Schriftstellerkollege Montherlant, der in „Die jungen Mädchen“ den Romanhelden erklären lässt, es sei das Ideal der Liebe, …
Liebe Frau Windeck, es ist komisch: Auch ich halte wenig von derartigen Kurzschlüssen vom Autor auf den Erzähler – aber: Wenn ich die obsessive besitz-/machtheischende Haltung des Erzählers gerade im Abschnitt „La prisonnière“ vor mir habe, gemünzt immer wieder auf Frauen!, frage ich mich doch, was im Autor dabei vorgegangen ist. Welche Alternative zu meiner These/Hypothese wäre denn plausibler oder ausgewogener?
Meine Formel „Schwäche-Stärke“ (994) findet wohl Bestätigung im Wort Angst, das nun gehäuft auftritt. -
Es ist übrigens bei Ihnen (Nr. 1003) auch vom Autor und dessen Innenwelt (Sie nennen: Wunschvorstellungen, Erfahrungen, Träume, Ängste und Albträume) die Rede. Oder habe ich ungenau gelesen? -
Noch ein Wort zum Festhalten in zweierlei Hinsicht (Nr. 1011): Ihre Unterscheidung ist treffend.
Lieber Herr Stellmann, es war nicht meine Absicht, eine Diskussion darüber anzuzetteln, was heutige Leser/Leserinnen wohl unter ‚Liebe‘ verstehen. Ich habe einen Minimalkonsens vorausgesetzt in Hinblick auf den Grad von Eigenständigkeit, den die Partner einander zugestehen, ohne dass Zeichen von ‚Eigenleben‘ als Bedrohung empfunden werden. – „Nichts lässt sich festhalten“. Das mag schon so sein. Nur hat Proust die „Recherche“ erklärtermaßen nicht zuletzt geschrieben, weil er sich genau damit nicht abfinden wollte und konnte. Die ‚Liebe‘ allerdings würde in dem Augenblick enden, da ein „Festhalten“ möglich wäre. Das Sich-Entziehen, die Unerreichbarkeit ist eine ihrer Voraussetzungen.In der Erinnerung aber ist das Erlebte aufbewahrt und festgehalten; es kann – unter günstigen Umständen – ‚heraufgeholt‘ und ‚neu erschaffen‘ werden.
Lieber Herr Reimann, es gibt so viele Lesarten der „Recherche“, wie es Proustleser gibt. Jeder muss die ihm angemessene selbst finden. Meine (vorläufigen und unabgeschlossenen) Überlegungen habe ich zur Diskussion gestellt. Warum ich wenig von der Interpretation literarischer Werke auf der Grundlage von biographischen ‚Forschungsergebnissen‘ halte, habe ich schon früher ausführlich dargelegt.
Beischlaf als Auskosten der Allmacht über die Ohnmacht -
Insbesondere die Lesung dieser Woche vermittelt das Denken und Reden eines, der in hellster Wachheit und Entschiedenheit sein Ego gleichsam algorithmisch abzuarbeiten beschlossen hat.
Materielle Beschränkungen seines Tuns scheint es nicht zu geben.
Was der Erzähler uns schildert: Wenn sich Existenz und Bild des Gegenübers immer wieder entziehen, muss das darunter leidende Ich eben zu Experimenten schreiten und gründlich Hand anlegen ... kalte Hitze, Allmachtswünsche ...
Wohl ein treffender Punkt, erinnert an eine Bemerkung von Hans Neuenfels zu Rigoletto (vor Jahren anlässlich einer Inszenierung an der Deutschen Oper) zur Frage, warum sich Gilda für den Herzog opfert (was uns heute ja eher unpassend erscheint): nicht, weil sie gerade ihn so liebte und ohne ihn nicht leben könnte oder wollte, sondern weil sie ihr durch ihn ausgelöstes intensives Lebensgefühl, die "Liebe", nicht missen möchte - aber wäre das dann heute anders? "Liebe" hat eben vielleicht mehr mit dem liebenden als dem geliebten Menschen zu tun. Schön jedenfalls, dass Proust dem Thema weitere Facetten hinzufügt.
Dass Proust unter „Liebe“ etwas anderes versteht als der heutige Leser, .....da würde mich dann doch interressieren, was der heutige Leser unter Liebe versteht....? Und was versteht die heutige Leserin darunter? Liebe bei Proust ist doch Quatsch... Ein hormoneller Unsinn, der vergeht, sobald er nicht die Eigenliebe massiv befriedigt. Was bleibt ist Gewöhnung. Liebe ist ein ideologischer Begriff, etwas, das wir uns einreden, weil wir sonst den ganzen Quatsch nicht aushalten würden.
Eines des Erzählers psychologischer Paradigmen ist das Besitzenwollen gegen alle Vernunft. Dagegen dämmert es : Nichts lässt sich festhalten...und das ist gut so...
... eine Albertine zum Spielball egozentrischer Projektionen gemacht wird oder es von Anfang an - Balbec, Strand - ist. Verstärkend wirkt in dieser Konstruktion die Sappho-Brandmarkung, flankiert übrigens durch ihre Entsprechung in den Charlus-Episoden.
Eifersucht wird so zu einer der Selbstbefriedigung dienenden Strategie. Der Erzähler ist die Figur, in der der Autor mit sich selber spielt. Die Grundspannung Autor/Erzähler ergießt sich - ist die Erzählschleuse einmal geöffnet - in Leidenssüße, Besitzanspruch, latenter Aggression und Mutterfixierung, Gefangensein im eigenen Körper. Alles in erlesenstem Sprachfluss. – Offene Fragen: Wozu dann das Streben nach vollständiger Erinnerung? Wessen Innenwelt wird uns präsentiert? Bietet mir Proust Nähe an oder Distanz?
Liebe ohne das Du! Das sollte dann auch für das Gefühl Eifersucht gelten.
Die allumfassende Egozentrik und Hyper-Introspektion auf Seiten des Erzählers - dieses Konstrukt – resultiert wohl nicht zuletzt daraus, dass er in die Handlung hineingeschickt wird als einer, der Frauen begehrt, von einem Autor, der mit diesem Begehren sein Leben lang nicht klargekommen ist und nun eine Form wählt, dieses – sein! - Problem erzählerisch, gestaltend, ästhetisch zu verarbeiten. Also vor sich/von sich weg hinzustellen, zu objektivieren, zu bannen. Insofern ist es nur konsequent, wenn ...
Brilliant.danke....
Albertine entwickelt sich unter Marcels Einfluss (Kleidung etc.) nun auch äußerlich zu dem, was sie im Grunde (innerhalb des Romans) von Anfang an war: sein Geschöpf. Ungeachtet der genauen Beobachtungen und jenseits diverser real existierender ‚Modelle‘, die Kritiker aufgespürt haben, erscheint mir Albertine in erster Linie als ein Wesen, das in der Phantasie des Autors lebt; in ihr fließen Wunschvorstellungen, Erfahrungen, Träume,Ängste und Albträume zusammen. Es bleibt immer ein heikles Unterfangen, als Geschehen auf einer ‚Handlungsebene‘ der ‚Außenwelt‘ darzustellen, was sich in der Innenwelt abspielt.
…sich von Albertine (die ihn längst langweilt) zu trennen. Er fasst diesen Entschluss, als nähme er ein unabwendbares Schicksal auf sich, das sein künftiges Leben zu einem Leidensweg machen wird. Wenn wir den Text unter Ausblendung aller Unwahrscheinlichkeiten als Bericht im Sinne eines realistischen Romans lesen wollen, können wir Denken und Verhalten des Erzählers mühelos mit einem ganzen Begriffskatalog aus der Psychopathologie belegen. Sich zum Ziel zu setzen, einen anderen Menschen (ob Frau, Mann, Kind) so total zu „besitzen“, dass von ihm nichts Eigenes mehr übrigbleibt, bezeichnen wir mit Recht als krank und gefährlich, zumal der ‚Besessene‘ nicht nur sich selbst, sondern notwendig auch das „geliebte“ Wesen zugrunde richtet. In der Welt der „Recherche“ lässt der Autor dies nicht zu. …
Dass Proust unter „Liebe“ etwas anderes versteht als der heutige Leser, konnten wir seit „Combray“ immer wieder feststellen, und er erläutert es mehr als einmal: im Mittelpunkt steht das Gefühl selbst, unabhängig von dem Wesen, auf das es sich richtet. Er glaubt nachweisen zu können, dass der Eindruck, es würde von einer bestimmten Person ausgelöst und sei an sie gebunden, eine Illusion ist. Folgerichtig ‚existiert‘ die jeweilige Person für den Erzähler nur insofern, als sie auf sein Gefühl, seine Gedanken und Empfindungen bezogen ist. Er sucht kein „Du“. Thema ist ausschließlich das eigene Erleben und Erleiden. Er erlebt und beschreibt sich als Opfer: Albertine bringt seine (potentiell tödliche) Krankheit und ist gleichzeitig das einzige Palliativ. Man denkt an Suchtkrankheiten mit vorhersehbar tragischem Verlauf. Noch stärker als „Liebe“ wirkt für ihn Eifersucht: erst als er erfährt, wie sie zu Mlle de Vinteuil steht, gibt er den Entschluss auf,…
Wenn Sie die aktuelle Seite der Lesung aufrufen, Herr Bissem, finden Sie oben rechts einen Kalender: dort bitte den gewünschten Tag mit den Lesungen der von Ihnen vermissten Folge anklicken! Sie müssten wohl zum Monat Oktober (Pfeil nach links) zurückblättern. Dort finden Sie die Folge 46-50.
Leider fehlt von der Serie "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Teil 4 - Sodom und Gomorrha (01 bis 56)" die Folgen 46-50. Kann das bitte noch nachgeliefert werden?
In der Essenz kommt mir der Erzähler manchmal vor wie Mademoiselle Langstrumpf: ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt..Kindlich, nicht erwachsen, zurechtgebogen, auf der Suche nach einer Haltung und immer müder werdend im Versuch etwas ständig Vergängliches zu retten. Das Wunder der Kindheit löst sich auf ins Nichts...immer wieder...und nichts hilft.... Es wird kalt, immer kälter, je mehr sich der Erzähler erhitzt...
Die Gefangene/1:
Ein großartiger erzählerischer Auftakt, zur Schilderung der Eindrücke, Empfindungen und Erinnerungsbilder des Erzähler-Ich/Ego wird ein Ensemble bekannter Motive (und ein neues!) wachgerufen: das morgendliche noch dunkle Zimmer, die Wonne des Alleinseins und zugleich das symbiotische Wand an Wand der Doppelräume (Großmutter, Mutter, jetzt Albertine; das evoziert auch wieder die Zwitterpflanze/Vanille im Hof der Guermantes) - das Aufwachen in einen neuen Tag hinein: ein weiterer Jahresring (Erinnerungsphase) im Wachstum der Erzählung. –
Die Einbildungskraft verankert im erinnerten Combray, subtil verstreut die Facetten: das Bett an Bett/Mutter, die Sévigné-Maximen; Saint-André-des-Champs/Françoise, die Kirchtürme von Martinville/Schreibanfang und schließlich - neu und stark! – das Barometermännchen: ein Kapuzen-Kommentar der Selbstdistanzierung - durch ein Ich, das sich - jetzt - die Küsse Albertines wie eine Kommunion gefallen lässt.
Kleiner Tipp für Filmfreunde: In der arte-Mediathek ist zur Zeit der Film "Die wiedergefundene Zeit" von Raúl Ruiz zu sehen. Der Film lässt sich auch herunterladen. Schön für alle, die vielleicht erst die Roman-Lektüre beenden möchten...
Lesung 56:
Zitat: „Zu diesen Gottheiten stellt die Frau für uns die Beziehung her, solange unser Beisammensein währt, weiter tut sie im Grunde nichts.“
Ist das ein mutiges Bekenntnis? - der Unfähigkeit, eine Frau anders zu lieben als so: die Frau nutzen als Leitmedium, das die elektrische Kraft dunkler Gottheit auf den Mann strömen lässt. Weil dem Mann (uns!) solche erregende Unterstromsetzung=Liebe not tut, geht es nicht ohne Frau in diesem göttlichen Verhängnis. Ihm verdankt die Frau einen schönen metallischen Sekundärwert. Aber bitte Ergebenheit, Schönheit, Geist und Güte! So der Erzähler.
Lesung 55:
Unser Erzähler - ja, er horcht in sich hinein und versteht dann seine Worte gezielt zu setzen: welch robuste Energie in all dem Herzschmerz! Da ist sofort Kraft da für Erfindungen/Lügen, eine Schwäche-Stärke, profunde und produktive Wehleidigkeit (die Mutter nebenan), Leidensgenuss und Aggressivität; Hauptsache, die Kontrolle über die Frau geht nicht verloren, denn Lieben heißt für dieses Ich Zweifeln ...
Ist das widersprüchlich?
Der Kraftakt des Aufschreibens, die Entlastung – sie stehen noch bevor. Aber wann - was muss noch geschehen?
Fein, man braucht keinen sprachlichen Overkill, um Proust nahe zu kommen. Reinhören ins ich...das hat Proust gemacht... Und darum geht es m.E... mit allen Widersprüchlichkeiten, Unzulänglichkeiten, Kompositionsproblemen. Das Leben ist nicht auf einen Nenner zu bringen, auch nicht romanhaft..,. Und wer erzählt nicht Romane über sein Leben..girins
Lesung 54
Die Kleinbahnstrecke: für den E. eine Kette der Freundschaften. Zwar Entzauberung der Ortsnamen, aber reiche Entschädigung durch Tilgung von Angst und Trauer; die Balbec-Region scheinbar verwandelt in vertrautes Zuhause, die Atmosphäre leicht einzuatmen, sogar die Stille besteht aus dem Schlaf von Freunden; und Brichot (der alle Namen auslotet) entbietet das griechische Lebewohl.-
Das Kleinbahnabteil auch Ort der Dreiecke mit Albertine: erst Charlus und Saint-Loup, jetzt Andrée und Mlle Vinteuil als Dritte. Der E. macht das Kleinbahnabteil zum Ort von Täuschung und Lüge - und ihn ereilen - wie in griechischer Tragödie - Rache und Züchtigung: neue intermittences du cœur statt friedlicher Ruhe – die Wendung pays de connaissance entpuppt sich als trügerisch und doppeldeutig.
Ich empfehle jetzt mal als Sekundärliteratur zu Proust: Eric Berne, Spiele der Erwachsenen...
Liebe Frau Dienhardt,
der Anklickpunkt für die wöchentliche Kolumne steht immer rechts von unseren Kommentaren (auf dem PC-Monitor) (Schmalzphone zeigt vielleicht anders an). Auch für die aktuelle. Dort finden Sie schnell sämtliche Anselms, von der ersten Folge (Swann 1-5) bis heute.
Lediglich die Folgen Sodom 11-15 und 26-30 fehlen - aber wer von uns war nicht einmal krank zwischendurch oder gelangweilt...
Hüstel --
wie Frau Dr. Erika Fuchs gesagt hätte
Transaktionsanalytisch bleibt es dennoch ein Dramadreieck...mehr habe ich nicht gesagt.
Ich sehe das Dreieck auf andere Weise: Charlus und Morel manipulieren als Rivalen um die Dominanz in ihrer sexuellen Liaison (das eigentliche Duell!), deren Spannung zugleich geprägt ist von sozialem Kontrast und pekuniärem Interesse. Statt Opfer-Täter wohl eher Wechselwirkung von Sadist und Masochist.
Der Dritte nicht Helfer, sondern interessiert-intimer Begleiter und Mitspieler, der sich beobachtend und einfühlend der Spannung aussetzt, sie aufsaugt – Bedürfnis v.a. nach Wiedergabe/Entlastung durchs Erzählen. Parallel manipuliert er mit Albertine.
Reprise der Szenen mit Rahel und Saint-Loup (neben der Begehrens-Affäre Herzogin G.). –
Das Drei- oder Viereck Mutter(Großmutter)-Vater-Sohn steht wohl in einem anderen, übergreifenden Kontext.
Wo bleibt die Kolumne für die Folgen 51 -55 bzw. 56 ???
Zu Folge 49... Ein aus meiner Sicht perfekt dargestelltes Dramadreieck. Opfer, Ankläger, Helfer wechseln darin ihre manipulativen Rollen. Manipulation ist dabei nicht allein Tätersache, sondern auch Opfersache...Dem Helfer - in diesem Falle dem Erzähler, ist ein Nein, ein Entziehen kaum möglich, weil er in früher Kindheit in Dramadreiecken – Kind - Mutter - Vater groß geworden ist.
Die Beredsamkeit Prousts gründet in der Sprachlosigkeit der Väter...
Stelle ich jetzt mal so hin...
Liebe Frau Anselm,
Ihren Kommentar zur Woche, ach was, bis zum Jahresende, empfinde ich einmal mehr als erfrischend, bodenständig und aufrichtig.
Für mich fängt - fast - jede Woche dadurch wunderbar an, wie nach einer prickelnd heiss-kalten Montagmorgendusche und danach trockenfrottieren.
Schön.
Danke!
Wir sollten....? aber nein! – ich zumindest will das nicht. Und ich werde mich da auch nicht vereinnahmen lassen. Ich werde mir keine Richtung vorgeben lassen, in der ich Proust zu lesen habe.
Ich will auch für mich keine handfesten Aussagen über Proust machen oder gar haben, mit denen ich hausieren kann. Ja, Proust führt mich auf die K(l)ippe, immer wieder und nach der dritten Lektüre wieder einmal anders. Mich interessiert an Literatur eigentlich nur die Frage, was die Geschichte mit mir zu tun hat, nicht ein objektivierendes, einordnendes Interresse. das !angweilte mich, gerade bei Proust. Proust im Zettelkasten von Literaturwissenschaftlern begraben...das hat er nicht verdient...
Yo, ein echtes WUNDER, liebe Zofia, dass Sie die strenge Zensur der Redaktion erfolgreich passiert haben - fragen Sie unseren allseits beliebten Kommentator Martin Reimann.
Vielleicht hat Dr. Ogundele sogar ein Heilmittel gegen Logorrhoe?! Das wäre nicht schlecht, denn meine Gedanken zu Proust fließen, durchmischt mit vielen überflüssigen "Anführungszeichen", oft ganz unkontrollier- und redigierbar nur so aus mir heraus...
Unsere Aussagen in der Diskussion sind immer wieder auf der Kippe, weil wir bei Proust augenscheinlich zwischen Autor und Erzähler nur schwer unterscheiden können, wenn es um solche Haltungen geht wie ‚xy-Feindlichkeit’ (oder ‚-Freundlichkeit’). Ich neige deshalb dazu, so wenig wie möglich generelle Aussagen zu treffen und stattdessen (generalisierende WIR/MAN-) Aussagen im originären Proust-Text mit Frage- und Ausrufungszeichen zu versehen. Kann ja sein, dass sie im Gefüge des Romans (und/oder in der Summe) sich wechselseitig relativieren (‚jeder kriegt sein Fett weg’- oder seine Gerechtigkeit). –
Und dennoch (altes Lied meinerseits): Am Ende zählt - Ich-Form!! - die Stimmigkeit der Erzähler-Perspektive. Ich glaube gern, dass P. zutiefst menschlich ist. Wir sollten des Autors Haltung erkunden - an seinem Werk.
Kurze Ergänzung zu 979. Wenn ich von Vergewaltigung gesprochen habe, so bitte ich dieses nicht im engen strafrechtlichen Sinne zu verstehen.
Ob Proust und sein Erzähler frauen-, männer- oder gar menschenfeindlich sind, vermag ich nicht zu sagen. Sein kristalliner Blick versucht lediglich menschliche Persönlichkeiten in möglichst vielen ihrer Facetten auszuleuchten, auch bis in die unangenehmsten Winkel hinein. Dass das nicht immer schön ist... Nun ja, wer trägt keine modrigen Abgründe mit sich herum....
Nein, ich glaube, Proust ist zutiefst menschlich und menschenfreundlich...
Danke, Herr Stellmann, das klingt schon anders und sogar richtig gut!
An der betreffenden Romanstelle gab's bei Proust die provozierende Generalisierung im apodiktischen Stil: „Die Unterhaltung einer Frau, die man liebt ..." MAN! - und dann folgte noch "heimtückisch" ...
Sprach da etwa ein Beschädigter? Der engere Kontext enthüllt die Aussage als Ausgeburt von ‚Eifersucht’ (= Eigenliebe?). Dass ‚Männer’ bei Proust keineswegs glänzend wegkommen, d’accord.
Kalter Tropfen der misogynie? Der umfassende Versuch einer Vergewaltigung folgt erst noch... Aber sämtliche Vergewaltigungsversuche und reale Vergewaltingungen sind geschlechterunabhängig und beruhen auf dem Willen zur Macht, der seine Wurzel in der eigenen, vielleicht nur empfundenen, vielleicht realen Ohnmacht hat.
Und ich lese Proust auch als durchaus männerfeindlich. Den fettesten Panzer trägt nicht Proust...
Lesung der Woche (SG/46ff.)
Ich gebe zu: Ich habe schon ein paar Seiten weiter gelesen.
Mein Gefühl trog wohl nicht: Morel als heimliches Epizentrum der Kapitel. Die filigrane Schilderung der Befindlichkeiten und Manöver des Barons de Charlus - offen gesagt, sie nervt mich inzwischen; natürlich setzt Proust immer wieder auf Komik, aber auch die klingt wie Falschgeld. Was zum Teufel treibt sich der Erzähler dabei so intim-kennerisch herum? Ist er auf dem Weg, das, was auf der Hand liegt, an langer Leine heranzuführen: Charlus’ Masochismus? –
Und was macht Proust noch? Einen Erzähljoker deckt er auf: der Prinz von Guermantes als ‚Sodom-Verwandter’ von Charlus! Richtig gute Komik dabei die Szene, in der Morel über die Guermantes-Familienfotos stolpert.
Seinen Ich-Erzähler stattet P. derweil mit allumfassender Unwiderstehlichkeit aus: überall mühelos Zugang, saugt seine Eindrücke auf und kann sich eine Albertine halten.
Mhm ..., gefragt war nach Proust, also: Würde der Autor/Erzähler die Aussage („gefahrvoller Wasserlauf“/“durchdringende Kälte einer unsichtbaren Flut“) auch auf einen Mann münzen? Würde daraus ein Proust-Schuh?
Oder quillt hier ein durchdringend kalter Tropfen Misogynie von unten durch den Proust-Boden?
Wenn Sie "Mannes" durch "Menschens" ersetzen, könnte ein Schuh drauswerden. Ist doch egal, ob Mann oder Frau oder divers...lach
! Bon rétablissement, Frau Windeck !
Nach krankenhausbedingter Pause melde ich mich zurück, vorerst als aufmerksame Kommentar-Leserin. Ein Weilchen möchte ich das Geschehen im Forum mal aus der komfortablen Position unserer Logenabonnenten verfolgen.
Lesung dieser Woche (SG/41-45):
Weiterhin brillante Beschreibungen von Landschaft u. Natur, sehr schön die originären Wahrnehmungen des Perspektivenwandels durchs Autofahren. -
Aber die Szenen mit Albertine !?
Mir fällt dazu leider die abgedroschene Wendung ein: Er kommt nicht zu Potte. Natürlich kann man wie Frau Anselm in der einen oder anderen Kurzszene sexuelle Anspielungen oder auch Sexspielchen ausmachen, aber das Bemerkenswerte ist doch wohl: Die Szenen atmen Hilflosigkeit. Peinlich, finde ich, ist die Fixierung Albertines auf die Objektrolle - ob in Begehren oder Eifersucht; da ist das Personenverhältnis im Kontrastpaar Morel/Charlus (angereichert durch den Chauffeur) aspektreicher (kenntnisreicher?) ausgestaltet. Hübsch meinetwegen der Aventiure-Moment zu Pferd, als durch die Lichtung im dunklen Wald plötzlich der Halbgott Aeroplan erscheint.-
Sind die häufigen Vorblenden Anzeichen von Kompositionsproblemen?
Könnte auch d i e s e r Satz ein Proust-Satz sein: „Die Unterhaltung eines Mannes, den man liebt, gleicht einem Boden, der über einem unterirdischen, gefahrvollen Wasserlauf liegt; man spürt in jedem Augenblick unter den Worten die Gegenwart, die durchdringende Kälte einer unsichtbaren Flut; hier und da bemerkt man, wie sie heimtückisch durch den Boden sickert, aber sie selbst bleibt immer im verborgenen.“ ??
(Lesung heute, nach 18 Min.)
Danke, Frau Krings -
Proust über Schlaf und Erwachen, der Erzähler (die „Eule“ in Erwartung des erlösenden Todes) spricht.
Faszinierend die Beschreibungen der Übergänge vom Wachen in den Schlaf und umgekehrt. Der Schlaf sei Zustand und Zeit von ‚Abwesenheit’ – aber welcher? Die Bilder/Szenen im Schlaf nennen wir Traum. Vom Ich im Traum ist kaum die Rede, seltsam. Der Erzähler beschreibt den Schlaf (besser: Traum) als Ort/Sphäre der Vermischung und Vertauschung, auch der Konfrontation (Frau/Mann > „androgyn“; Dinge/Belebtes/Menschen; Freunde/Feinde), in einer weiteren Reflexion: als der „Zeit“ enthoben. Im Schlaf/Traum ‚erleben’ wir Leiden und (sexuelle) Lust. Was ihn beschäftigt, ist der unklare Ich-Zustand („niemand“) im Erwachen. Ihm ist zwar klar, dass Bewusstsein, Gedächtnis und auch Erinnerung ans Wachsein gebunden sind, aber das „Meer“ Schlaf trage der „Halbinsel“ Leben ein ‚tiefere Wahrheit’ zu, eben die Potenzen aller Ich-Vertauschtheit und - Impulse fürs Erinnern.
Was für eine faszinierende Passage über die eigene Welt des Schlafs und den Moment des Erwachens beschreibt der Erzähler am Ende der Woche. Ich bin berührt und begeistert ob dieser phantasievollen Bilder, die treffender nicht sein könnten.
Lesung heute: eine Gelenkstelle des Romans?
Proust nimmt das Thema ‚Wachen-Schlaf-Traum’ wieder auf. Im Doncières-Kapitel (Guermantes-I) hatte der Erzähler bereits über die Arten des Schlafes und das Aufwachen reflektiert und andere, aber ähnliche Metaphern zur Veranschaulichung gefunden. Einmal hieß es: „Ich erzähle das, weil man das Leben der Menschen nicht richtig beschreiben kann, wenn man es nicht auch in den Schlummer hinein verfolgt, von dem es Nacht für Nacht umspült wird wie eine Halbinsel vom Meer.“ Am Ende ging es um die „Drehscheibe des Erwachens“.
In „La Raspelière“ war es dem Buffo-Paar Cottard vorbehalten, die Phänomene des Nickerchens nach guter Mahlzeit durchzuspielen. Dem Erzähler kam es so vor, als führten Voreingenommenheit und Interesse durchaus (Teil-)Regie bis ins Schlafverhalten der Arzt-Gattin hinein.
Die wechselseitige Durchlässigkeit der „Wohnungen“ Wachsein und Schlaf wurde bereits im Hotelzimmer von Doncières intensiv beleuchtet.
III ‚Funktion’
5) Die gesamte Szenerie im Salon erweckt den Eindruck, dass das ‚beabsichtigte Thema’ noch aufgeschoben wird. Zunächst nur Ambiente und Kulisse, gesellschaftliche Atmosphäre, Denk- und Redestereotype.
6) Das ‚beabsichtigte Thema’? Wahrscheinlich das in der Szene Lauernde, eben ‚Sodom und Gomorra’, angedeutet in den Momenten, in denen Morel (> Charlus) und Albertine (> Erzähler) in den Blick geraten.
7) Wichtig scheint Proust die Form zu sein: a) die erzählerische Zwischenphase eines ‚Anlaufens’ - ein ‚Durchatmen’ und ‚Aufsaugen’ von ‚Roh-Stoff’; b) in der sensiblen ‚Wiedergabe’ der Gespräche Darbietung einer ‚Tonkunst’ - Aufklingenlassen einer ‚Welt’, die sich ‚selbst aussprechen’, kenntlich werden soll (die Sprache verrät unmittelbar, was ein Kommentar nur umschreiben würde).
... das groteske Pärchen mit den schief-starren Gesichtern - ein sprechendes Doppelbild.
II Erzähler und Autor
3) Der Erzähler lässt diese Gesellschaft als Reigen von Egoisten und Nervösen, voller Selbstbezüglichkeiten und Täuschungen vorüberziehen. Als Beobachter wahrt er Distanz und Ironie (dank der Hintergrundregie des Autors, der die Blickrichtungen steuert, indem er die Spiegel der Betrachtung ständig umarrangiert).
4) Daneben Einschübe der Ernsthaftigkeit, den Erzähler betreffend – aber springend zwischen Erleben und Kommentar.
E. bleibt s e i n e r Perspektive treu (die Tiefenschichten von Natur, Gesellschaft, Kunst wahrnehmen und in Bilder/Szenen transplantieren): siehe seinen Enthusiasmus (Höhenlage La Raspelière) , sein Kunst-Credo (Elstirs „innerer Garten“) - dazu der Blick auf die drei Adjektive der alten Mme Cambremer: ihr „Diminuendo“ als eigentümliche Vertikale der Umwertung - vgl. den Blick von der Höhe aufs Meer: Gletscher statt Gebirge.
...
Anmerkungen zum Roman-Abschnitt „La Raspelière“/ Mittwochskreis
I Schauplatz
1) Das Landhaus als Objekt der Rivalität zweier sozialer Aufsteigertypen (Mmes Cambremer-Legrandin u. Verdurin). Der „kleine Kreis“ der Verdurins muss beim Aufeinandertreffen mit den Cambremers und dem Neu-Gast Charlus die Rangordnung für den Abend neu ausfechten. Morel das heimliches Epizentrum.
Dem Salon für ‚Progressivität’ wird der Spiegel vorgehalten, die Protagonisten selber in dauernder Spiegelfechterei und Ausstecherei, allg. Imponiergehabe. Jeder hat, wenn er seinen Nachbarn anspricht, zugleich andere im Visier.
2) Facetten von Komik, Ironie; Satire bis hin zur Groteske in Proust’scher Kleinzeichnung:
Zum Repertoire gehören Hampelmänner und bunte Hunde wie Saniette, Ski und der Norweger; Brichot und Cottard als Fermente der Unterhaltung. Alle wollen Treffer landen, den nächsten Stich machen usw.
Großartig übrigens Mme V. und Marquis C. als ...
Das passt nicht zusammen, soll es wohl auch nicht...und es soll wohl auch nicht passend gemacht werden...
Jetzt reicht's mir für ein paar Tage (mindestens).
... macht's Proust eben mit Haken und Ösen: Er lässt den Erzähler 'mitschwinmen' (Tischgespräche) und zugleich am 'Ufer' stehen. Involvierter und Beobachter - Dilemma oder Problem?
Ich lese fragend so mit: (wie) passt's zusammen?
Also beharrlich mein alter Punkt: die Figur des Erzählers. Wie glaubwürdig?
Auch wenn wir uns (vgl. Nr. 944) dem großen Fluss genießend überlassen wollen, ...
Donnerstag - Der Gesprächsfluss wird abgelöst durch Passagen nicht nur der Beobachtung, auch der Kommentierung (aus Distanz!) so v.a. über Charlus. Der Erzähler taxiert aufs intensivste den „Invertierten“ – so bohrend-wissend, dass ich mich frage, woher diese Erfahrung kommt. Dann springt er scheinbar wieder ins Gespräch und lässt doppeldeutig mit sich und seinen Erstickungsanfällen spielen.
... tut mir leid - liefere notgedrungen Bruchstücke
Freitag - Abgründige Komik pur, Proust schaut den Herrschaften aufs Maul. Und der Erzähler: mit am Tisch und als Beobachter am Rand. Frei von Erstickungsanfällen quält er sich mit Aussichten auf Verlobung und Heirat, das hörnchentunkende Kind sieht die Last des Erwachsenseins vor sich.
Unter den humoristischen Kabinettstückchen grandios die Beschreibung des Marquis Cambremer mit Augen und Nase vom Cotentin. Proust zieht bei der Charakterisierung der Protagonisten seine Landschaftsregister. Nebenbei reibt er uns eine ‚Theorie’ der Verwurzelung menschlicher Eigenheiten (ironisch) unter die Nase.
... wieder blockiert ... rbb liest mit? und meldet sich eventuell?
Ortsnamenkunde doppelsinnig: einerseits Gesellschaftsspiel für die Geladenen, ob adlig oder bürgerlich, Stoff für wetteifernden small talk. Was steckt dahinter, täuschen Namen, wer dominiert beim richtigen Benennen? Schein und Oberfläche, Eitelkeit und Ambition regieren Tischgespräch und soziales Gebaren; man will einander ausstechen, übertrumpfen. Vor allem in Fragen von Geschmack und Distinktion. So ist die ‚Etymologie’ willkommener Zeitvertreib, unverbindlich durchzuspielen, was man meidet offen auszusprechen: dass der Schein zu wahren ist und dass der Schein trügt. Für den Erzähler aber zählt der Blick auf Geschichte und richtiges Benennen tatsächlich. Es ist ihm ernst, ihn interessieren Herkunft und Wandel.
Meine Kommentare (Größe unter 500 Z.) werden nicht angenommen - "wegen technischer Probleme" ...
Ich bin froh, dass Sie auf die Blicke aufs Meer bei der Ankunft in La Raspeliere hingewiesen haben. Mir fiel vor allem auf, wie er unmittelbar nach der Beschreibung der Horizontverschiebungen (horizontal/vertikal etc) an den Getreuen und Gästen der Verdurins vorführt, dass sich diese Perspektivverschiebung in der (gegenseitigen) Einschätzung der Personen spiegelt: je nach gesellschaftlichem Milieu (und alle beschriebenen sind auf ihre Weise ‚borniert‘) können diametral entgegengesetzte z.T. absurde (Fehl)einschätzungen entstehen. Ist das nicht heute auch so? Da genaue Beobachtung durch die normale Hektik unseres Alltags kaum mehr möglich ist, werden Menschen sogar noch schneller eingetütet und etikettiert, oft ihren Masken entsprechend, ebenso oft durch vermeintliche Demaskierung. In den letzten Folgen gab es außerdem Bedenkenswertes zur Neigung, sich selbst zu belügen.
"Fehler: Leider konnte Ihr Kommentar wegen technischer Probleme nicht erfasst werden. "
Wer hat beim rbb den Schraubenzieher, der die Blockade löst ?
Fazit: nur Kürzest-Texte werden transportiert - schade ...
... letzter Versuch heute ...
Die Kommentar-Eingabe wird immer noch blockiert ...
... technische Probleme ? ...
... der Höhendistanz könnte auch heißen, dass man aus größerer Fallhöhe manches besser erkennt oder gezeigt bekommt, wenn man sich Zeit nimmt für den Raum. Proust gibt uns einmal mehr eine ‚Seelen-Körper-Schilderung’: Anspielung auch auf oder gar Chiffre für den Wandel von Emotion und Perspektive beim/im Betrachten und Erleben: unstete Welt- und Ichbewältigung. Wiederum Wassermetaphorik wie bei H. Roberts Springbrunnen. - Es knistert im ‚kleinen Kreis’. -
Frage: Hat schon jemand im Forum auf Thomas Manns ‚Zauberberg’ hingewiesen? Der Blick 'von da oben' ist wahrlich nur eine von unendlichen Vergleichsmöglichkeiten der Romane beider Autoren.
Blicke aufs Meer von der Steilküste. Bester Proust. So wird auch klar, dass das Gespann Cottard/Brichot zuvor im Kleinbahn-Talk ‚Botenstoff’ geliefert hat: Proust hat augenscheinlich so etwas wie eine erzählerische ‚Topographie’ im Sinn, die den jeweiligen Ort des sozialen Geschehens - der eitlen Soiree-Gespräche, Rivalitäten und erotischen Ambitionen – in ihren Tiefenschichten ausmisst oder tiefenscharf ausleuchtet. In den Ortsnamen liegt verborgen das Geheimnis der ursprünglichen Besiedlung, Beherrschung, Meisterung, Zivilisierung, Zähmung von N a t u r . Ihre elementare
B e n e n n u n g und G e s c h i c h t e also. [Nebenbei werden „Irrtümer“ (des Pfarrers) von Combray korrigiert.]
Das führt hin zum Halt auf dem Höhenzug von „La Raspelière“ und liefert dem Erzähler eine „Reliefkarte“ zu einem neuen verstehenden Wahrnehmen und Genießen der Tiefen-/Höhen- S c h i c h t e n der ‚malerischen Natur’, einer Zwienatur - des Land-Meer-Doppelkörpers. Der Blick aus ..
Guter Wedding, schlechter Wedding, schlechter Proust, guter Proust – ja, irgendwann endet des Sängers Höflichkeits-Schweigen.
Bin nach Tagen einer ausgesprochenen Lektüreunlust erst gestern wieder ‚animiert’ worden. Denn wie war’s: Noch ne Soiree, absehbar im Zeichen der Rivalität der Cambremer/Verdurin, und die Kleinbahn dorthin mit skurrilem Personal. Und heute wieder ein G’schmäckle, das ja keineswegs von Charlus ausgeht, sondern - pardon! - vom Erzähler. Proust hält ihn knapp über Wasser, belastet sein Kommentieren mit der Rolle/Pose des unbedingten Frauenliebhabers oder Heiratskandidaten; ich frage mich, wann er ihm den Rettungsring zuwirft, damit er nicht in Un- oder Halbehrlichkeit untergeht. –
Gestern endlich richtig guter Proust (damit meine ich nicht, was Frau Anselm zu Recht hervorhebt: Proust als Komödiant der Eitelkeiten und als begnadeter Parodist): Ich habe im Blick – vielleicht schon ein erster Rettungsring - die kurze Passage der Naturschilderung: ...
Schön, dass Sie aus der Reserve treten, Herr Buchwald. Ihre Devise ‚Amüsieren statt Enervieren’ ist wahrscheinlich die gesündeste bei einem 4000-Seiter. Und ein deutliches Lob für die Kolumnen von Frau Anselm ist auch angebracht.
Das Déjeuner sur lit mit Hörnchentunken im Beisein von zwei Frauen hat auch mich amüsiert. Die ‚Genreszene’ ist ganz sicher eine selbstironische Hommage Prousts an die wirkliche Céleste Albaret (seine Haushälterin). Hebel würde noch sagen: Merke, Proust wählt für die Charakterisierung seines Erzählers den Umweg solcher Parodie. Hier ist der junge Mann nicht der vorgebliche Frauenliebhaber, sondern das Kind, das zu stolz ist, einen Latz im Bett zu tragen. – Zu Tropfen und Fluss finden Sie unten (Nr.947f) was. -
Gruß auch an Herrn Stellmann, der wieder kämpferisch hervortritt, danke. Ich kann mir nicht verkneifen, zu verraten, dass mit der „Papier-Welt“ ganz bestimmt nicht der Proust-Roman gemeint war. - Schön, dass ein paar Tage Schweigen Wirkung zeigt.
Na, da bin ich gespannt auf die Reaktionen aus der Papier-Welt, lol
Ich war amüsiert, ja, begeistert über die Schilderung der beiden Schwestern, die den Protagonisten beim Frühstück im Hotelbett begleiten. Die Beschreibung des kleinen Vögelchens, das und wie es sein Hörnchen in die Milch tunkt, war besser als Film! Und alles nur wörtliche Rede!
Natürlich fragt sich, standen dem Autor Notizen zur Verfügung? Doch kein Handbuch, kein Forschen.
Frau Anselm, die mich auf diesen rbb-Seiten stets über Wasser gehalten hat, wenn die sonstige Kommentar-Lektüre doch gar zu enervierend war, hat recht!
Panta Rhei, auch der Matic-Proust.
Ich muss nicht die molekulare Struktur jedes Tropfens wissen, der vorüberzieht. Lieber den großen Fluss in seiner Gesamtheit genießen,,,
Doris Anselm hat in ihrer Kolumne heute die These aufgestellt: Wer diesen Roman verstehen will, benötigt paradoxerweise auch den Mut zum Nicht-Lesen. Also zur Flüchtigkeit, zum Ignorieren und zur Wissenslücke. Ist das so? Vielleicht ist für einige auch gerade die Zeit, zum Nicht-Kommentieren - wir hoffen aber, Sie sind weiterhin dabei! Und haben bald auch wieder Lust und Muße zum Austausch.
Was los hier?
Klemmt etwa die Taste "Anführungszeichen"???
Dann verstehe ich das Schweigen natürlich.
Ein Mangel an Deutungen, Reflexionen, Impressionen, gegenseitiger Beweihräucherung etc pp kann es jedenfalls nicht sein...
... Opernführers; ich hab die Oper noch nie selbst gesehen).
Übrigens, in puncto Eifersucht ist mir die Häufung der Vorankündigungen im Text aufgefallen (kluge Entscheidung?) und dann diese Bemerkung des Erzählers zu Albertines ‚Geheimnis’: Sie „hing doch an mir, auf eine Weise sogar, dass jene andere Person gewiss eifersüchtiger war als ich“.
Und der Laster-Vergleich Albertine-Odette (Kokotte) scheint mir ziemlich hergeholt/konstruiert zu sein. Für mich zwei Signale der Eigenliebe des Erzählers mit ihren Windungen zwecks Selbstrechtfertigung.
Danke, Frau Windeck, für Ihren Kommentar. Meine ‚Deckmantel-These’ möchte ich gern so stehen lassen, ich weiß selbst, dass ich (in Unkenntnis der weiteren Romanteile) mit dieser Äußerung ‚unabgesichert’ formuliert habe – aber es musste einfach sein!
Beim ‚Betriebsgeheimnis’ bin ich lernwillig, Sie schreiben, was es nicht sei - aber worauf bezieht es sich denn? Bin ratlos - ich weiß, dass R. Safranski den Begriff auch angewendet hat auf seine Bücher über Heidegger, Nietzsche und Schiller. Es war bei ihm (auch bei mir, siehe Nr. 930/931) nie bezogen auf die Person des Autors, sondern auf das Werk und meinte so etwas wie die ‚innere Uhr’ des Werks oder: wie ‚das System tickt’.
Zu Debussys P&M: hatte die ‚Männerperspektive’ vor Augen; Eifersucht – natürlich, ja! allerdings maskuline Gewalt/Zartheit als konstitut. Doppel-Momente, übrigens verteilt auf beide Personen (Golaud/Pelléas) – und gegenüber einer Frau‚ deren ‚Geheimnis’ ausstrahlt (abgeleitet aus den Infos meines ...
mit der Literatur der deutschen Romantik. Der Begriff bezieht sich nicht auf die Psychologie eines Autors, noch weniger auf seine Biographie. – Prousts homoerotische Neigungen sind bekannt und waren es schon damals, als solches ‚Wissen‘ uneingestanden bleiben musste und ein Höchstmaß an Umsicht und Diskretion erforderte. Die daraus resultierenden (mutmaßlichen)Mystifikationen, denen Sie mit viel Einfühlungsvermögen im Text nachspüren, sind allenfalls ein ‚halboffenes‘ Geheimnis. Ich halte Ihre Beobachtungen für wichtig; ob sie für das Verständnis der Recherche grundlegend sind, lässt sich noch nicht beurteilen. 936: Sie vermuten richtig: ‚Gilberte‘ und ‚Albertine‘ sind aus männlichen Vornamen abgeleitet; die weiblichen Formen existieren, sind aber selten.
Ihren Ausführungen zu ‚Sappho‘ und den anschließenden Sequenzen folge ich gern, auch der Art, wie Sie Meeres- und Wellenmetaphern zu einem Bildgewebe verknüpfen und Seelenlandschaften darin erkennen. -Pelléas und Mélisande würde ich unter anderen Stichworten behandeln als „Traum und Trauma“(bisschen platt?)oder „Frauenrätsel“. Wie in der Genoveva-Legende spielt in dem Drama (und Debussys Oper) mörderische Eifersucht eine Rolle.- Ihre „Deckmantel“-These kann ich zwar nachvollziehen, sie geht mir aber in Ihrer Deutung derzeit zu weit über den Text hinaus. – Zu Ihrer früher gestellten Frage: nein,wir rühren bisher an keinerlei ‚Betriebsgeheimnis‘. Offenbar ist es mir damals nicht gelungen, den Riesenirrtum auszuräumen, der bei Ihnen entstanden ist. R. Safranski verwendet den business term im Zusammenhang …
... auf sich selbst. Er kann und will sie nicht missen, gerade w e i l sie eine ‚Sappho’ ist. Und weil er selbst empfänglich ist und Teil hat an diesem ‚Meer’. All das ist bereits ausgesprochen in den zahlreichen Meeres- und Wellenbildern. Das Verdammen des Lasters (‚Gomorra’) hat wahrscheinlich zwei Funktionen: das Wahren gesellschaftlicher Konventionen und Prätentionen einerseits und damit zweitens die Möglichkeit/das (uneingestandene) Begehren, unter diesem Deckmantel als Mann eine Frau zu ‚besitzen’, die sich lieben lässt und liebt, als liebte sie eine Frau.
... sie rings umfluten wie die Woge, die sich an den Felsen bricht“. Das wird ausgesprochen in einer Szene, in der von Argwohn, Schmerz und Leiden wiederholt die Rede ist. Zugleich aber inszeniert das erzählende Ich eine Art Verhör- und Vexierspiel mit dem Hebel einer angeblichen Liebe zu Andrée, Lüge für Lüge, um „von neuem das Heft in die Hand zu bekommen und Ansehen und Übergewicht wieder zurückzugewinnen“. Eine Machtäußerung - die sodann explizit bezogen wird auf „Wesen, die sich analysieren, ohne von sich selbst sehr überzeugt zu sein,“ – doch die gerade dem Ziel dienen soll, die Rolle des Taktgebers für „meine zärtlicher Liebe zu ihr“ zu behaupten. -
Albertine (weibliche Ableitung eines Männernamens?) sagt im Trotz, sie wolle sich ins Meer stürzen. Cottards Verdikt steckt dem Erzähler in den Knochen, und er assoziiert spontan die Sappho. Ich lese das so: Der Erzähler glaubt Cottards Schlussfolgerung (Lesbos-Liebe/Sappho), er spürt in sich die Anziehungskraft Albertines ...
... „Zauber“, in einer Stimmung „voll verfrühter Wärme“ des Morgens, da die Stimmen und Geräusche „in verschlungenen Flammenlinien den glühenden Strand ausmalten“ – „während das sanft heranflutende Meer, bei jeder Welle, die sich am Ufer hingleitend brach ...“ usw. Ich denke, man kann es gar nicht überlesen, dass hier ‚Seelenbilder’ geliefert werden sollen. -
Der Erzähler kämpft mit den Taktschlägen des Schmerzes (Großmutter) und seines Verlangens „nach Glück“. Er versucht sich vom Verlangen abzulenken ausgerechnet dadurch, dass er vom Fenster aus „das Meer jenes Tages“ betrachtet; er entdeckt das Unstete: „wechselten die Meere von einem Tag zum andern“; sogar das Bettzeug nimmt für ihn Wellenformen an. In der Konfrontation mit A. schließlich werden Flut und Ebbe zu Bildern für einen „Zweitaktrhythmus“ oder „Doppelrhythmus“ von ‚Liebhabern’, die sich unsicher sind und spüren, dass ihre „Gefühle“ die „geliebte Frau“ allenfalls „zuweilen mit kleinem Wellenschlag berühren, oder ...
Degas mit seinen Herzflimmerbildern aus dem Milieu der jungen Tänzerinnen verehre Poussin, der wie Racine fürs Theater klassisch-antike Kompositionen ‚rational’ neu erschuf. Der Erzähler selbst hatte die „Schar von Zimmermädchen und privaten Jungfern“ in den Hotelkorridoren Balbecs mit einem „Panathenäenzug“ verglichen - Proust lässt des Erzählers Assoziationen periodisch auf antike Skulpturen zulaufen, einen ‚festen Hafen’ finden. -
Ja, Meeres- und Wellenmetaphorik unterlegt die gesamte Szenenfolge mit Bildern von Ebbe und Flut, Rhythmen des sanften Zulaufens oder wilden Anbrandens oder des weiten, farbigen Himmels darüber oder eines offenen Horizonts, auf dem Schiffe fahren – was in optischer Täuschung so erscheinen könne, als vertauschten sich Wasser und Land. So wie in „magdlicher Frauenschönheit“ die Zimmermädchen „sich schön vor dem Meer ausnahmen“, imaginiert der Erzähler Albertine und ihre Freundinnen: „junge Mädchen, die sich von dem bewegten Meer abhoben“, empfunden als ...
Die Albertine-Szenen (Lesung dieser Woche): Irgendwann fällt das Schlüsselwort, angeblich absichtslos hingeworfen: „Sappho“.
Immer wieder hat sich der Erzähler vorgestellt als Liebhaber der Frauen, in Balbec ist er sich diesmal sicher, reichlich „Damenbekanntschaften“ zu machen, er zählt die Häupter seiner Lieben aus der „Schar“ der Mädchen schon ab usw. Zuweilen ist ihm unbehaglich, und er imaginiert die „unbekannten Frauen“ in den Hotels oder Kasinos als „Polypenknäuel“. Wenn er sich so beschreibt, ist er ganz „Gesellschaftsmensch“, wie charakterisiert in „Guermantes“. Selbstinszenierung dominiert auch sein Verhalten gegenüber den Damen Cambremer, vor ihnen und dem Anwalt kann er, in solchen Intermezzi voller Persiflage, seine Überlegenheit in Sachen Musik und Malerei ausspielen. Subtil und anspielungsreich aber auch hier die verhandelten Themen: Das Gespräch über Pelleas und Melisande spielt an auf Traum und Trauma, maskuline Gewalt oder Zartheit und v.a. auf ‚Frauenrätsel’. ...
Ein Forum wie dieses lebt von Kontroversen; ohne sie kämen wir in unseren Überlegungen kaum einen Schritt weiter. Dabei geht es mir nie ums ‚Rechtbehalten‘, und ich glaube, auch Ihnen nicht. Meine Einwände und Anmerkungen finde ich in Ihre Präzisierungen einbezogen und produktiv weitergeführt, ergänzt um die wesentliche Beobachtung, dass „Spontanreflexe“ und „reflektierte“ Reaktionen sich auch in Prousts „mäandernden Sprachgetümen“ widerspiegeln. Die ursprüngliche Kontroverse ist – so scheint es- in einer umfassenden und übergreifenden Synthese aufgehoben. Beide Lesarten (‚bewahrt sein‘ und ‚gegenstandslos werden‘) sind hier gleichermaßen möglich und gültig. Ich bin nicht kombattant genug gesinnt, um mich darüber nicht zu freuen – bis zur nächsten Kontroverse, versteht sich :-)
... dass im übergreifenden Kontext des Erzählten, in der Abfolge des permanenten ‚Verlangens nach Frauen’, in den (Guermantes-)Soirees der Gastgeberinnen (!), mit der Klassifizierung der Salons und der Frauen usw. die Filigranbeschreibung (s.o.) auch dazu dient, eine Kulisse von Maskulinität und Sensibilität zu entwerfen, die (zunächst?) weniger offenbart als verbirgt. Selbstbeobachtung, Selbstrechtfertigung, Selbstverbergung, Leiden?
Diskutieren wir bereits Aspekte des Proust’schen ‚Betriebsgeheimnisses’?
Auf der ‚Mikroebene’ die überraschenden Taktschläge, die unbewusst-spontanen Intermittenzen, Aus- und Einsetzer des ‚Herzens’, deren Wirken im Gleichzeitigkeits-Rhythmus von Auslösen und Widerfahren gespürt wird und als solche - wie Prousts Erzähler betont – erst „verstanden“ werden, wenn Denken hinzutritt, die unbewusst-oszillierende Binnenbewegung als Schmerz oder Lust auch 'bewusst' wird. Auf den jeweiligen Moment scheinbar fixiert, bilden sie gleichsam die Moleküle der Wahr-Nehmung. In Wirklichkeit schreitet die Zeit fort und diese ‚Moleküle’ tragen und treiben das wollende, verlangende, begehrende Ich. - Dies mein Angebot zur ‚Deutung’ heute. Und für morgen: Wird auch so erzählt über die ‚Liebe’ zu Albertine? –
Mehr zum ‚Betriebsgeheimnis’: Ich habe den wachsenden Verdacht, ...
zu 928:
das "nicht" vor "(zeitgleich)" ist selbstverständlich zu streichen - keine doppelte Verneinung!
... nicht (zeitlich) zu trennen ist, sowie die anschließende und in der Erinnerung miterlebte (nachträgliche) Reflexion. Missverständlich habe ich mich offenbar ausgedrückt hinsichtlich des „intermittierenden Dagegenhaltens“; damit meinte ich nicht einen bewussten , sondern einen Spontanprozess, der allerdings nicht zuletzt aus dem (elementaren) Bedürfnis, Recht zu behalten (‚Rechtfertigung’), im nachhinein rationalisiert werden dürfte. Es gehört zur literarischen ‚Verarbeitung der Erinnerung’, dass in der Erzählung die ‚Schicht’ des Unbewusst-Spontanen des jeweiligen Erlebens durch den Erzähler überwölbt wird durch alles, was nachträglich dazukommt. Er erzählt zurückblickend – und konstruiert seine Geschichte dementsprechend. Nochmal: von den Intermittenzen zur Recherche.
...überzeugend „Auslösen und Widerfahren“. Also kein zeitliches Nacheinander des komplexen Phänomens/Symptoms. Im Roman nun geht Proust, weil er das Gleichzeitige nur nacheinander erzählen/beschreiben kann und will, noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass er die Momente des Auslösens und des Widerfahrens (nacheinander und wechselseitig) in Beziehung setzt, er fügt noch ein drittes Moment hinzu (das man z.T. meinetwegen noch dem Widerfahren zuschlagen könnte*): Ich meine das Moment der ‚Verarbeitung’ der Erregung, des Schocks - ebenfalls resultierend aus der Selbstbeobachtung. Er unterscheidet dabei emotionale *Spontanreflexe auf die Situation (zeitgleich!) und reflektierte, intentionale Reaktionen, die sich entwickeln können. Die mäandernd ausgreifenden Satzgetüme sind ein sprechendes Beispiel dafür. Wenn ich im Bild des Taktgebens bleiben darf: Die Satzfolgen Prousts versuchen einzufangen, was gleichzeitig passiert: das wechselseitige mehrfache Taktgeben, das eben nicht ...
Liebe Frau Windeck, ich gebe mich noch nicht ‚geschlagen’. Die Wortwahl, mit der Sie meine Idee argumentativ für schwer haltbar erklären, leitet sogar Wasser auf meine Mühlen, denke ich. Im Französischen ist der Doppelmodus oder Schwebezustand von Aktiv/Passiv (der auch in der lat. Wurzel als doppelt existierte) im Begriff „intermittence“ zu einer ‚oszillierenden Gleichzeitigkeit’ geronnen; auch wohl im Partizip. Genau dies ist das Frappierende an der Wortwahl Prousts - nicht nur wegen der Fremdwort-Herleitung aus Medizin/Therapie (Fachterminus). Was ich zum Ausdruck bringen wollte, ist die - von der lat. Herleitung begründbare – R e s u l t a n t e einer ‚Binnenbewegung’, die wir uns unter der „intermittence“ (die ja die lat. Wortwurzel mitschleppt als frz. Vokabel) vorstellen sollten.
Nach meiner Auffassung macht Proust nun folgendes: Aus Selbstbeobachtung leitet er ab, dass die Erschütterung, die ‚Aussetzer des Herzens’, eine zusammengesetzte Sache sind. Sie nennen es ...
…bringen, wie wir gesehen haben. An anderen Stellen der Recherche dagegen gibt es die von Ihnen gewünschte Trennung sehr wohl, oft in Form des analysierenden, „taktgebenden“ Bewusstseins und der passiv erlebten bzw erlittenen Empfindung. Mitunter führt Proust dem Leser im Text (nicht anhand des Textes) geradezu vor, wie er dabei verfährt. Allerdings kommen die Worte „intermittences“ und „intermittent“ in diesen Passagen (auffallenderweise?) nicht vor.
…und in der grammatischen Form. Sofern das Konzept des Oszillierens zwischen Polen, zwischen Aus- und Wiedereinsetzen in Betracht kommt, ist die dazwischenliegende Zeitspanne zu kurz, um mit unseren Sinnen wahrgenommen zu werden. Dieser ‚Schwebezustand‘ ist nicht erfahrbar, wenn man ihn in einzelne Komponenten zerlegt. Eine Aufspaltung (z.B. in einen „intermittierenden Taktgeber“ und einen „intermittierend getroffenen“) ist demnach etwas, das Proust in diesem Zusammenhang vermeiden wollte.- Proust hatte kein elektrophysikalisches Modell im Kopf; er dachte bei „intermittences“ an Erscheinungen, die als Symptome bestimmter Krankheiten auftreten, an körperlich-seelische Anomalien und Ausnahmezustände, deren besonderes Merkmal eben ist, dass (bewusstes oder unbewusstes) ‚Auslösen‘ und ‚Widerfahren‘ ununterscheidbar sind. Solche Ausnahmezustände können „umstürzende“ Erfahrungen mit sich…
Bei Ihren altphilologischen Studien übersehen Sie, dass Proust ausschließlich das Substantiv pl und das Partizip verwendet. Über andere Formen verfügt das Französische nicht. Nicht alle aus dem lateinischen Wortstamm herzuleitenden Konnotationen haben eine französische Entsprechung. Das Partizip enthält gleichzeitig einen „Aktiv“- und einen „Passiv“-Aspekt, wenn man so will; sie existieren simultan und sind nicht voneinander zu trennen. Die Option eines „entweder/oder“ bzw eines zeitlichen Nacheinanders besteht nicht. Semantisch drücken beide (Substantiv und Partizip) einen Schwebezustand aus. Unter sprachlogischen Gesichtspunkten ist Ihre Auslegung schwer haltbar, fürchte ich. Folgendes wiegt aber in meinen Augen weitaus schwerer: wir dürfen davon ausgehen, dass Proust diesen nicht eben naheliegenden Begriff bewusst gewählt hat, wohl auch in Hinblick auf die Ununterscheidbarkeit von „Aktiv“ und „Passiv“ auf der semantischen Ebene…
Genau können wir Prousts Beweggründe zwar nicht zurückverfolgen, aber ich glaube, Ihre Überlegungen treffen es ziemlich genau: das Interesse, den eigenen Regungen und Empfindungen auf den Grund zu gehen, führte ihn wohl dazu, sie systematisch zu untersuchen; daraus entstand seine Theorie der unwillkürlichen Erinnerung, die ein schrittweises Ordnen und Re-Konstruieren, ein „Wiederfinden“ ermöglichte. Diese Prinzipien haben sicher auch bei der Komposition der Recherche eine Rolle gespielt.
Um Prousts ursprüngliche Erwägung, „Les intermittences du coeur“ als Titel für den gesamten Romanzyklus zu wählen, in der richtigen Perspektive zu sehen, müssen wir berücksichtigen, dass er vermutlich zu keinem Zeitpunkt eine klare Vorstellung von dem Umfang hatte, den sein Werk schließlich annehmen würde. In unserer Lesefassung bezieht sich der Titel auf den zweiten Aufenthalt in Balbec (bis zum Ende des 1.Kapitels) und war mit der 19. Folge beendet.
... „intermittence“ alles ‚bedeutet’. Dem Erzähler ist aufgetragen, sein Innen so gut wie möglich zu „verstehen“ und mitzuteilen. Und er arbeitet sich ab an dem Spannungsverhältnis zwischen dem Taktgeber, der ihn ‚will’kürlich intermittierend trifft (= unwillkürlich aus der Sicht des Ich) und der Anstrengung, als eigener, souveräner Taktgeber intermittierend dagegenzuhalten. –
Wenn es angebracht sein sollte, auch die ‚Liebe’ im Modus von Intermittenz zu verstehen, dann würden dort wohl ebenso die A/P-Oszillationen für unsere Betrachtung relevant werden – und (was ich schon angedeutet habe) der Erzähler zu beobachten sein als ‚ intermittierender Taktgeber’, gerade auch im Hinblick auf das Bedürfnis nach ‚Rechtfertigung’ in den seelischen Konfliktlagen. - Intermittenz: ein Begriff mit Paradox-Potential, weil ja das Wort herumspielt mit schwer begreifbaren Phänomenen wie: dass etwas aussetzt, offen und leer bleibt (oder offen gehalten wird/werden soll/muss).
Wie so oft, sind es die Altphilologen, denen wir ein genaueres Verständnis unseres Wortschatzes verdanken. Also nochmal „intermittence“ – schlicht Unregelmäßigkeit, zunächst.
In meinem Schulwörterbuch finde ich unter lat. „inter-mitto“ eine Reihe von ‚Übersetzungs’möglichkeiten, die den Konnotations- und damit auch Gefühls- und Erfahrungsraum des Wortes zum Ausdruck bringen [das alles im vorproust’schen steif-förmlichen Latein(!), unterschieden nach Aktiv/Passiv(-medial)]: dazwischen treten lassen (A), dazwischen liegen (P); dazwischen offen lassen (A), offen, leer dazwischenliegen (P); unterbrechen, einstellen unterlassen (A), zeitweilig aufhören, nachlassen, aussetzen (P); verstreichen lassen (A). –
Bei Proust schwebt/oszilliert/pendelt das Bedeutungsspektrum in der Großmuttererinnerungsszene ständig zwischen dem Aktiv- und Passiv/Medial-Modus; anders: Satz für Satz schreiten in der nachschaffenden Denk- und Erzählbewegung das ab, was das Wort/der Begriff ...
Lieber Herr Reimann, ich freue mich, dass auch Sie diesen Passagen so große Bedeutung zumessen. Ihre Beobachtung, dass der Erzähler hier den Verlustschmerz nicht nur spürt, sondern „versteht“ und durch ihn verwandelt wird, scheint mir ebenso wichtig wie Ihr Hinweis auf seine Erkenntnis, dass Gegenwart und Tod der geliebten Person nicht außerhalb, sondern innerhalb des Ich liegen. Es ist die Großmutter als „Widerschein seines eigenen Gedankens“, die ‚gesundet‘. (pensée – das Denken; der Gedanke)
Zweiter Hauptpunkt, hervorgerufen durch das aktuelle Beispiel: Schmerz/Intermittenz bei Großmutter und Erzähler:
Ich bin dankbar für das Beispiel: Die Trauer des Enkels schwächt sich ab, doch die Großmutter scheint sich zu entfernen ...
Ist das Paradox der Ich-Form geschuldet? Weil sie den Primat der Ich-Perspektive auch in der ‚Gefühlswelt’ vorgibt? Und damit sowohl deren Dominanz als auch die (Deutungs-)Spielräume, die im Hinblick auf alle anderen Protagonisten zugestanden werden? Egal, ob es sich um Gefühle und Motive handelt oder gar um die ‚Rechtfertigung’ des eigenen Handelns? Haben wir hier gar einen Reflex von Egozentrik auf Seiten des Erzählers/Autors?
Wunderbar anregende Erläuterungen, Frau Windeck. Sie führen mich zu zwei Hauptfragen, die ich in extremer Verkürzung (sozusagen taufrisch-ungeschützt) hier anreißen möchte:
(1) zum ‚Titelpaar’ Intermittences/Recherche: In welchem Verhältnis stehen die Teile/Seiten eigentlich zueinander?
Mir scheint, bei a) den Aus- und Einsetzern des Herzens geht es um die spontanen, unkontrollierten Energie-, Gefühls- und Wahrnehmungsstöße (leiblich-unbewusst hervorgerufen) - hier steht der Erzähler/Autor vor seinen Rätseln; es ist wohl die Seite, wo Prousts Selbstbeobachtung die Zufuhr liefert.
b) Die Recherche wiederum würde dann für das Moment des ‚bewussten Nachhineins’, des Schreibens, Konstruierens, Ordnens, Reflektierens – des Bauens und Schichtens (der Erinnerungen) zuständig sein. Proust hat sich wohl deshalb für den Titel „Recherche“ entschieden (?). Zumindest kann er eine Rolle einnehmen, die ihm ‚Macht’ über ein ‚Chaos’, die nun darstellbaren ‚Intermittenzen’ gibt ...
Haben wir an dieser Stelle eigentlich schon darauf hingewiesen, wie brisant und (im Licht jüngster Forschungsergebnisse der Neurobiologie) hochaktuell Prousts These der vom Bewusstsein unabhängigen „Vorab-Steuerung“ unserer Entscheidungen und Handlungen ist?
dem Begriff alle Beziehungen kennzeichnen, für die er das Wort „Liebe“ verwendet. Sie alle sind „intermittierend“ auf eine Weise, die der Erzähler trotz seiner Bemühungen, sie ‚rational‘ zu analysieren, nicht beeinflussen oder „verstehen“ kann, da sie ihre Ursache in Beweggründen haben, die tiefer liegen als die Regionen, zu denen das Bewusstsein hinabdringen kann (dargestellt und theoretisch reflektiert in „Im Schatten…“ und „Combray“). Als Titel für den gesamten Roman könnte man die „intermittences“ in Beziehung setzen zu den unbewussten, unvorhersagbaren Antriebskräften in uns, die in jedem Moment Art und Grad unserer Wahrnehmungsfähigkeit sowie unsere unwillkürlichen Assoziationen bestimmen, die Teil unseres ‚inneren Gefüges‘ sind. Ihre Wirkung folgt keinem für uns erkennbaren logischen oder chronologisch-linearen Prinzip, aber auf ihnen beruht unser inneres Wesen, meint Proust.
schwächer geworden ist. Anders als seine Mutter wird er sich der Toten nicht weiter anzuverwandeln suchen. Die Großmutter ist zu „einem Widerschein seines eigenen Denkens“ geworden. Auf der Handlungsebene darf man die „Herzsynkopen“, die die Großmutter im Hotel erleidet, als metaphorische Entsprechung der „intermittences“ lesen. Momente, in denen, oft ausgelöst von banalen Alltagshandlungen und Wahrnehmungen, der Herzschlag plötzlich zu stocken scheint und „vergessene“ Erlebnisse und Empfindungen ihn jäh überwältigen – vorläufig nehme ich an, dass sie es sind, die Proust als „intermittences du coeur“bezeichnet und die er für so viel wichtiger hält als Erfahrungen, die wir auf der ‚äußeren‘ linearen Zeitebene machen. Aber das ist nur eine Seite. Die Zuneigung, die er für Francoise empfindet, nennt der Erzähler (im selben Kapitel) „intermittente“ (dt. „…die manchmal versagte“). Mit gleichem Recht könnte er mit…
Soweit ich bisher sehe, sind die Überlegungen Prousts in „Les intermittences du coeur“ komplexer und weitreichender als die in „Combray“ dargelegte Theorie der Erinnerung und des Neu- und Wiedererschaffens. Hier werden Schlussfolgerungen nicht analytisch aus dem Erlebten abgeleitet, sondern durch das (Traum)-Geschehen selbst sichtbar gemacht; sie erschließen sich in dem, was (und wie) erzählt wird. Der Leser folgt der stufenweisen Wandlung der Großmutter in den Gedanken und Träumen des Erzählers; anfangs von allgegenwärtiger, übermächtiger Präsenz (er begegnet ihr als einem Wesen, das „er selbst ist“, und „mehr als er selbst“), verliert sie allmählich an ‚Eigenleben‘ und scheint nicht mehr ausschließlich auf den Erzähler bezogen. Während er versucht, ihren Schmerz empathisch nachzuerleben, scheint in paradoxer Umkehrung eher sie sich von ihm zu lösen als er von ihr. Am Ende der gestrigen Lesung stellte er fest, dass seine Trauer…
... das Realitätsprinzip (tot ist tot), andererseits das väterliche Verstandeswort gegen das „umstürzende“ Trauern; der Vater will dem Sohn den Zugang versperren zum wahren Innern, wehrt dessen übersensible Empfindsamkeit ab: das „Adernetz der unterirdischen Stadt“, einen „Lethefluss“ tief in ihm, dessen „sechsfache“ Mäanderwindungen ein tröstliches Vergessen unmöglich zu machen scheinen.
Ein Sturzbach der Tränen löst alles aus – wieder dürfen wir uns an die Chiffre des Springbrunnens erinnert fühlen. Dort hieß es u.a.: „Leider genügte ein Windstoß, um diese Säule schräg über den Boden hinfegen zu lassen; manchmal brach ein einzelner Strahl ungehorsam in einer anderen Richtung aus ...“ –
... sich - dank der (toten ihm gegenwärtigen) Großmutter in ihm - sich selbst wiedergegeben. Ins Bewusstsein getreten, wird diese Erkenntnis (Resultat einer nachträglichen Denkbewegung) doppelt schmerzlich, weil der E. den Verlust- und Existenzschmerz nicht nur spürt, sondern ihn versteht. Die Erkenntnis hat den Erinnernden v e r w a n d e l t , ihn an die Schwelle einer ungeahnten „Wahrheit“ geführt, dass nämlich die unwillk. Erinnerung nicht nur das Glück erweiterten Lebens schenkt, sondern an den Tod (Schmerz) kettet. So heißt es auch, dass „der Tod selbst, die jähe Offenbarung des Todes“ die Doppelspur in ihn eingraviert, „eingegraben“, (ins Grab gesenkt) habe. [Ich wette, das neue Muster des Schmerzes, dieser Erkenntnis’baum’ wird den Erzähler weiter begleiten und spätere Erfahrungen dabei noch mehr ‚Ringe’ ansetzen.]–
Dann folgen Schlaf und ein Traum, – in dem der Vater auftritt: Er versperrt dem Schmerzenssohn den Weg (zurück) zur Großmutter. Das ist einerseits ...
... handelte sich damals um das G l ü c k der Erinnerung. -
Hier nun eine umstürzende Erfahrung (aus seinem Körperinnern), die den Erzähler nötigt, „den Schmerz dieses Widerspruchs [„zwischen Nachleben und Nichts“ – unmittelbare Gegenwart und Tod der Großmutter] bewusst auf mich zu nehmen“, umstürzend deshalb, weil dieser Widerspruch nicht außerhalb des Ich liegt, sondern in ihm selbst.
Proust ist diesen Punkt radikal angegangen: In „Welt der Guermantes“ folgte auf die Schilderung des Sterbens der Großmutter sofort das Umschalten auf die Stermaria/Albertine-Szenen - kein Trauern des Erzählers. Ich halte das inzwischen auch für ein erzählerisches Kalkül. Umso stärker wirkt jetzt der Einschnitt in Balbec. Das Aufwühlende betrifft das erzählende und erzählte Ich. Trauer, Schuldgefühl, Reue, Schmerz – all das existiert jetzt in ihm, der zugleich ganz der Enkelsohn seiner tröstenden Großmutter ist.
Das eingangs Zitierte spitzt die Erfahrung der „Doppelspur“ zu: Das Ich hat ...
„Das Wesen, das mir zu Hilfe kam (...), war das gleiche, das mehrere Jahre zuvor (...), in einem Augenblick, da ich nichts mehr von mir besaß, eingetreten war und mich mir selbst wiedergegeben hatte, denn es war ich selbst und mehr als ich (...) und brachte mir dieses mein Ich zurück.“
Ich will an Ihre Gedanken anschließen, Frau Windeck. Meines Erachtens geht es in dieser Balbec-Szene im Kern nicht um die Frage des ‚Vorrangs’ der unwillkürlichen Erinnerung, sondern um etwas anderes: um einen „tiefgreifenden Umsturz“, eine Verwandlung - anders: um das Auffinden einer „geheimnisvollen Doppelspur“.
Proust erweitert und vertieft sein Verständnis des Effekts der unwillk. Erinnerung gegenüber der Madeleine-Episode. Jetzt ist es weit mehr als ein Hervortreten verschütteter, vergessener ‚Vergangenheit’ - mehr als eine Wiederauffüllung des Gedächtnisses, so dass die Tage von damals erzählt werden könnten. Was in „Combray“ ermöglicht wird, ist das Aufrufen eines ‚Ich von damals’. Es ...
Es ist eine zutreffende Beobachtung, dass Menschen, die eine geliebte Person durch den Tod verlieren (die Beziehung muss nicht so symbiotisch sein wie beim Erzähler), nach einer Zeit der Trauer den Verlust allmählich überwunden zu haben glauben, bis – nach Monaten oder Jahren- der Tod dieser Person sie wie aus dem Nichts überfällt als eine nicht „überlagerte“ Erinnerung, die als Erkenntnis erstmals ganz ins Bewusstsein dringt. Unter diesem Blickwinkel erscheint Prousts Behauptung vom Vorrang der unwillkürlichen Erinnerung beinahe plausibel.
… die nicht nur Teilaspekte betreffen und vielleicht von Belang sind. Unvermittelt erlebt der Erzähler die Anwesenheit der Großmutter, spürt ihre Gegenwart wie seine eigene (genauer: er spürt die eigene Gegenwart in ihr, die sie umfasst und enthält)) und wird- wie damals- sich selbst wiedergegeben. Gleichzeitig nimmt er das Wiederauftauchen verschiedener Stufen des Ichs seiner Kindheit wahr, die zeitversunken für ihn verloren waren. Er hat den Tod der Großmutter erlebt, hat um sie getrauert und sich an sie erinnert, doch vollzog sich dies auf der Ebene, die Proust zur verstandgeleiteten, willkürlichen Erinnerung rechnet, in der Wesentliches von Belanglosem überlagert wird. Erst jetzt, mit großem zeitlichen Abstand, bricht die ‚wahre‘ Erinnerung durch als leibhaftige Vergegenwärtigung nicht nur der Person der Verstorbenen, sondern der Lebensepoche, die der Erzähler hier mit ihr durchlebt hat; die Gegenwart erlischt. …
Im ersten Band versuchte der Erzähler, der außergewöhnlichen Empfindung, die der Geschmack der teegetränkten Madeleine in ihm auslöste, experimentell und systematisch auf den Grund zu gehen, bis die überdeutliche Erinnerung an nahezu alle Einzelheiten der alljährlich in Combray verbrachten Ferien jäh in ihm aufstieg. Die Schilderung dieser minutiösen Schilderungen faszinierte mich und andere Leser. Später, beim gedanklichen Nachvollziehen, erschienen mir einige der Schlussfolgerungen (v.a. der Vorrang der unwillkürlichen Erinnerung) fragwürdig. Ich verbuchte sie als Proustsche Grundaxiome, die ich kennen, aber nicht teilen muss, um die Recherche zu verstehen. Was dem Erzähler beim Ausziehen der Stiefel im Hotelzimmer in Balbec zustößt, hatte ich bisher in dem Sinn aufgefasst, wie es in „Combray“ beschrieben wird. Beim Lesen der Passagen, die zu den „intermittences du coeur“ gehören, sind mir erstmals Unterschiede aufgefallen,…
Frau Windeck hat uns vor ein paar Tagen schon auf die Großartigkeit der Proust-Lesung dieser Woche hingewiesen.
Ich würde mich freuen, wenn möglichst viele aus der Hörerschaft für dieses Forum einen Satz oder Satzteil auswählen würden, der ihnen besonders wichtig ist (so fragmenthaft die Auswahl auch jeweils erscheinen mag).
Mein Satz: „An jene Schmerzen, so grausam sie waren, klammerte ich mich mit aller Macht, denn ich spürte, dass sie aus der Erinnerung hervorgingen, die ich von meiner Großmutter hatte, und der Beweis waren, dass diese Erinnerung wahrhaft in mir gegenwärtig sei.“
... selber plötzlich hineingeworfen werden in die Trauer um seine Großmutter. Vielleicht auch, weil Swann ‚vorgearbeitet’ hat?
Auch ich finde es bedauerlich bis ärgerlich, dass seit geraumer Zeit so wenige am Forum aktiv beteiligt sind. Vielleicht würde ich ansonsten gelassener formuliert haben. Meine kritischen Anmerkungen sind offenbar über das Ziel hinausgeschossen, Frau Windeck, das tut mir leid.
Ihre abschließende Formel vom „scheinbar domestizierten Dandy“ wirkte tatsächlich irritierend auf mich.
Wenn Sie meine Gedanken zum Gewicht des Judentums Swanns teilen – für mich ein Aspekt der Rubrik Wesentliches - freut es mich. Mein Eindruck war, dass man mit dem „Dandy“ diese wesentliche Dimension des Romans verfehlen könnte. Wendungen wie Außenseitertum und jüdische Wurzeln umschreiben m.E. nicht hinreichend, was Swann am Ende seines Lebens umtreibt und was der Erzähler zu begreifen vermag. Der Erzähler erlebt binnen kurzer Zeit im Gegenüber mit dem Herzog und Swann bereits Extreme des Umgangs mit Tod und Trauer. Jetzt wird - so Frau Anselms Kolumne von heute – der Erzähler ...
Wenn wir hoffen und erwarten, dass andere Hörer unsere Kommentare überhaupt noch lesen, müssen wir uns, glaube ich, auf Wesentliches beschränken.
Mein Blick auf Swann ist weder einseitig, noch folgt er irgendeiner „traditionellen Deutung“. Meine Anmerkungen fassen rückblickend Aspekte zusammen, die in dieser Form im Forum noch nicht zur Sprache kamen. Auf Zusammenhänge Außenseitertum- jüdische Wurzeln haben Sie hingewiesen. Die Punkte, in denen ich Ihre Ansicht teile, brauche ich nicht bestätigend zu wiederholen. Zahlreiche weitere Facetten – Verhältnis zu den Verdurins und den Guermantes‘ (inklusive Baron de Charlus), Einstellung zu verschiedenen Lebensfragen, auffällige Parallelen zur’Liebespsychologie‘ des Erzählers etc wurden bereits besprochen, als wir die beiden ersten Bände hörten, und werden vorausgesetzt. Ihr Eindruck, ich würde Swann auf eine Fin-de-siècle-Figur reduzieren, ist unvollständig und trifft nicht zu.(Nebenbei: die Verkörperung eines Typus würde ich in einem Roman schwerlich als glaubwürdigen Charakter kennzeichnen.)
…in Vergegenwärtigungen, Träumen, Tagtraumvisionen zur Anschauung gebracht und entwickelt wird, war demnach für Proust überaus wichtig. Ich will möglichst nicht inhaltlich vorgreifen, bevor wir die wesentlichen Passagen gehört haben. Proust hat lange geschwankt, ob er seine aus Selbstbeobachtung gewonnenen Theorien zu verschiedenen Formen des Erinnerns und ihrer Rolle bei der Entstehung eines Kunstwerks in Form einer längeren Abhandlung oder in einem Roman darlegen sollte. An erster Stelle standen für ihn offenbar die Ergebnisse seiner Erfahrungen und Überlegungen. Das Erlebnis, von dem hier berichtet wird, ist zu unmittelbar, als dass er es wie in der Madeleine-Episode schrittweise zurückverfolgen könnte.
Eine Empfehlung für alle Hörer, die sich auch für die Theorien interessieren, die der Recherche zugrunde liegen: in der kommenden Woche fährt der Erzähler zum zweiten Mal nach Balbec. Allein im vom früheren Aufenthalt vertrauten Hotelzimmer, macht er eine grundstürzende Erfahrung, die an Intensität und Eindringlichkeit die berühmte Madeleine-Episode weit in den Schatten stellt. Der dt.Titel des Kapitels, „Anfälligkeiten des Herzens“, klingt vage; im frz. „Les intermittences du coeur“ ist etwas Präzises gemeint, das zeitweilige diskontinuierliche Aussetzen und Wiederkehren des Herzschlags.Der Begriff “intermittences“ wird im Allgemeinen auf Krankheitserscheinungen (z.B. Fieber) bezogen. Das ist deshalb von Bedeutung, weil „Les intermittences du coeur“ der ursprüngliche Titel ist,den Proust seinem Romanzyklus geben wollte; erst spät entschied er sich für „A la recherche du temps perdu“. Was in diesem (und folgenden) Kapiteln …
... erzählten, erinnerten Lebens. Swann steht jedenfalls, denke ich, für e i n e n von zwei ‚Wegen’, aber nicht ausschließend, antithetisch: und der Erzähler steht nicht wie Herkules oder Wenzel Strapinski am Scheideweg zwischen Gut oder Böse, Richtig oder Falsch.
Eine Frage zu Swann:
Könnte es sein, dass diese Figur Prousts - in traditioneller Deutung - als Verkörperung eines noblen „Dandy“ begriffen wird. Ich muss gestehen, ich halte das für eine problematische Fixierung auf die Typologie des ‚Fin de Siècle’.
In der Sekundärliteratur kenne ich mich nicht aus, folge also nur (offene Flanke) meinen frischen Lese- und Höreindrücken. Auf Swanns Judentum habe ich schon mehrfach hingewiesen. Ich glaube nicht, dass ich übertreibe. Proust scheint mir in der Zeichnung dieses wichtigen Protagonisten seiner „Recherche“ mehr im Sinn gehabt zu haben als den Dandy- und Connaisseur-Typ. Er erspart Swann übrigens, den Weltkrieg erleben zu müssen. –
Mitten im Roman-Zyklus angekommen, wirkt die Exposition in „Combray“ mit den beiden Seiten oder Richtungen der Spazierwege des Erzählers: nach der Seite zu Swann oder der Seite nach Guermantes wie ein thematischer Grundakkord (mehrtönig) oder wie eine vorweggenommene Vermessung der ‚Topologie’ des ...
... den intensiven, fixierenden Monokelblick Swanns als Blick der Liebe wie auch des Abschieds; die ‚Komik’ ist von Proust in das Satyrspiel zur Tragik verlegt: mit Charlus und den Knaben aus dem Reich Balzacs und der göttlich-kurzsichtigen Epheben.
Der Roman fixiert die Spannweite der Thematik und Motivik an fast beiläufigen Haltepunkten in archaischen Bildern: beim sterbenden Swann in einem assyrischen Tempelfries der Trauernden wie zuvor bei Saint-Loup in einem Reiterfries und bei Albertine im Fries der schreitenden Mädchen.
... fast liebevoll erwähnt: „der tausend Meilen zurückgelegt hat, um zu uns zu kommen“) über seinen Tod hinaus seine Zugehörigkeit zur frz. Nation behaupten, seinen Beitrag als Mobilgardist im Krieg 1870 für immer gewürdigt wissen will. Er kämpfte und kämpft für die Assimilation des Judentums. Das hat den Zug zur Tragik. Der Erzähler entdeckt in diesem immer wieder unterbrochenen Gespräch Swanns „Gefühl moralischer Solidarität mit den anderen Juden“, die er „sein ganzen Leben lang vergessen zu haben schien“, das Wiederfinden („Recherche“!) einer verschütteten, ‚vergessenen’ tieferen Wahrheit, das man sowohl dem Erzähler als auch Swann selbst zuschreiben kann. –
Noch eine Bemerkung zum Monokel: Das ‚Einglas’ als Motiv wird von Proust mehrfach eingesetzt, es kennzeichnet Saint-Loup als Herrenreiter und Bréauté-Consalvi als Snob. Bei Swann, schärfster Kontrast, verweist es auf ein Ideal, es meint den forschenden Blick auf die Wahrheit, auf Leben und Kunst. Ich empfinde ...
... der von mir kommentierten Szene ist enorm; sie gipfelte für mich (Lesung vorgestern, noch vor Swanns Eröffnung des Sinneswandels des Prinzen von G.) in der Wahrnehmung Swanns durch den Erzähler als Propheten – das geht über das Soziologische und Psychologische weit hinaus. Insofern mischt sich, so mein Eindruck, Melancholie nicht mit Komik, sondern der Kennerblick auf Mme de Surgis signalisiert den unversiegten Widerstands- und Lebenswillen gerade des als Juden gekennzeichneten Menschen. Dass Proust weiterhin Charlus im Spiel belässt, verweist auf einen anderen Kontext, in dem Swann gleichwohl seinen Platz hat. Swann bezeichnet Charlus als „wundervollen Freund“; verkennt er die sexuellen Neigungen des Barons oder will er den Erzähler schützen? –
Zu Swanns Vermächtnis kann ich hinzufügen (Lesung gestern), dass er in Absetzung von Bloch (den er politisch kritisiert, aber verständnisvoll, ...
... meine ich, dass meine Deutung weniger, pardon, schöngeistig-harmonisch ausfällt: Wir sollten das Jüdische und das Problem der fragilen Assimilation in Gesellschaft und Staat als thematisches (evtl. auch psychologisches) Konstituens des Romans ernst nehmen; ich denke, dass Swanns Außenseiterrolle im Faubourg ebenso wichtig ist wie sein Kunstsinn, Takt usw. Ja, er ist gerade auch im Faubourg Außenseiter und wird dort „missdeutet und verkannt“, wie Sie zu Recht formulieren. Das kulturelle Niveau in diesen Kreisen erweist sich, so der Roman bisher, als hohl, gemessen an Swanns Maßstäben und seiner Haltung. Darin stimmt der (kritische) Erzähler zweifellos überein. Dennoch lassen sich beide anziehen - Widerhaken! – von einem merkwürdigen Magnetismus der ‚Aristokratie’, die ihnen einen ‚ästhetischen Kosmos’ zu versprechen scheint bzw. darin Genuss verspricht (man könnte das vergleichen mit bildungsbürgerlichen Trugschlössern heute).
Prousts Dezenz und Radikalität in ...
Ein Plädoyer für Swann oder gar seine ‚Ehrenrettung’ wäre gar nicht nötig – habe ich mich so missverständlich ausgedrückt, Frau Windeck ? Seine Bedeutung für den Erzähler (s. Mentor, éducation) und seine singuläre Gestalt im Kosmos der Proust’schen Figuren stehen außer Frage. Als Charakter ist Swann tatsächlich glaubwürdig, ich halte diese (Er-)Findung für ein Juwel. Ihr Abriss - wie sehr ich auch zustimme - scheint mir aber als Interpretation über einige Widerhaken hinwegzugleiten. Wobei meine Kurzbemerkung („warum auch immer“) lediglich besagen wollte, dass nicht explizit wird, warum Swann den jungen Erzähler zum Erwählten seines Vermächtnisses macht; da gibt es die ‚Leerstelle’, die Ausblendung des Vaters des Erzählers an solchen Knotenpunkten des Romans (ein Widerhaken, s.u.). Aber richtig: Es handelt sich um einen ‚letzten Willen’, ohne Pathos und in nobler Weichheit ausgesprochen. D’accord.
Zu den Widerhaken, und damit ...
Die Art, in der sich weite Kreise von ihm im Zuge der Dreyfus-Affäre abwandten, ist nur das letzte Glied einer Kette äußerer Demütigungen, die er seit seiner Heirat größtenteils bewusst auf sich genommen hat. Er habe das Leben geliebt und die Kunst, sagt er und vermeidet peinlich jedes Pathos. Die Szene, in der er wie beiläufig und ohne im Sprechen innezuhalten, lange begehrliche Kennerblicke auf Mme de Surgis‘ Ausschnitt wirft und sich dabei diskret seines Monokels bedient, vergisst man nicht so leicht. Sie prägt sich ein, weil Melancholie durch Komik gebrochen und jeder Anflug von Sentimentalität vermieden wird. Das entspricht ganz dem Charakter dieses gealterten, scheinbar domestizierten Dandys, wie Proust ihn schildert. Swann gehört für mich zu den glaubwürdigsten Figuren der Recherche.
…das möchte Swann aufgenommen wissen unter die Dinge, derer man sich im Zusammenhang mit ihm erinnern soll. Er weiß, dass niemand von den Menschen seiner Umgebung ihn wirklich gekannt hat, und das besagt mehr als die altersweise Einsicht, kein Mensch könne einen anderen je kennen: Swann ist uns seit „Combray“ bekannt als eine Persönlichkeit, deren Bildung, Witz, Kunstsinn, erlesener Geschmack, geistige Überlegenheit und Taktgefühl den Faubourg St.Germain als das einzige ihm angemessene Milieu erscheinen lassen, dem er aber von seinem sozialen Status her nicht zugehört. In allen anderen Milieus, in denen er sich bewegt, erscheint er in ungewöhnlich hohem Grad als Außenseiter. Keine Romanfigur wird von den verschiedensten Personen so gründlich missdeutet und verkannt, angefangen bei den Tanten in Combray, die es fast für vulgär halten, dass der „Figaro“ eine Fotografie des bekannten Kunstsammlers abdruckt.
Vieles von dem, was Ihnen ungereimt vorkommt, ist für Leser der ersten Stunde weniger überraschend. Der geistreiche, weltgewandte Swann war in Combray gern gesehener Gast der Eltern des Erzählers, von dem er seine ersten ‚Initiationen‘ in die Welt der Kunst erhielt. Nach seiner Heirat empfingen ihn die Eltern nicht mehr, aber der Erzähler war oft zu Gast im Hause Swann, und es gab Gespräche mit dem Hausherrn, deren Wert der Erzähler damals freilich weder begreifen noch würdigen konnte. Dass Swann gerade ihm das Gespräch mit dem Prinzen verbatim mitteilt, lässt an ein Vermächtnis denken, diskret natürlich und ohne allen Pomp. Noch vor seinem Tod die eigene ‚Rechtfertigung‘ aus dem Munde des Prinzen zu erfahren, mit dem er jahrzehntelang befreundet gewesen war, dürfte nicht nur eine kleinliche Genugtuung für ihn bedeuten; dass dieser Freund aus dem Hochadel am Ende seinen Irrtum ihm gegenüber eingestand und die Versöhnung wünschte –
... mit dem Blick in den Ausschnitt der Mme de Surgis zugleich das dem Baron entgegengesetzte Signal sexuellen Begehrens vermittelnd. Swann weiß auch hinter die Adelsfassaden zu blicken (Herkunft Surgis-le-Duc). Proust bedient schließlich, auf dieser kurzen Erzählstrecke, ein paar Stellschrauben zur Neujustierung des Verhältnisses der Protagonisten zur Dreyfus-Frage. Wir dürfen oder sollen vermuten, dass der Erzähler ‚frisch gestrichen’ seinem Rendevouz mit Albertine entgegeneilt ...
... Widerhall bildend zu des Erzählers früherer Aussage über das „vernünftigere“ Sammeln von Frauen (dort* auch von Eifersucht redend); der Erzähler bedauerte versäumt zu haben, „mir eine Frauensammlung zuzulegen, so wie man alte Lorgnetten zusammenträgt, von denen eine Vitrine nie zuviel enthält“ (*Kontext Warten auf Fr. v. Stermaria, Albertine in Erinnerung u. Zukunft). –
Dank der Engführung der Motive stoßen aufeinander die begehrlichen Taktiken des Invertierten (Charlus) wie die der Salon-Damen, Zähigkeit und Lebenswille des vor dem Tode stehenden Swann, der explizit in den jüdischen Leidens-Kontext („Volk der Verfolgung“) gestellt ist, so dass - anders als in den Szenen mit Bloch - das sonst mitklingende antisemitische Ressentiment zurückgehalten wird zugunsten einer historisch-biblischen Tiefenschärfe („Prophet“); Swann also für den Erzähler auch ‚Weissager’ und ‚Warner’, ihm ...
... der alte Erzähler (als Schriftsteller) zurückschauen wird, als ob der Sterbenskranke sein Lebensfazit weitergeben, vererben wollte. Ungewollt überträgt er die schwierige Lebenssache Liebe/Eifersucht auf den jungen Mann.
Die kurze Passage ist sicherlich unter mehreren Gesichtspunkten bemerkenswert, u.a.: Eine der zentralen Aussagen in der Wir-Form ist hier ausnahmsweise Swann in den Mund gelegt (sonst verallgemeinert der Erzähler selbst): dass „die Erinnerung an diese Gefühle einzig in uns selbst besteht“. Sodann der Vergleich des eigenen Herzens mit einer „Vitrine“, sie enthalte „alle die Arten von Liebe, welche die anderen nicht kennengelernt haben“. Ein Credo äußerster wahrhaftiger Subjektivität, zum andern, unwissentlich, einen ...
Nach so vielen Stunden Proust hat das Verstehens-Training hoffentlich Früchte getragen. So könnte man die Szene mit Charlus und Swann mutig etwa so angehen:
Der Ich-Erzähler kommt auf der Soiree den beiden männlichen ‚Portalfiguren’ seiner ‚Éducation se.’ näher, dem Baron auf Seh- und Hörweite, dem (Mentor und Juden) Swann im vertraulichen Dialog. Charlus steht im Saft, Swann in körperlichem Verfall.
Die Komposition ist ein weiterer Musterfall Proust’scher Erzählkunst. Es wird deutlich, dass diese Salon-Szene weit mehr anbietet als das Exempel einer soziologisch-ethnologischen Beobachtung des ‚Faubourg’. Der Erzähler ist eben nicht nur nüchtern-analytisch engagiert, er ist vor allem ein ‚empfänglicher’ Charakter, seine Reflexionen weisen bildhaft über das Beobachtete hinaus. Hier nun sticht hervor das Gespräch mit Swann. Die Romankonstruktion will, dass Swann sich dem jungen Erzähler anvertraut (warum auch immer). Swann schaut (im Zwiegespräch) zurück, so wie ...
Mhm ... der Koller, kann ich nur zu gut verstehen.
Ich habe wohl das Glück, erst viel später ins Forum eingestiegen zu sein. Gestern habe ich ein paar Seiten über die Lesung hinaus im Text gelesen und bin auf das Gespräch mit Swann über die Eifersucht gestoßen. Was soll ich sagen? Zurückblättern in Teil I der "Recherche" (Swanns Liebe) will ich jetzt nicht, und dass dieser Dialog anspielt auf die Eifersucht des Erzählers, von der alle so munkeln, hilft mir nicht weiter. Dabei wäre z.B. hier ein Punkt, wo eine kommentierte 'Synopse' angebracht wäre. Sankt Marcel treibt seine Hörerschaft/Leserschaft in eine veritable Abnutzung ...
Meine euphorische Reaktion auf Ihren Springbrunnen-Kommentar hat – in letzter Linie – auch damit zu tun, dass ich seit einiger Zeit bei mir Symptome von ‚Proust-Koller‘ diagnostiziere (kaum ein Wunder nach acht Monaten intensiver Beschäftigung). Ihr Beitrag hat mich sozusagen re-enthusiasmiert. Ich würde mir wünschen, dass es anderen Hörern ebenso geht...
zu 880:
Ich gebe zu: dröger Text - aber wie soll man umschreiben, WIE erzählt wird. Das scheint mir immer wieder wichtig, gerade dann, wenn der Romantext uns hineinzieht in diese ausgedehnten Salon-Tableaus. (einlullende Wirkung droht)
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass Prousts erzählerische 'Werkzeuge' nicht unterschätzt werden dürfen, dass die aus seinem Ansatz resultierenden Formen des Erzählens aber viel zu wenig 'mitgelesen' werden.
(Indiz: rbb-Intros für die Lesung)
Warum findet in letzter Zeit so wenig Austausch in diesem Forum statt?
(Um Herrn Stellmann zu kopieren: seufz ...)
Eine aktuelle Beobachtung zu Prousts Erzählstrategie:
Als Grundierung das fließende Salon-Parlando der Eitelkeiten: Wir können uns zurücklehnen, dem Tratsch folgen, uns geruhsam ausmalen, in welchen Bildern wir die Personen wohl sehen. (Warum nicht eine Maskerade wie von James Ensor gemalt?)
Eingezogen in dieses Masken-Parlando sind (Leit-)Motiv-Fäden, einzelne Stiche werden gesetzt. Neben das Sodom-Motiv schiebt sich der uns schon geläufige Antisemitismus der Epoche als Konversationsthema, und Swann wird zum Objekt der Betrachtungen. Insofern denke ich nicht, dass die Szene primär auf Satire zielt. -
Der Erzähler begibt sich wieder an die Seite der azurblauäugigen Herzogin von Guermantes, hält zugleich Ausschau nach Charlus und Swann. -
Proust konstruiert ‚geometrisch’ einen Figuren-Reigen – wechselnde Konstellationen (unverzichtbar ‚Dreiecke’), die in einem Intervall-Rhythmus auf kleine Eklats oder längere ‚Haltepunkte’: Dialoge oder Monologe/Reflexionen zulaufen.
Gerade habe ich Ihren Kommentar zur heutigen Folge gelesen. Noch habe ich ihn nicht am Text nachvollzogen, aber so viel kann ich jetzt schon sagen: Ihre Deutung des Springbrunnen-Motivs gehört in meinen Augen zum Besten und Überzeugendsten, was in diesem Forum bisher überhaupt zu lesen war. Für mich ein echter Augenöffner: in letzter Zeit war ich nachlässig beim Lesen (auch aus Zeitmangel). Die Vielschichtigkeit dieses „erzählerischen Geniestreichs“ war mir entgangen. Und zum Schluss Ihr Hinweis darauf, wie das Bild ‚ausspricht‘, was (noch)nicht direkt gesagt werden soll – dazu fällt mir nur eins ein: Chapeau! (obwohl Frauen heute eher selten Zylinderhüte tragen; es wäre zu mühsam, das zu gendern :-) )
Lieber Herr Reimann, wo kämen wir hin, wenn wir uns für jeden Tippfehler entschuldigen müssten. Meine eigenen Bemühungen, mit Sprache achtsam umzugehen, erscheinen mir manchmal – zumal in einem online-Forum – wie eine pedantisch-schrullige persönliche Marotte, die ich nie zum Standard erheben würde. Auch in der Anrede hätte ich einen Dreher nicht krumm genommen. Eben darum habe ich mich über Ihre Aufmerksamkeit echt gefreut.
..angewendet auf den Springbrunnen im Palais-Garten: Der Erzähler ‚begegnet’ einem ‚Bild(nis)’, das (ihm) seine innere Verfasstheit spiegelt, die Spannung von Distanz und Nähe, von geordneter Form und ungezügelter Wahrheit (auch der Triebe – seiner wie der der Gesellschaft). Das Bild spricht aus, was (noch) nicht direkt gesagt werden soll. Es enthält den Reflex auf die ‚Invertierten-Szene’ und deutet ihr Potential an, auch in Bezug auf den Erzähler. - Das schwierige Unterfangen, endlich vorgestellt zu werden bei den Gastgebern, das vergebliche Anlaufen des Erzählers, die Choreographie der Personen, all dies erinnert mich – in Ableitung des Springbrunnen-Motivs – an Szenen aus einem Traumtyp, den man kennt, wo das Ich vergeblich sein Ziel zu erreichen sucht und immer wieder abgedrängt und umgelenkt wird durch bizarre oder absurde Verhältnisse. Dann erreicht der Erzähler den ‚Brunnen’. Am Ende ein souveränes Abschwenken in die anspielungsreiche Farce mit der durchnässten Mme d’Arpajon
... Reise- und Liebesverlangen; er vergleicht es mit den verschiedenen Momenten eines unbändigen „Aufsprudelns aller meiner Lebenskräfte“, die „ich heute [Vorgriff!] willkürlich voneinander trenne, als legte ich an verschieden hohen Stellen einen Schnitt durch einen in allen Farben spielenden und scheinbar unbeweglichen Wasserstrahl“.
Das „Aufsprudeln“ ist eine Metapher für die unwillkürliche Wirkung der (auch sexuellen) Lebenskraft, welche das Bewusstsein zutiefst körperlich ergreift/durchflutet (im Kontext: erträumt, geheftet an eine imaginierte „Frau, die ich liebte“ und die dem jungen Mann „Zugang zu einer unbekannten Welt“ eröffnen sollte. Dann der Cut ins Heute: hin zum Bewusstsein des Erinnernden, Reflektierenden, der die fluide Kraft (Wasserstrahl) nun nachträglich ‚analysiert’: das vielgestaltig Farbige (Begehren) in Schnitte oder Schichten zerlegt, fixiert, fragmentiert (objektiviert?) - und im Bewusstsein der Distanz zu einem ‚Springbrunnen’ baut).
Diese Hypothese ...
... klassizistische Springbrunnen, die Wasser-‚Architektur’ kann man einmal lesen als Bild für den ‚Bau’ der „Recherche“, je nachdem man ihn ‚von fern’ als Gesamtkonstruktion und ‚Kunst’ wahrnimmt oder näherkommend oder ‚nahe’ ihn in seiner Feingliederung der mit-, in- und gegeneinander wirkenden Elemente des ‚Wassers’, der ‚fluiden Fragmente’ (Paradox) aus Beobachtung, Erinnerung oder Reflexion sich vor Augen stellt.
Anders gewendet: Aus der Distanz betrachtet erscheint der ‚Brunnen’ klassizistisch in schöner Formstrenge, wie unbeweglich; aber von nah wird die Dynamik der Kräfte erkennbar, neben Ordnung tritt Anarchie, neben die kraftvolle Energie der Fontäne eine anarchische Willkür der Tropfen; Bewegung gg. Schein der Immobilität. Welches Signal wohl? Vielleicht nicht nur ein Bild für den Prozess der Romangestaltung, sondern auch eine ‚psychologische’ Chiffre: Das Motiv könnte ein Echo sein auf I/Combray, wo es um die Lektüre-Erlebnisse des jungen Erzählers geht, sein imaginiertes
Der Springbrunnen! - gleich, zuvor noch dies: Wie konstruiert Proust? Sein Ich-Erzähler verschränkt unterschiedliche Zeitschichten der Erinnerung und des Wissens im Erzählgang, entscheidet, was wir wissen dürfen: (Noch) nichts über die mysteriöse Einladung, viel über die Vaugouberts (Anklänge an den allwissenden E.). Wir dürfen weiterhin rätseln über seine Sonderstellung als Gast im Kreis der Guermantes-Welt – wer legt Wert auf sein Dabeisein? Andererseits die bizarre Suche des sich unsicheren Gastes nach einer Möglichkeit, sich bei seinen Gastgebern vorzustellen. In dieser Reprise der Soiree bei Oriane/Basin beobachtet der Erzähler wieder das Schauspiel der Gäste im Palais der Prinzessin von G., v.a. Charlus (den er am Nachmittag mit Jupien belauscht hatte). Er wittert nunmehr Geheimnisse des ‚Invertiertseins’. –
Plötzlich ein erzählerischer Geniestreich Prousts: der Springbrunnen von Hubert Robert! Die Szene und ihre ‚Funktion’ erscheinen mit einem Schlag in neuem Licht. Der ...
zu 872:
... pardon fürs "Faru" !
"Es kommt wohl darauf an, ob man Proust oder Freud in den Mittelpunkt stellt, und ob man von einer Theorie oder einem Gesamtwerk ausgeht." Ja, diesem Fazit und Ihrem Kommentar von gestern stimme ich ganz und gar zu, Faru Windeck.
Auch die Sohn-Mutter-Vater-Konstellation zu Beginn der "Recherche" (Combray) scheint mir nicht primär durch Freud angeregt oder motiviert zu sein.
Seit Beginn der Lesung habe ich auf „Anleihen“ bei Freud in den Passagen über das Träumen, die verschiedenen Schichten des Unbewussten, willkürliche und unwillkürliche Erinnerung besonders geachtet. Einige Anklänge habe ich gefunden, aber noch mehr Abweichungen. Mein Eindruck ist, dass Proust seine Theorie (auf der die gesamte Recherche beruht) vor allem aus akribischer Selbstbeobachtung entwickelt. Will man durchaus fremde Einflüsse aufspüren, liegen einige Denker vielleicht näher als Freud. Vergleichende Studien bieten sich natürlich an; zweifellos gibt es zum Themenkreis ‚Das Unbewusste und die Erinnerung bei Freud und Proust‘ ganze Bibliotheken und Aufsätze, die bahnbrechend neue Erkenntnisse für ihr jeweiliges Fachgebiet enthalten. Es kommt wohl darauf an, ob man Proust oder Freud in den Mittelpunkt stellt, und ob man von einer Theorie oder einem Gesamtwerk ausgeht.
Noch eine Anmerkung, die mit der psychologischen Forschung der Zeit(nicht unbedingt mit Freud) in Verbindung steht: Prousts obsessives Interesse an „invertierten“ Verhaltensweisen ist nicht nur auf dem Hintergrund seiner Biographie zu sehen; solche Themen erregten nun nicht mehr allein deshalb Interesse, weil sie der Reiz des Verbotenen und Abgründigen umgab, sondern weil man begonnen hatte, sie unter medizinisch-psychologischen, d.h. wissenschaftlichen Aspekten zu betrachten – auch wenn die Ergebnisse aus heutiger Sicht nicht immer zu einer vorurteilsfreien Haltung beitrugen.
…und mörderische Eifersucht wurden nicht nur unter rein wissenschaftlichen Aspekten betrachtet; sie waren auch in Kunst und Literatur allgegenwärtig. Wir vergessen leicht, dass die meisten am Kultur-und Geistesleben der Epoche Beteiligten (auch „bloße“ professionelle Journalisten)in einem Maße belesen waren, das wir uns heute kaum noch vorstellen können. Selbstverständlich fließt Gelesenes und Gehörtes in die eigenen Überlegungen ein,und im Nachhinein lässt sich eine einzelne „Einflussquelle“ nicht immer zweifelsfrei isolieren. In unserem Zusammenhang ist Folgendes vielleicht von Belang: Proust veröffentlichte 1907 im „Figaro“ einen Artikel mit dem Titel „Sohnesgefühle eines Muttermörders“; in seiner Erzählung „Bekenntnis eines jungen Mädchens“ setzt er die sexuellen Begierden der Protagonistin dem Blick der entsetzten Mutter aus, die daraufhin der Schlag rührt.
Schon bei der „klassischen“ Gutenachtkuss-Szene am Anfang von Combray haben sicher viele Leser an Freud gedacht, zumal der ödipale Charakter der Szene unter dem Schleier der Genoveva-Legende überdeutlich ausgeführt wird: der kindliche Held träumt davon, den Vater in Gestalt des Bösewichts, der Genoveva in seine Gewalt gebracht hat, zu erschlagen und mit der Geretteten fortan glücklich zu leben. Die Vollständigkeit der Motive lässt kaum einen anderen Schluss zu als den, dass Proust Freuds Theorie gekannt haben dürfte. Das heißt nicht zwangsläufig, dass er Freuds Schriften systematisch studiert hätte. Die (oft sehr lebhafte) Auseinandersetzung über neue Ideen in Kunst und Kultur, Wissenschaft und Literatur wurde vor allem in einer Vielzahl von Zeitschriften, Zeitungen und punktuell erscheinenden Publikationen geführt, die Proust so ziemlich alle kannte und in denen er selbst publizierte. Themen wie problematische Mutterbindung …
Heute feiern wir mit der 165. von insgesamt 329 Folgen Bergfest! Wir freuen uns sehr, dass viele unserer Hörerinnen und Hörer dabeigeblieben sind. Und möchten uns nochmal bedanken für die großartigen Gedanken und Erkenntnisse, die Sie hier auf dieser Seite austauschen. Trotz widriger Technik. Danke schön.
... scheinbar nicht erregt (‚Verschanzung’?), dann aber vom ‚alten’ Erzähler ‚abgelöst’ wird, der ansetzt zu einem (so Doris Anselm) „mehrseitigen Essay über die Tragik, in einer Gesellschaft homosexuell zu sein, die das zum Verbrechen erklärt hat“. Äußerst subtile, tiefgreifende und vielschichtige Beobachtungen - man fragt sich, warum (schon) hier. Wie ein Hinweis- oder Mahnschild zum Verstehen der Typen/Facetten des ‚Invertiertseins’. Die erwartbare Erregung scheinbar im Kleid der Distanz, erzählerisch ersetzt, verdeckt durch ein Begehren nach geradezu klinischer (Er-)Klärung der ‚verkehrt-natürlichen’ Verhältnisse. [erkärte Erinnerung , jedenfalls ‚sprechen’ die Botaniker-Passagen ‚durch die Blume’ von der (zeitlosen) Omnipräsenz des Akts.] Offenbar lastet Druck auf dem Autor. Zu bedenken auch die mehrfache Parallelisierung der Problemlagen von Juden und Invertierten. – Die Guermantes-Welt für den Erzähler nun primär die Schleuse zu ‚Sodom’ ?
Komplizierter Übergang von Teil III zu Teil IV der „Recherche“: Der Erzähler an drei Guermantes-Orten (im Palais des Herzogs, bei Charlus, eingeladen ins Palais des Prinzen G., wieder im Palais G.). Die Hauptspannung ist gerichtet auf den Akt dazwischen (Jupien - Charlus). Die Gespräche beim Herzog, ans Ende von III vorgezogen, aber zeitlich später, echolos-neutral zum homosexuellen ‚Skandalon’ berichtet, dem der Erzähler beigewohnt hatte. Anspielungen liegen in III weiter zurück (Oriane über Mémé; unbefruchtete Pflanzen) und werden erst in IV aufgegriffen. Der Erzähler als Beobachter und Ohrenzeuge, dann aber als rückblickender, reflektierender Erzähler, für den von Anfang an der ‚begriffliche’ Bezugsrahmen „Sodom“ und „Gomorra“ gesetzt ist. Merkwürdige Schachtelung; die Erzählkonstruktion wieder einmal so, dass der ‚junge’ Ohrenzeuge fast nicht der Reflektierende ist (lediglich Erinnerung an die Tochter Vinteuils), innerlich wie unbeteiligt wirkt (trotz Neugier), sexuell ...
Es wäre schön, Herr Däßler, wenn Sie mir/uns Nicht-Neurologen evtl. an einem Beispiel aus dem Roman zeigen könnten, wie Proust damalige Forschungserkenntnisse oder Hypothesen erzählerisch verarbeitet. Dass Gedächtnis und Wahrnehmung nicht identisch sind [und im Gehirn dafür unterschiedliche 'Schaltungen' (auf Reize hin) stattfinden (können)], scheint mir plausibel und dennoch zu allgemein gehalten. Und: Welche spezifischen Fragen rufen Ihr Interesse an der "Recherche" hervor? Neigen Sie dazu, den Roman als den Versuch zur Selbsterforschung/-therapie zu deuten? -
Ich selbst lese/höre bisher abwartend, sammelnd; bin oft überrascht, auch ungehalten zuweilen; achte auf die Form(en) des Erzählens und in letzter Zeit v.a darauf, wie Proust 'baut: schichtet, schürft/gräbt, spiegelt, wendet usw. (alles Metaphern, was sonst). Faszinierend sind einerseits seine Sprachkraft und der Mut zur Introspektion, andererseits sein 'Verarbeiten' von Welt-Facetten im o.g. Modus.
Marcel Proust and Paul Sollier:
the involuntary memory connection n J. Bogousslavskya, O. Walusinski
M.P. war bei dem Neurologen/Psychiater Paul Sollier (ein “Gegner” von S.Freud) in mehrwöchiger stationärer Behandlung.
Hier finden Sie im Zusammenhang mit der stationären Behandlung von M.P. bei Dr. Paul Sollier (Neurologe/Psychiater)und Kritiker von S.Freud einen Zusammenhang der Gedankenwelten im Roman und den damaligen Ideen zu Gedächtnis/Erinnerung/Affekt
https://www.researchgate.net/profile/Olivier-Walusinski/publication/283365632_Marcel_Proust_and_Paul_Sollier_The_involuntary_memory_connection
Vielleicht wird man hier fündig:
Malcom Bowie “Freud, Proust and Lacan: Theory as Fiction“ Hat jemand das 3. Kapitel gelesen ?
Ein kurzer Nachtrag, Herr Däßler:
ich habe selber eine wenig recherchiert und bin dabei nur auf Vermutungen von 'Experten' gestoßen, die sich bemühen, einen Zusammenhang zwischen den Gedanken/Schriften beider Autoren herzustellen.
Ich schließe daraus: Gäbe es das von Ihnen 'erwünschte' Zitat, würde es von solchen Interpreten ganz bestimmt wie eine Trophäe vorangetragen werden und schon längst in allen einschlägigen Büchern verwendet worden sein. -
Nun müssen wir wohl oder übel selber die Werke beider Größen auf unsere Fragen hin abklopfen.
(Aber wer weiß, vielleicht findet sich was ...)
Gute Frage - bin aber leider überfragt (kenne mich nicht aus in der Sekundärliteratur u.ä. Quellen)
Guten Tag, gibt es in den Schriften von Sigmund Freud Hinweise auf die Lektüre von Marcel Proust - oder umgekehrt ?
... Des Erzählers Faible für die Gemälde (v.a Elstir) ist die erzählerische Brücke, da ja in einem solchen ‚Bild’ alles ‚zeitgleich’ existiert. Aber gemacht und ‚gebaut’. Und vor allem: Wer das Bild betrachtet, geht durch das Bild mit seinen Augen und Gedanken hindurch, je individuell, und braucht dazu vergehende Zeit. So wie beim Lesen eines Textes. Man könnte Prousts Theorie des momenthaften Aufblitzens des Kunstwerks mit der Mathematik des Grenzwerts vergleichen oder – besser wohl – als Hoffnung auf den kreativen Urknall aus dem Leiblichen auffassen. Sein Roman aber stellt sich den Differenzen der Wirklichkeit und ist in hellem, scharfem Bewusstsein gebaut, geschichtet usw. aus ‚Räumen’ in der Zeit. –
... Aber die Sache mit der ERINNERUNG wird komplizierter, wenn’s ans ‚Bauen’ geht. Sie funktioniert nur über das Bewusstsein, erstens über die ‚Bilder’ und hauptsächlich visuell – und zweitens durch bewusstes Schichten, Übereinanderlegen, Spiegeln, Kontrastieren etc. der Zeiten in ihrer je räumlichen Dimension. Die Sprache, die Sätze transportieren dabei im Nacheinander der Worte immer das Zusammenspiel von Differenzen. Das Kunstwerk Roman realisiert, was die Utopie meint, im Geflecht von Vermittlungen, nie die illusionäre ‚Unmittelbarkeit’.
Theorie und Roman stehen in widersprüchlicher Spannung. Die Theorie behauptet ‚Aufhebung der Zeit’ als Existenzbedingung für das Kunstwerk, das Romanprojekt reibt sich an den Zeitdifferenzen, sucht und baut (für ein ‚Jetzt’) Zeit/Zeiten zusammen, die für ‚verloren’ - also auch ‚vergangen’ erklärt werden.
...
... sogar eine Gleichzeitigkeit aller Zeitschichten existieren würde. Das wäre die Utopie einer absoluten ‚Schwerelosigkeit’, ähnlich der in Kleists ‚Marionettentheater’ im vollständigen Durchgang durchs Bewusstsein erlangten Unmittelbarkeit von Gefühl, Bewusstsein und (körperlichem) Sein. Utopisch und illusionär: Aufhebung auch aller Vergänglichkeit in/von Raum und Zeit.
Die „Recherche“ Prousts ist aber, wie wir sie lesen/hören, das Resultat nicht nur einer Suchbewegung, sondern einer ‚Bau’bewegung, das Werk der schrittweisen Herstellung eines künstlerischen Kosmos. -
Ich verstehe an diesem Punkt sehr wohl, dass man auf Prousts ‚Bauen’ im Lichte seiner Utopie schauen sollte. Im Roman versucht er sich offenbar so weit wie möglich an sein Ideal anzunähern. Er strebt ständig eine ‚ganzheitliche Lösung’ an durch das Ausloten auch der ‚archaischen’ Sinne (was ja auch völlig richtig ist, wenn es um ‚Liebe’ geht).
...
sich darin, dass sie in ihrer Gegenwart das Altverwurzelte wie selbstverständlich und unbewusst leben; sie gehen ‚naiv’ auf in ihrem jeweiligen sozialen ‚Kosmos’, der tief in die Zeiten zurückreicht; anders gesagt: ihre ‚Erinnerung’ ist gesellschaftlich, nicht individuell, und das heißt, dass für sie Gegenwart und Vergangenheit verschmolzen sind. Diese ‚Leichtigkeit’ oder ‚Durchsichtigkeit’ geht dem Erzähler ab; er leidet am Mangel an naiver ‚Ganzheit’, ihm fehlt sozusagen sein individueller Kosmos. -
Proust will aus diesem Dilemma - so offenbar die ‚Theorie’ - durch ‚Recherche’ herausfinden, einer Suchbewegung, die zu einem Punkt gelangen soll, wo mit allen Sinnen eine Art All-Gegenwart wahrgenommen und genossen werden kann, in jedem dieser ‚gefundenen’ Ideal-Momente die Zeit gleichsam stillsteht, so dass in der Folge dieser wunderbaren All-Momente, wenn im Augenblick des vollständig und sinnlich Erinnerten auch die Reflexe früherer Erinnerung aufscheinen (Puppe in der Puppe),..
Ach, Prousts Theorie ... – und Ihr nobles Plädoyer, Frau Windeck! Ich habe Ihre Erläuterungen mindestens fünfmal gelesen - und doch, der Berliner sagt: Nee, so nich, mein lieba Marcel. –
Aber langsam: Wie schreibt er denn seine „Recherche“? Sie haben schon darauf hingewiesen, Theorie und Romankonstruktion decken sich nicht wirklich. Das spricht übrigens für den Roman. Mich interessiert z.B. Françoise. Hat sie Probleme mit der Erinnerung, muss sie ‚recherchieren’? Nein! Und warum nicht? Weil sie alles in ihren Händen, ihrer Nase, ihren Augen, ihrem Gedächtnis parat hat. So kann sie - dank ihrer ‚archaischen Sinne’ - auch drauflos reden, erzählen. Und der Herzog von Guermantes? Der muss auch nicht ‚recherchieren’, weil er vollkommen aufgeht im ‚genealogischen Gedächtnis’ und im überkommenen höfischen Reste-Code. Beide - Bauern wie Aristokraten (so auch des Erzählers Kommentar beim Diner im Palais G.) – gleichen sich ...
Kurz zur aktuellen Lesung: Der Erzähler müsste, sollte man denken, nach den ernüchternden Erfahrungen im Palais G. und bei Charlus eigentlich genug haben von der Aristokratie. Dem ist aber nicht so - schwer zu sagen, warum. Da geht es ihm wie Swann ...
Offenbar unterliegt er weiterhin einer Anziehungskraft - und ist auf der Suche nach der ‚Nabelschnur’, von der er sich zu trennen hat.
…durch Aufhebung der Zeit für Sekundenbruchteile das Kunstwerk gleichsam enthalten ist. Neben der Madeleine-Episode führt er dies an zwei anderen Stellen aus (die ich noch nicht wiedergefunden habe). Meiner eigenen Erfahrung widerspricht dieses Proustsche Grundaxiom: weder glaube ich, dass man die ‚Gradabstufungen‘ der Beteiligung des Bewusstseins bei der Entstehung von Erinnerung klar trennen kann, noch halte ich durch bewusste Reflexion hervorgerufene Erinnerung grundsätzlich für weniger wertvoll als die „mémoire involontaire“. Die stärksten Eindrücke und am tiefsten eingeprägten Erinnerungen sind für mich allemal visuell. Im Grunde ist dies, wie Sie anmerken, auch bei Proust der Fall; da aber seine Theorie von einer Hierarchie der Sinne bei der Entstehung von Erinnerung für das Verständnis der Recherche von so großer Bedeutung ist, sollten wir es nicht außer Acht lassen.
Lieber Herr Reimann, mit Ihren Überlegungen zum Vorrang des Sehens rennen Sie bei mir offene Türen ein. Wir sollten aber im Kopf behalten, was Proust selbst darüber sagt: seine Begründung dafür, Geruch und Geschmack (und später Tastsinn) über die übrigen Sinne zu stellen, ist die, dass sie am weitesten vom Bewusstsein entfernt liegen und in den tiefsten Schichten des Unbewussten, die vom Verstand nicht erreicht werden können, Eindrücke am reinsten und dauerhaftesten bewahren.Der Gesichtssinn dagegen steht dem Bewusstsein am nächsten. Der Geschmackssinn kann mit der teegetränkten Madeleine nichts anfangen, bevor die Erinnerung als ein wahrer Bilderrausch(!) über den Erzähler hereinbricht. Proust hält die „archaischen“ Sinne für wichtiger und wertvoller für den schöpferischen Prozess, bei dem nicht nur das Versunkene ‚ans Licht befördert‘, sondern in dem…
Das Ergebnis der Lektüre wird dann stets eine Bestätigung im Sinne der jeweiligen Autoritäten sein, die die Lesart von Anfang an vorgegeben haben. Wieviel spannender und „erhellender“ ist es dagegen, sich ohne Ballast und „Sehhilfe“ einem Werk unbefangen zuzuwenden und dabei eigene, unerwartete Entdeckungen zu machen. – Ich fände es wunderbar, wenn jemand, der Adornos Sichtweise teilt (die trotz des oben Gesagten so viel Bedenkenswertes hat, wenn man sie undogmatisch behandelt), regelmäßig an der Diskussion teilnehmen würde.
…während der Leser den Text vor sich hat. Man kann einwenden, die Recherche sei kein abgeschlossenes Werk . Ob man darin aber ein Scheitern im Bewusstsein der Vergeblichkeit, gar heimliche Lust an Untergang und Auflösung zu erkennen hat oder die Ursachen für die „Unabgeschlossenheit“ vielleicht ganz woanders zu suchen sind, können wir erst am Ende des Romans beurteilen. Zur „Entfremdung“ hat Herr Reimann das Wesentliche gesagt. Das Adorno-Zitat ist ein Paradebeispiel für eine ästhetizistische Sentenz im schlechten Sinn: auf den ersten Blick bestechend durch suggestive, emotional aufgeladene Sprache, hält sie schon dem zweiten Blick nicht stand. Mit pathetischer Gebärde vorgetragen, duldet sie kein Hinterfragen, keinen Widerspruch. In den 60er Jahren mag es einen Trend unter Intellektuellen gegeben haben, solchen Autoritäten zu folgen und Literatur allein durch ihre Brille zu betrachten. …
Auch wenn die Lesung fortschreitet – ein Wort noch zu den Stichworten Auflösung, Gebrochenheit, Hinfälligkeit als Kennzeichen von Prousts Weltbild (833). Sie weisen auf eine Lesart, die Proust ausschließlich als Repräsentanten der dekadenten Fin-de-siècle-Literatur behandelt. Ohne Frage sind solche Aspekte in der Recherche vorhanden; der Nachweis, sie seien bestimmend für Prousts Weltbild, steht aus. Allein die Diskussion in diesem Forum, wie sie bis zu diesem Punkt geführt wurde (drei Bände liegen noch vor uns!), zeigt in meinen Augen deutlich, dass ein so einseitiges Verdikt weder gerechtfertigt noch angemessen ist. Vieles spricht dagegen, Prousts „aussichtsloses Unterfangen“, die „unendlichen Verflechtungen zu fassen“, als Ausdruck der Hinfälligkeit und Gebrochenheit zu deuten; u.a. wird dabei das Paradoxon ausgeblendet, dass der Erzähler fast im ganzen Roman an seiner Unfähigkeit zu schreiben leidet,…
Lesung III/57-59
Im Anschluss an das Diner im Palais G. steht – Schluss des Romanteils „Welt der G.“ – eine Folge von Szenen (mises en scène), die augenscheinlich die Überleitung/Schwelle bildet zu „Sodom und Gomorrha“: (1) der Besuch bei Charlus - die Gründe für dessen Exaltiertheit bleiben in der Schwebe (nur Andeutungen und Anspielungen), (2) eine Einladung zur Soirée bei der Prinzessin von G., an deren Echtheit der Erzähler zweifelt, so dass er Aussichts- und Wartepunkte bezieht mit Blick auf das Palais G. und den Faubourg, um (3) durch Vorsprechen im Palais G. sich zu vergewissern, ob er tatsächlich eingeladen sei; der Herzog empfängt ihn in einem ungelegenen Moment. -
Szenen im erzählerischen Gestus eines Retardierens, versetzt - momentweise - mit Formulierungen, die zum einen zurückblenden, aber wohl auch ‚vorbereiten’ sollen.
...
Nun muss ich vorsichtig sein: Ihre Schluss-Aussage (842) kann ich (noch) nicht nachvollziehen, sie könnte u.a./evtl. auf die Madeleine-Szene bezogen sein (?). Sollte es stimmen, so möchte ich gleichwohl anmerken, dass es hier um das Evozieren des Vergangenen/Vergessenen geht. Hervorspringt aber das ‚Bild’, der ‚Raum’ – und in Bewegung, also Erzählung versetzt das uns ‚vor Augen’ Gestellte, weil es auch beim Erzähler seinen (gefüllten) ‚Raum’ in der Zeit gefunden hat. –
[P.S.: mit der Neurastheniker-Seerose in der Vivonne ist alles paletti, danke für den Lesezeichen-Hinweis auf diese wunderbare Passage]
... wahrgenommen wird (mit welchen Sinnen auch immer), was erzählt wird. (Eine alte Erkenntnis ist, dass wir über ‚Zeit’ nur in räumlichen Metaphern reden.) Allerdings setzt Proust die Erinnerungs-‚Bilder’, nachdem sie zunächst angehalten, fixiert erscheinen, der Bewegung, dem Wandel, ja Sprüngen aus. Zweifellos ist es richtig, dass Prousts Erzähler-Sensorium sozusagen pan- oder synästhetisch ausgestattet ist. Gehör, Geruch, Geschmack, Tastsinn (wie Sie zu Recht schreiben) vervollständigen, verdichten die Wahrnehmung im Raum und intensivieren das ‚Gesehene’. Sie füllen das erzählende Ich (und mittelbar den Leser) lebendiger mit Wahrnehmung auf. Der Leitsinn im Raum aber ist das Auge, das Sehen. Ich denke, so ist Prousts Erzählen auch ‚gebaut’ (vgl. auch die zahlreichen ‚Szenen/Szenerien’, in denen es um Blickrichtung oder Lichtführung geht). –
...
zu 841/842
Ich bin Ihnen für Ihre Ausführungen dankbar, Frau Windeck, sehe zugleich ein ‚Problem’: hie die Proust’sche Skepsis gegenüber der Erkenntnismöglichkeit „des Ganzen“ – da das ‚Programm’ (oder Idee) einer kreativen Schöpfung, die „über eine umfassende Schau als Konstruktion des „Wirklichen“ weit hinausreicht“. Also so etwas wie der Anspruch, per/als Kunst die Aporien der (menschlichen) Wirklichkeit zu übersteigen. Das wäre etwas für die spätere Gesamtschau auf das Werk. –
Nun zur Formel „Kathedrale der Zeit“: Sehr anregend – und sie führt mich auch zurück auf die Sache mit dem ‚Sehen’. Diese ‚Kathedrale’ ist nicht nur ein ‚Bau’, sie ist ein großer, gebauter ‚Raum’. Ein Zeit-Raum, in sich vielfach gegliedert, und schön außerdem.
Wenn Prousts Erzähler die Bilder seiner Erinnerung aufruft, dann stellt er die jeweiligen Begebenheiten und Eindrücke ‚uns vor Augen’, er gestaltet ‚Räume’ für uns, in denen all das ‚spielt’ oder ...
mit der Recherche wolle er „eine Kathedrale der Zeit“ errichten; wiederholt spricht er von seinem Werk in Metaphern aus dem Umfeld ‚bauen‘ und ‚zusammenfügen‘; daher denke ich, dass Sie mit Ihrem Einwand gegen Herrn Eckhardts Ausführungen Recht haben. Die Frage scheint mir weitreichend und grundlegend, die folgende Anmerkung dagegen eher marginal: natürlich habe ich die „Neurastheniker-Seerose“ nie in Zusammenhang mit Monet gebracht. Sie sollte Ihnen als „Lesezeichen“ für die folgenden Passagen dienen, da ich die Seitenzahlen Ihrer Ausgabe nicht kenne. – Gegen eine zu starke Einengung auf die optische Wahrnehmung (naheliegend im Licht der letzten Hörfolgen) habe ich Bedenken. Die vorangegangenen Bände zeigen, dass Gehör, Geruch, Geschmack und Tastsinn für Proust auf derselben Ebene stehen wie das Sehen; für den schöpferischen Prozess scheinen sie sogar von größerer Bedeutung.
Auch nach meiner Lesart handelt es sich keinesfalls um ein „Fragmentieren der Welt“, sondern um das Einbeziehen der Erkenntnis, dass unsere Wahrnehmung uns nur Ausschnitte der Wirklichkeit zeigt, es also illusorisch wäre zu glauben, wir könnten „das Ganze“ wahrnehmen oder gar erkennen, zumal die Dinge und(in der Beobachtung des Erzählers) auch die Menschen sich ständig wandeln und von einem Augenblick auf den anderen das Gegenteil dessen zu sein scheinen, was der Erzähler noch vor einem Moment als sicher angenommen hatte. Die Sicherheit ist trügerisch: daher seine Verunsicherung und zunehmende Skepsis. „Dekonstruktion“ sehe ich nicht. Ich glaube, Proust geht es darum, aus den Fragmenten im Schöpfungsprozess etwas Neues zu schaffen, und zwar sogar etwas, das über eine umfassende Schau als Konstruktion des „Wirklichen“ weit hinausreicht. Er selbst äußerte einmal,…
...
Wie das wohl ‚interpretieren’ ohne Rückschau auf den Kontext (siehe meine Anregung Nr. 837)? –
70 Seiten zuvor hieß es übrigens über die „törichte“ Herzogin: „(...) lieferte sie meinem Geiste Literatur, wenn sie vom Faubourg Saint-Germain sprach, und schien mir niemals auf eine so zwanglose Art selbst nur Faubourg Saint-Germain zu sein, als wenn sie von Literatur redete“.
Schauen wir Lesung 57 doch mal so an: Auf der Fahrt zu Charlus fühlt der Erzähler einen „Rausch“, er hat ‚mixed feelings’ – nun kommt’s in Stichworten: „im Bann jener zweiten Art“ / „sobald wir nicht mehr wir selber sind“ / „mit einer Gesellschaftsseele begabt“ / „in das innere Stereoskop geschoben“ / „Hinter den vergrößernden Gläsern“ / „töricht erschienen“ / „nicht unbedingt sinnlos“ / „noch nicht zu den physischen Quellen des Lebens vorgedrungen“ / „noch nicht den unbewussten Gemeinschaftsleib verwandelt“ / „Kenntnissen, die man aus einer ... zur Bildung des Geistes ganz ungeeigneten Schlossbibliothek schöpft“ / „enthüllte sie sich mir doch nach und nach unter sehr deutlichen Zügen“ / „Die großen Herren sind fast die einzigen, von denen man ebenso viel wie von Bauern lernt“ / „die Dinge der Vergangenheit hätten einen Reiz in sich selbst“ (...) - alles Reflexe/Reflexionen des E. zu den Dinergesprächen, bevor er bei Charlus anlangt. - ...
Sehr geehrte Damen und Herren, Ihre Kommentare zu den einzelnen Abschnitten der Lesungen sind m.E. um eine verspätet. So betrifft 57/61 die Unterhaltungen bei Monsieur de Charlus und nicht das Ergebnis des vorangegangenen Besuchs bei Madame de Guermantes. Aber sonst : Toll. man ist versucht , den Roman zweimal zu lesen !
Mit freundlichen Grüßen
Lange
... antithetischen/dualistischen Muster von Bewunderung/Genuss/bejahender Teilhabe versus Kritik/Satire; Ver- und Entzauberung, Anziehung und Abstoßung vollziehen sich in zugleich subtileren Kategorien, die zu tun haben, denke ich, mit dem Problem der Findung eines validen Maßstabs für das Verhältnis von Ich und Welt - das erzählende Ich präsentiert uns seine Suche nach einer lebbaren Haltung, nach einer ‚Verankerung’, die dies Ich zu ‚kreativer Produktivität’ befähigt. -
Ich würde mich über eine Diskussion darüber in diesem Forum freuen.
„Parsifal unter die Blumenmädchen versetzt“ - so der Erzähler im Palais Guermantes beim Eintreten in den Salon zum Diner. Er stößt auf den „abgelagerten Duft“, den „stehengebliebenen Rest aus dem Hofleben“, dessen „Geist“ im Fortleben der adligen Umgangsformen wie „eine Tonskala aus mehreren Jahrhunderten zum Erklingen“ gelangt. Es folgt über fast 200 Seiten hinweg eine Auseinandersetzung mit der „imaginären Ferne der Vergangenheit“, mit einer Welt in „Umkehrung“, wo „die Oberfläche wesentlich und zur Tiefe wird“.
Ein erstaunliches, großartig komponiertes Stück Literatur! Lässt sich daran (Lesung dieser 3 Wochen) nachvollziehen, was im Erzähler vorgeht - oder anders: warum das erzählende Ich diese ‚Folie’ der Aristokratie zur Selbstfindung benötigt?
Offenbar zieht Proust nicht die erwartbaren Register der Beobachtung und des Urteilens, folgt nicht dem naheliegenden ...
... dem 'Vollkommenen' und dem 'Gelingenden' gegenüber. Aber die 'Formeigenschaften' weisen m.E. auf ein konstruktives Wollen hin, auf ein Ethos des schaffenden Künstlers, der immer wieder neu ansetzt mit seinen ‚Verknüpfungen'.
Das ist, denke ich, etwas anderes als (philosophisch) die Behauptung einer Menschenwelt der Auflösung, Gebrochenheit etc. –
Übrigens: Das Adorno-Zitat leuchtet mir nicht ein, wieso ist die schöne Sprache voller Hoffnungslosigkeit? Mir riecht das nach wohlfeilem Eskapismus. Denn unterstellt wird, dass dem ‚Schein’ ein wahres ‚Sein’ ohne wenn und aber entgegengestellt werden kann. Welches denn? Prousts ‚Methode’ des Erzählens folgt solchem behaupteten Vorabwissen nicht – so meine bisherige Lektüre. (Ich habe bisher nicht über die Bücher Guermantes hinaus gelesen.)
Ja, Herr Eckhardt, was ich "noch kaum gesagt" habe, greifen Sie nun dankenswerterweise auf und formulieren knapp Ihre Deutung (mit Hinweis auf Adorno). Schön auch, dass Sie das Zitat aus der jüngsten Lesung einbeziehen ("Daseinsgrund" wechselseitig). > Gut für die Diskussion!
Ich tue mich allerdings schwer, hier mit der Kategorie der Entfremdung zu operieren. Die Sprachformen Prousts scheinen mir in ihrer Beweglichkeit, im mäandernden Satz- und Gedankenbau, im stetigen Wiederaufnehmen und Umschichten der Motive ein anderes Signal zu setzen: das eines 'Baumeisters', der ein taugliches Bild des (vergänglichen) 'Lebens' geben will - man könnte vielleicht auch sagen: das 'Mäandern' des Lebens nachahmend - jedenfalls keine Dekonstruktion. Proust ist wohl sehr ehrlich in seiner Skepsis ...
Ich meine, dass die erwähnten „Formeigenschaften“ sehr wohl etwas über das Proustsche Weltbild aussagen, das ein gebrochenes, ein hinfälliges, eines der Entfremdung, der Auflösung ist. Form und Inhalt sind hier nicht zu trennen. Hinzukommen die immer „zahlreicheren Verknüpfungen“ der Figuren, ein hochkomplexes Beziehungsnetz, in dem jeder vom andern „seinen „Daseinsgrund erhält“ und zugleich gefangen ist. Nicht zuletzt der komplexe Satzbau mit seinen Einschüben usw. ist Abbild der (unendlichen) Verflechtung, immer wieder der Versuch, diese zu fassen, aber zugleich aussichtsloses Unterfangen. „Die Schönheit, welche die Dinge in solchen Beschreibungen annehmen, ist die hoffnungslose ihres Scheinens.“, schreibt Adorno in seinen Proust-Kommentaren.
... Erweiterung, Vervollständigung, Revision, Retusche, Umschichtung, Wiederaufnahme, Verwandlung etc. So beweglich und ambivalent ist der Bau des Romans und sein spezifischer Modus des ‚Jahresringe’-Bildens. –
Nota bene: Mit der Kennzeichnung solcher Formeigenschaften ist noch kaum etwas gesagt über das von Proust vermittelte Welt- und Menschenbild.
... so oft die komplexe Wahrnehmung bestimmen. Mein Eindruck: Prousts Erzählverfahren ist gleichsam ‚optisch’ ausgerichtet: aneinandergebaut oder übereinandergelegt werden ‚Bilder’ (transparente Folien?), die im Wechselspiel ihrer ‚Teile’ wie Konzentrate von ‚Handlung’ oder ‚Gedanken’ wirken, beweglich und offen und reflexiv gerade auch wegen der Verschränkung der Zeit- und Erinnerungsebenen. Was im Hinblick auf Motivation, Assoziation, Imagination beim Erzähler - also auch psychologisch – ein Auf und Ab aus Anziehung und Abstoßung, aus Faszination und Enttäuschung ist, ergibt sich erzählerisch keineswegs nur aus der Handlung, sondern aus der kontrastierenden Handhabung der komplexen Wahrnehmungs-Bilder (‚Projektionen’) in einem Prozess von ...
Ich bitte um Nachsicht, aber das Stichwort ‚fragmentarisch’ reizt:
Zu Beginn des abendlichen Diners im Palais Guermantes befindet sich der Erzähler „im Angesicht der Bilder von Elstir“ - da heißt es: „...wie in Balbec hatte ich wieder die Fragmente dieser Welt mit ihren unbekannten Farben vor mir, die nur die Projektion gemäß der ganz besonderen Sehweise des großen Malers waren ...“
Prousts Erzählen ist durchaus getragen vom Umgang mit ‚Fragmenten’. Es ist - wie ich es lese - aber kein Fragmentieren (der Welt), sondern ein Arrangieren, Kombinieren von Fragmenten, also ein ‚Bauen’ mit Fragmenten. Wenn ich auch vom ‚Schichten’ spreche, so einerseits wegen der Überlagerungen und andererseits wegen der Zeitstruktur(en) der Erzählung, der Zeitschichten, die ...
Danke für die Textstellen!
Vorweg: Der Absatz über die ‚Neurastheniker-Seerose’ ist gerade nicht Monet; in meinen Augen bietet diese Folge der Beschreibungen und Vergleiche ein Beispiel für das ‚Bau-Muster’ des Proust’schen Erzählens mit dem ‚Springen’. -
Die folgenden Absätze dann wieder weitestgehend ‚à la Monet’ (wie ich vermutete), wobei in der Passage über die Glockentöne von St. Hilaire eine schöne (im Kontext synästhetisch anmutende) akustische Variante zu den Farbwahrnehmungen anschließt.
„die violetten Gewittertöne der Weingärten an einem Herbstmorgen“( „Combray“, Weg nach Méséglise) lassen an impressionistische Malerei denken. Ihrer Beobachtung, dass v.a. die Beschreibungen der Werke und Malweise Elstirs wichtige Fingerzeige geben, schließe ich mich an.Sie enthalten wesentliche Reflexionen zur Wahrnehmung (und zum Welterleben) des Erzählers. Ich würde lediglich den Schwerpunkt mehr auf den Aspekt des Fragmentarischen legen als auf Aufbau und Schichtung wie bei Cézanne.
Eine zusammenhängende Passage, die offenbar auf die Nymphéas Bezug nimmt, schließt sich auf dem Weg nach Guermantes ( gegen Ende von „Combray“) an die Beschreibung der ‚Neurastheniker-Seerose‘ in der Vivonne an. Die Seerosenteiche spiegeln einen dunkelgrünen, manchmal auch einen helleren, von Violett ins Blau spielenden irisierenden Untergrund. Die Passage ist durchsetzt von unerwarteten Assoziationen (Stiefmütterchen, Porzellan), legt aber in der Vertauschung von Himmel und Wasserfläche , die „den Blumen einen Grund von erlesenerer und eindrucksvollerer Färbung als die der Blumen selbst“ gibt, den Gedanken an Monet nahe.(W. Joop sagte in der Sendung, er wüsste nicht, wie er das Bild aufhängen würde, da er nicht entscheiden könne, wo oben und unten ist.) Statt Gemälde zu beschreiben, ruft Proust in der Vorstellung des Lesers eines/mehrere ähnliche Bilder hervor. Auch Halbsätze wie z.B. …
Anhang zu 825:
Sehe gerade, dass insbesondere die Szene (Swann/Combray) der Kutschfahrt mit Doktor Percepied und die wechselnde Wahrnehmung der Kirchtürme von Martinville wohl einen Schlüssel liefert für den Zusammenhang zwischen optischer Wahrnehmung, emotional-gedanklicher Verarbeitung und Schreibakt/Erzählweise. Wenn man den Proust-Text versucht mit den Augen eines Malers zu lesen, landet man viel weniger beim ‚Impressionismus’ als bei all denen, die ihre Bilder ‚bauen’. Auf Cézanne hatte ich schon hingewiesen.
... das Reflektieren von ‚Oberflächen’, das Wechselspiel des Lichts im (stillgestellten) Moment für das Entscheidende halten sollte. Eher wohl ein nur im jeweiligen Kontext erkennbarer optisch-gedanklicher Bau, eine Art Schichten, Überlagern, Kontrast-Spiegeln von Analogem wie Disparatem (zuweilen ins Komische oder auch ins Paradoxe gewendet). Die Elstir-Passagen sind, denke ich, für vieles Fingerzeige.
Angeregt durch den arte-Film (Musée d’Orsay) – danke, Frau Windeck! – tritt mir in dieser Woche Madame de Guermantes als ein (Proust’sches) Rätsel entgegen. Hat sie denn gar keine Liaison wie all die anderen? Anders gefragt: Welche Frauen-Konstruktion ist sie neben/im Vergleich zu Odette? Als eine stets raffiniert gekleidete ‚Olympia’ des Faubourg gibt sie sich und schaut alle(s) selbstbewusst an – und so geht sie anscheinend auch mit den ständigen Affairen ihres Ehemanns um ... --
Zweite Frage, betr. Monets Nympheas: Natürlich bieten sich Assoziationen zu den Beschreibungen der Vivonne an. Welche Passage(n) würde(n) da charakteristisch sein? Ich frage auch deshalb, weil mein vager Eindruck war (mir fehlen die Zitate), die Verarbeitung durch Proust ist nur scheinbar ‚impressionistisch’ (à la Monet), sein ‚osmotisch-bauendes’ Erzählen ‚springt’ zu sehr, als dass man ...
Gerade lief auf arte ‚The Art of Museums‘ über das Musee dOrsay (frz.Kunst des 19.Jh.), gesehen mit den Augen von Sasha Waltz und anderen Künstlern von heute. Auch wenn man sich nicht so sehr für Kunst interessiert: es ist Prousts Epoche, u.a. werden Werke gezeigt, auf die er in der Recherche Bezug nimmt. Wichtiger finde ich aber, dass übergreifende Themen (z.B. das Frauenbild der Epoche) angesprochen und die Werke aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Unbedingt empfehlenswert! (Gibt es bestimmt in der arte mediathek.)
... den inneren ‚Bau’ der beobachteten Verhaltensweisen, das hier uralt Zusammengesetzte (auf ihn wirkend wie dauerhafte Kunst). Insofern können die spärlich eingefügten (erklärenden od. deutenden) Vergleiche/Metaphern sowohl Distanz (Ansätze zu Kritik) signalisieren als auch Verstehen/Annäherung (Möglichkeit produktiver Verarbeitung für seine eigenen Interessen?). Angedeutet hatte er seine besondere „Überlegenheit“ ...
... ist die Fähigkeit der Herzogin, ihren Zirkel exklusiv und erlesen, aber an den Rändern durchlässig, ein wenig offen und beweglich zu halten – durch Einladung von Künstlern, Intellektuellen, ‚Modernen’ oder zumindest durch überraschende, provokante Einführung deren Gedanken, Werke in die ‚Diskussion’. Mit solchen Volten überrumpelt und übertrumpft sie ihre Gäste. Die eingeladenen Externen werden ostentativ mit allen alten Formen der Höflichkeit und Liebenswürdigkeit behandelt, sie werden über die fundamentale gesellschaftliche Kluft hinweg getäuscht und verführt (auch mit Snobismus infiziert). -
Der Erzähler scheint sich zurückzuhalten, ist aber gerade durch das kurze, intensive Studieren der Bilder von Elstir besonders empfänglich, denke ich, für ...
Anmerkungen zur Diskussion / Lesung der Woche >> Salon Guermantes/Diner:
Der Erzähler, Gast und Beobachter, erlebt den exklusiven hocharistokratischen Zirkel als zeremoniellen Kosmos - Gefüge und Repertoire von Verhaltensweisen des Adels, der wie unabhängig von seinen gegenwärtigen Trägern existiert. Fertige Register standesgemäßen Verhaltens bis in die kleinsten Posen hinein (inkl. gelegentlicher Verwendung der ‚Volkssprache’) stehen zur Verfügung.
Zur Konversation: Bonmots, Spitzen, kleine Bosheiten oder gar Lügen – was wir heute Lästern nennen würden, ist in diesem exklusiven Kreis eher ein Lebenselixier: in dem gealterten Knochenbau der Aristokratie wirkt es wie ein stärkendes Schmier- oder Arthrosemittel. Die amüsante Konversation bannt Stillstand und Langeweile, vor allem aber regeneriert und bestätigt sie die feinsten Distinktionen im Geranke der weit verzweigt verwandten ‚Kusinen und Vettern’.
Was den Salon Guermantes vor den anderen auszeichnet, ...
I-A!
Bedeutet in diesem Fall:
Ich kenne das Gefühl sehr gut, von Kleinchen öffentlich abgewatscht zu werden.
Sie, werter Herr Stellmann, schrieben am 6. Juni (unzweifelhaft an mich gerichtet):
"Lach, an wen das wohl ging?" Und nun meine sehr ernsthafte Frage:
Wie fühlt sich das nun für SIE an?
Mein erstes I-A! vom 26. Juli bezog sich übrigens auf Ihren Kommentar vom 17. Juli "Bin raus, muss mich um meine Frau kümmern..." Genau dies (um meine Frau kümmern) war bei mir der Fall, deshalb mein eselisches "ich auch".
Es wird mir ein ums andere Mal angedeutet, die Menschen gerade dann zu verwirren, wenn für mein Gehirn alles sonnenklar formuliert zu sein scheint.
Künstlerpech!
zu 803: Klammheimlich beschleicht mich der Verdacht, die Anhänger von Sprechblasen und Worthülsen wären nicht unbedingt im Lager derjenigen zu suchen, die ihr Augenmerk beim Lesen nicht auf die Frage reduzieren, was der Text mit ihnen zu tun haben könnte oder Literatur auf einen "Gebrauchswert" hin untersuchen ...
Liebe Frau Krings, danke für Ihre Nachricht.
Bevor ich mich in einigen Tagen dazu erklärend oder auch verwirrend äußere, nur die ebenso kurze wie verblüffte Frage:
Hatten wir bei der Recherche tatsächlich bereits das sogenannte Bergfest???
Ihr acht keineswegs verlorene Jahre in Jülich gelebt habender Co-Kommentator
PS Ich hatte es schon ein- oder zweimal erwähnt: Frau Anselms Beiträge nehme ich im Großen & Ganzen genau so auf wie Sie es tun, Frau Krings.
Und ich vermute, Herr Stellmann auch... lach... grins...
zu 808/809: Bild er Tänzerin
Wir sollten unterscheiden: Jedes Gemälde dieser Art, von Degas bis zu Rubens, Caravaggio, Fra Angelico (z.B.)hält den Augenblick fest und weist zugleich darüber hinaus - entweder in die Geschichte davor/danach oder allg. in den Zusammenhang der Bewegung(en). Was Elstir offenbar macht, ist 'Konstruktion' im Gefolge von Cézanne - eine Linie, die bis zur Abstraktion à la Picasso reichen kann, deren Verankerung im Realen, im Gegenständlichen oder Figürlichen ja immer greifbar bleibt.
Anm. zu 814:
Der Erzähler vor den Bildern Elstirs im Haus Guermantes':
„(...) hatte ich wieder die Fragmente dieser Welt mit ihren unbekannten Farben vor mir, die nur die Projektion gemäß der ganzen Sehweise des großen Malers waren“ ( in meiner TB-Ausgabe, Guerm. II/S.555) –
>> Beispiel für das Zusammenspiel / Ineinandergreifen beider ‚Methoden’
... Reflexion. Die eingeschobenen farbigen Glasscheiben sind bereits fertige (innere) Bilder. Sie gleichen überraschenden, wunderbaren Zauberbildern (wie für Kinder und alle, die neu! sehen; >> Elstirs fertige Gemälde). Am ‚Schneidetisch’ aber setzt ein Fotograf (oder Text-Monteur) seine ‚Fragmente’, die Momentaufnahmen wie ‚Fundstücke’ zusammen, im Bewusstsein seiner jeweiligen Gegenwart und auch konfrontiert mit Erinnerung. In/aus der Erinnerung wiederum können scheinbar verschollene Bilder wie ‚Zauberbilder’ wieder auftauchen, zufällig hervorgereizt durch irgendwelche ‚Madeleines’ ...
Mir scheint, Proust wendet in seinem Schreiben beide ‚Methoden’ an.
... dass Roberts „Körper“ die Momente des Denkens, die „höheren Dingen“ zugewandt waren, „absorbiert“ hatte, so dass er „Schwere“ bereits abgeworfen hatte und als Adliger, als „Reitergeneral“ ganz er war – aber von außen betrachtet auch ganz „Kunstwerk“ werden konnte [siehe Bild vom Reiterfries, analog dem Fries der Mädchen (Balbec)]. Wichtig dabei die psychologische Seite, die in die Adels-Studie einfließt: Saint-Loup wird qualifiziert durch „Vorzüge, die hinter seinem Leib, der nicht undurchlässig und dunkel war wie der meinige, (...) aufschimmerten: „klar und reizvoll“ war er in den Augen des Erzählers. Hier haben wir sicherlich Vorgriffe auf Späteres. –
Noch ein Wort zu den ‚Sinnbildern’, die wir hilfsweise benutzen: Die ‚Laterna magica’ hatte ich mir notiert, aber noch für später aufgehoben. Ich denke, die ‚Kamera’ oder ‚Dunkelkammer’ und andererseits diese ‚Laterna’ lassen sich komplementär gebrauchen. Beide bezeichnen Verfahren der optischen (Re-)Präsentation und ...
... in Sachen ‚Liebe’ oder ‚Freundschaft’ und andererseits von individuellem Vermögen (Schöpferkraft, Genie ... – allgemein auch ‚Modernität’) und dem, was er - hier - bei Saint-Loup „Patrimonium“ nennt , genauer: „Patrimonium in seinem Körper“. Diesen Punkt spielt er im weiteren Verlauf immer wieder durch (Salon der Guermantes); so die lange Reihe der Beobachtungen und Reflexionen zu Herzog und Herzogin Guermantes. Variationen über das ‚Kryptogramm’. Zum Muster des spiralförmigen Erzählens gehört das Spannungsverhältnis von Anziehung und Abstoßung , von Ver- und Entzauberung usw. Auch Namen werden auf ihre Tauglichkeit hin durchleuchtet (der magische ‚Name Guermantes’. ...). Immer wieder das Abgleichen von Geistigem etc. und ‚dem Körper’, ohne den augenscheinlich nichts wirklich vollständig verstehbar wird. Vgl. die vielen Passagen zum Körper der Protagonisten. Im Hinblick auf Saint-Loup ist die Quintessenz des Erzählers, ...
Ich freue mich, dass es mit der Diskussion jetzt wieder weiter geht. Ja, die ‚Jahresringe’, Frau Windeck – Ihr Beispiel (Rückgriff auf die Szene mit Saint-Loup, Thema Freundschaft) ist bemerkenswert, für mich aber noch aus einem andern Grund als dem Umstand, dass der Erzähler aus einem „Heute“ zurückdenkt. Wenn ich es richtig sehe, befinden wir uns in einem Abschnitt des Romans, in dem der Erzähler seine Erfahrungen/Einstellungen ‚abklopft’/‚bedenkt’ im Rahmen von Szenen im Milieu der ‚Aristokratie’. Er erlebt eine ‚Konfrontation’: hier er selbst, noch unfertig, aber im ‚Anlauf’, als Künstler zu ‚arbeiten’ - dort der zutiefst verankerte ‚fertige’ Adel (den es um 1900 immer noch gibt und von dem sich der Erzähler extrem angezogen fühlt, an dem er sich reiben muss; er prüft die Verhaltensweisen dieser Leute auf ihre Eigenart und ihren ‚Wert’ und ist offenbar begierig, sich in der besagten Reibung Klarheit zu verschaffen über das Verhältnis einerseits von Sein und Schein ...
Sehr geehrte Herren Werckmeister, Stellmann und Buchwald, es ist sehr schade, dass Sie sich nach mehr als die Hälfte des Opus aus der Diskussion über die "Suche nach der verlorenen Zeit" zurückziehen. Ich fand Ihre Kommentare und das Gespräch untereinander erhellend, spannend und bereichernd und habe gern aus diesem erlesenen Zirkel geschöpft, denn es ist ja offensichtlich, dass Sie drei und Frau Windeck sich professionell mit Literatur beschäftigen. Mir, als von der Lektüre gefesselte "nur" Leserin, fällt es viel schwerer, meine Eindrücke so auf den Punkt zu bringen, wie Sie es tun. Trotzdem löst das Buch Assoziationen, Gefühle, Erinnerungen, Übereinstimmungen und Gegenwehr auch bei mir aus; will sagen, Sie sprechen mir oft aus der Seele.
Vielleicht überlegen Sie es sich doch nochmal, wieder einzusteigen, ich würde mich freuen. Und Herr Stellmann, warum tut es Ihnen Leid, für Frau Anselm zu sprechen? Ich finde ihre Statements erfrischend, witzig und sehr persönlich.
verweist das Werk auf die Flüchtigkeit des Augenblicks: das unaufhaltsame Vergehen der Zeit wird im Kunstwerk für den Betrachter spürbar. Die erlebten Momente sinken im Laufe der Zeit immer tiefer ins Unbewusste, wo sie für den Menschen „verloren“ sind,meint Proust. Sie „heraufzuholen“ (vgl die Madeleine-Episode) und ihnen im Kunstwerk neue Gegenwart zu verleihen, die eine ganze versunkene innere Welt umfassen kann, war Prousts Anliegen.
zu 798:Über Ihren Kamera-Vergleich habe ich nachgedacht, kann mich aber nicht ganz damit anfreunden. Proust hätte er vielleicht sogar gefallen, da er sich nach eigener Aussage bemühte, „objektiv“ und unbestechlich zu sein. Bei der Betrachtung der Werke Elstirs im Hause Guermantes verwendet er ein Sinnbild, das mir besser zu passen scheint: die Laterna magica (die als Leitmotiv immer an entscheidenden Stellen des Romans auftaucht). Die Persönlichkeit des Künstlers Elstir ist einzigartig, lässt aber keineswegs auf Rang und Eigenart seiner Werke schließen; sie entstehen erst durch seine besondere Sichtweise, symbolisiert in den farbigen Glasscheiben. Auf diese ihm eigene Weise gelingt es dem Künstler,den Augenblick, als die erhitzte Tänzerin zu tanzen aufhört, so festzuhalten, als hielte er die vergehende Zeit an. Die Szene auf der Leinwand ist unveränderlich und unbeweglich fixiert. Gleichzeitig aber…
seine Unfähigkeit zur Freundschaft und die Gründe dafür an.Der Unterschied liegt darin, dass der Erzähler in Balbec das Werk, zu dem er sich berufen fühlte, noch nicht geschrieben hatte, während er in der zuletzt gehörten Passage auf das beendete Werk voraus- und zurückweist, den Text nämlich, den der Leser vor sich hat. Es ist dieses Geflecht ineinander verwobener Zeitschichten, es sind die Denkbewegungen, die immer wieder neu ansetzen (und die so viel schon Gedachtes enthalten), um gleichsam in konzentrischen Kreisen (oder ineinandergreifenden Spiralen)das Wahrgenommene und die davon nicht mehr zu trennenden Gedanken und Vorstellungen in Sprache nachzuformen, die es so schwer machen, bei der Chronologie zu bleiben.
zu 797: Obwohl ich mir am Anfang der Lesung vorgenommen hatte, mich nur auf die einzelnen Hörfolgen zu konzentrieren, fällt es mir zunehmend schwer; wenigstens will ich versuchen,mich auf „Rückgriffe“ zu beschränken. An den mit St Loup verbrachten Tag schließt der Erzähler eine längere Reflexion über Freundschaft an. Man kann hier ein Grundmuster der Recherche erkennen: dem Erzähler widerfährt mehrmals das Gleiche auf unterschiedlichen „Stufen“, die jeweiligen Reaktionen und Überlegungen des Erzählers ähneln sich. Sie selbst haben dafür einmal das Bild der Jahresringe eines Baumes benutzt. Ein zutreffendes Bild, wie ich finde, denn die nie ganz ebenmäßigen Muster der Ringe wiederholen sich in fast unmerklichen Abwandlungen. Bald nachdem der Erzähler St Loup in Balbec kennengelernt hatte, stellte er ganz ähnliche Überlegungen über….
Aber Herr Stellmann – Sie formulieren seit einiger Zeit recht giftig!? Im Unterschied zu mir kennen Sie die gesamte „Recherche“. Ich tue mich schwer, mir ‚den Proust’ vorzustellen und muss mich an den ‚Erzähler’ halten, wie er bis heute (rbb-Lesung) auftritt. Soll ich da nicht zögern, die ins Auge springende „umfassende Sensorik“ nicht nur zu bewundern, sondern den Widerhaken zu folgen, die ich ebenso spüre. Auch aus eigener Lebenserfahrung. Sentenzen über menschliche (Ich-)Abgründe, ok (Montaigne hoch zwei) – aber ich habe keine Lust, mir einen neuen Guru zu entdecken. Das ist die Art, wie ich mit der Frage umgehe, was der Text mir sagt, was er mit mir zu tun hat.
Was ich mir wünsche, sind weniger die allgemeinen Einwürfe, sondern eine Diskussion über die Passagen des Romans, die wir vorgelesen bekommen. Dann kann sich was zusammensetzen. Mein Urteil, meine Einstellung steht noch lange nicht fest.
Ooops, jetzt habe ich gerade eine kleine Lanze für Frau Anselm gebrochen...lach tut mir leid..grins
Das ist wohl mehr eine Frage, die an Proust selbst zu stellen ist, aber für seine umfassende Sensorik, seine menschlich-seismographischen Fähigkeiten konnte er nichts...die waren ihm gegeben und er hat sie weitergegeben....Adorno hat mal zu Alexander Kluge gesagt, er solle nicht schreiben, weil nichts an Proust heranreichen könnte. Dem Himmel sei Dank, dass Kluge nicht auf seinen Lehrer gehört hat...
Noch einmal: der Gebrauchswert von Literatur besteht in Erfahrungarbeit...alles andere ist schöngeistige Sprechblasenproduktion
Worin besteht die Besonderheit des Ich-Erzählers, dass er derart ‚intimen’ sozialen Zugang findet zu den Kreisen/Salons der Aristokratie und sich männliche und weibliche ‚Beispiele’ Schritt für Schritt zurechtlegen kann für seine Studien und Urteile ? - die Herzogin, Robert (und Foix), der Herzog, die Prinzessin von Parma - Der Erzähler erwähnt seine „Art von Überlegenheit“ ...
Was verehre ich meinen Oberstufenlehrer und meinen Publizistikprofessor, die immer nur gefragt haben, was könnte dieser Text, diese Nachricht mit ihnen zu tun haben?
I-A!
(eselisch für: Ich auch...)
... den ‚Botaniker’: Wie ein Präparator beugt sich das ‚Ich’ über seine ‚eingefangenen’ bzw. jetzt ‚toten’ „Exemplare“. Oder wenn man den ‚Fotografen’ bemühen will, so bearbeitet er zwecks Präsentation seine ‚Negative’. Dem würde entsprechen, dass für all die Szenen, in denen der Erzähler seine ‚Liebe’ ausbreitet, bereits ein retrospektiver Zeitpunkt erreicht ist, zu dem die ‚Liebe’ ernüchtert ist und distanziert betrachtet werden kann. So immer wieder explizit hinsichtlich der Frauen (Gilberte, Albertine, Madame Guermantes, Mme de Stermaria). Was nicht ausschließt, dass künftige Wendungen anhand neuer ‚Negative’ in Szene gesetzt werden können. Für die Blicke auf die Gesellschaft, die Facetten von Distinktion und Dünkel, die Usancen im sexuellen Verhalten, das Verhältnis von Freundschaft etc., gilt bestimmt die (kalte) Distanz-Perspektive. Auch scheint zur Konstruktion zu gehören, dass Mutter und Großmutter eine Sonderrolle spielen ... –
Bin gespannt auf die angekündigten ‚Schocks'
... soll wohl mehr sein: Medium (Sprachrohr) einer Ich- und Welt-Wahrnehmung (und –Deutung?). Ein solches ‚Programm’ lässt sich nicht einer ‚Person’ aufbürden. Es kann nur ‚verteilt’ werden auf eine Vielzahl von Protagonisten, und ihr Zusammenhang kommt zustande dadurch, dass sie in der Erzähler-Werkstatt/Dunkelkammer in einen ‚Erzähl-, Beschreibungs- und Reflexions-Apparat’ eingespannt werden. Das dirigierende, erzählende Ich agiert a u c h als - auf Generalisierungen zielender - Repräsentant, als (erlebendes) Ich u n d als Stellvertreter/Agent - eines Ensembles von Wahrnehmungs- und Wiedergabemöglichkeiten, deren Bandbreite sich bestimmt auch durch die Summe der technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisweisen der Zeit. – Anknüpfend an ...
Ja, die ‚Vorgriffe' bei Proust! In der Balbec-Szene (vgl. 796), nachgelesen, sind mir in zahlreichen Passagen solche raffinierten Vorgriffe auf die Szene mit Albertine vor dem erhofften Rendevouz mit Madame de Stermaria in die Augen gesprungen. - Nun gehören, nüchtern betrachtet, Vor- und Rückgriffe zu allen gut gewebten literarischen Texten, auch wenn Proust darin Virtuose ist - allerdings auf besondere Weise >>
Entsprechungen/Spiegelungen dieser Art werfen ein Licht auf die von Proust vorgenommene Konstruktion nicht nur der Erzählung , auch des Erzählers!
Ich denke, die Sache wird zunehmend kompliziert, weil allein die Annahme einer leitenden Retrospektive nicht ausreicht. Das (auf sein Leben) zurückblickende, erinnernde Erzähler-Ich will vermutlich gar nicht individueller oder psychologischer Plausibilität (in den Augen der Leserschaft) genügen. (Sprünge, ja Widersprüche werden womöglich in Kauf genommen.) Das konstruierte Ich ...
Ergänzung zu 792:
In diesem Zusammenhang Rückblick auf die Szene der Mädchenschar an der Strandpromenade Balbec (in ‚Mädchenblüte’): Der Ich-Erzähler tut so, als würde er all die Eindrücke, die er ausbreitet, realiter wahrgenommen haben (können). Dargeboten wird aber, denke ich, eine Bildfolge wie am Schneidetisch zusammengestellt, in variabler Nah- und Fernsicht und mit zahlreichen Überblendungen. Das Ich suggeriert eine unmittelbare Subjektivität der Perspektive. Es ist aber eher das Ich eines Fotografen, der die Möglichkeiten seiner Technik, seines Seh-/Aufnahmeapparats nachträglich nutzt und die gewünschte Folge der Einstellungen dann zusammenstellt. Mit Imaginationen des Wünschens/Begehrens/’Besitzens’ wird die Bildfolge (psychologisch) aufgeladen. Am Ende der Passage erklärt sich der Erzähler zufrieden mit seiner Auswahl/Komposition der „in taufrischen Exemplaren vertretenen Blüten“ – er konstatiert die/(seine) „Genugtuung eines Botanikers“.
das auf dem Vorverständnis des Erzählers (und des Lesers) beruht, auf die Erzählebene übertragen werden. Das ist ein Vorgriff; aber Proust verfährt in der gesamten Recherche so. Da man beim Hören auf das gegenwärtig Erzählte fokussiert ist, bemerkt man nicht, dass vielleicht gerade jetzt etwas als raffinierte Spiegelung vorweggenommen wird, das erst viele Kapitel später als solche erkannt werden kann. Als Leser muss man eigentlich ständig zurückblättern und schon Gehörtes „neu“ lesen, um auf solche Entsprechungen aufmerksam zu werden.
...an der Vivonne zu einem…
undurchsichtigen Abgrund, oben und unten lassen sich in diesem gespiegelten „Bildausschnitt“ nicht mehr unterscheiden. Kennzeichnend für solche Erlebnisse –z.B. Blicke aus dem Fenster im Zug nach Balbec(v o r der Begegnung mit Elstir),Spiegelungen auf den verglasten Regalen im Hotelzimmer- ist die Wahrnehmung von Fragmenten (auch akustischen), die im Bewusstsein neu zusammengesetzt werden. Dabei wird gleichzeitig die „Denkbewegung“ nachgezeichnet, die nicht linear verläuft. Die Entdeckung des „neuen“ Autors markiert den Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf der Bruch mit dem Gewohnten immer verstörender, immer schockierender wird, weil die Orientierungspunkte selbst zunehmend fragwürdig werden. Darin kann man eine Vorausschau auf künftige Geschehnisse (Sodom und Gomorra) sehen, wo die sich steigernden Schockwirkungen, die aus dem Bruch mit allem Gewohnten und zu Erwartenden entstehen,…
Noch zu 786: ich habe mich gefreut, dass jemand den Blick wieder auf die Perspektivverschiebungen in der Recherche lenkt. Der „neue“,offenbar ziemlich revolutionäre Autor, der in Denken und Wahrnehmung des Erzählers Bergottes Werke ablösen wird, bricht in seiner literarischen Komposition semantische Regeln, die seinen Text zunächst absurd scheinen lassen. In einem literarischen Text wird ein solcher bewusster Bruch besonders sinnfällig; das Phänomen selbst hat Proust schon häufiger vorgeführt. Mir sind in diesem Zusammenhang vor allem die direkten und indirekten Beschreibungen von Werken der Malerei aufgefallen.Proust „beschreibt“ sie nicht, er ahmt sie in Sprache nach, symbolistisch, impressionistisch, surreal, à la Whistler, Turner… Das gilt nicht nur für die Beschreibungen der Werke Elstirs und die nachfolgenden gravierenden Wahrnehmungsverschiebungen des Erzählers. Durch die umgebende Waldlandschaft wird z.B. der Himmel auf der Wasseroberfläche der Seerosenbecken ...
Angeregt durch Ihren Kommentar (786), Herr Eckhardt, habe ich die Beobachtung gemacht, dass der Erzähler (hochsensitiv wie immer) in den Passagen des beschreibenden Erzählens - abgesehen von vielen Beispielen einer Personifikation von Dingen etc. - zeitweilig wie ein Medium wirkt, unpersönlich, wie eine Kamera, wie ein Erzähl’apparat’ ausgestattet mit einem (panästhetischen) Sensorium. Also nicht nur inhaltsbezogen ‚dokumentarisch’, sondern auch optisch-sensorisch. Wahrnehmung dabei aber mit Imagination im Wechselspiel, mit fließenden Übergängen, sich überlagernd/durchdringend (‚osmotisch’). Auffällig auch das Auswählen von Sinneseindrücken (Bildern, Tönen, Geräuschen, Gerüchen), herausgegriffen aus einem Kontinuum, parzelliert und montiert zu neuen Einheiten; gerade auch im Dienst der Vergleiche (‚wie’-Sequenzen). >> Ständiger Wechsel der ‚Einstellungen’ auf ‚die Welt’. Erzählen nach der Methode Elstir. Changierend zwischen Impression, Konstruktion, Surrealem.
...
Anmerkung: die Eigenliebe als ‚Schlüssel’ im Auge behalten – als Motor/Motivator, Energiequelle und Bildgeber ...
Dem Erzähler scheint seine Macht über die Bilder das Wichtigste zu sein! Daher das ästhetisierende Reden über sein Begehren, wenn er über die Erwartung sexuellen „Vergnügens“ die „Wiederbegegnung mit lauter schönheitsgetränkten Bildern“ stellt und wenn er auf seiner Skala des „Vergnügens“ (Küssen) die Möglichkeit über der Wirklichkeit rangieren lässt. Befriedigt registriert er, dass das Leben ihm „immer wieder andere optische Instrumente“ zum „Sehen“ geliefert habe. Eingestreut Reflexionsinseln zu moderner Kunst (Schriftstellerei, Photographie, Malerei). Dominant aber das Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung: die Überlegenheit des bilderseligen Wünschens gegenüber bloß körperlichem Verlangen (ideologische Konstruktion eines höherwertigen ‚Überbaus’ des banalen Trieberlebens), nicht zuletzt zum Zweck der Etablierung von ‚Überlegenheit’ - des Erzählers, insbesondere gegenüber den Frauen (Körper u. Intellekt). -
... ihn Albertine. Es folgt (37f.) eine Inszenierung des „Küssens“ zwecks sexueller (Selbst-)Befriedigung, allerdings mit reflektierendem ‚Überbau’; zunächst Ingangsetzung eines Bilder-Spiels der Erinnerung, bevor sich der Erzähler in eine Haltung hineinsteigert, die man als gekünstelt-geistreiches Aufgeilen bezeichnen könnte - Stil frühreife Altherrenmanier (passend dazu seine Sehnsucht: „Frauensammlung“). Ein von purer (?) Eigenliebe bestimmtes ‚Frauenbild’ schlägt durch. Ich konstatiere, dass das (Leit-)Motiv des Kusses, insbesondere die „Überempfindlichkeit“ (siehe Sterben der Großmutter) hier ins Billige (tendenziell pornographisch) gewendet worden ist - gewollte Ego-Entblößung? Auffällig jedenfalls die wiederholte Betonung des Besitzen-Wollens (des weiblichen Körpers, der Frau) und das Hohelied des genussreiche(re)n Besitzes von Wunschvorstellungen und einem „Gefilde der Erinnerungen“. Ohne das die Lust weniger als die Hälfe wert. ...
Ich wollte mir mit meinem Kommentar zum Auftakt des Zweiten Kapitels (Lesung 36-38) etwas Zeit lassen, denn ein neues, stärkeres Unbehagen kündigte sich bei mir an.
Also vorweg: Seien wir auf der Hut, uns vom Proust-Sound vereinnahmen zu lassen ...
> (36f.) Erster Eindruck: nach der Passage zum Tod der Großmutter ein sehr scharfer Schnitt; keine Trauer. Das Ich findet wie selbstverständlich zurück zu seiner Egozentrik. Sein Erzählen wird ungebremst bestimmt von erotischem Begehren; Wünschen, Reflexion und Imagination gewinnen sofort Dynamik, das Erzählen setzt aufs neue an zu einer mäandernden Bewegung, die Vergangenes aufsaugt und mit sich trägt:
Mit dem „Wetterwechsel“ erlebt der Erzähler eine „Neuerschaffung von Welt und uns selbst“, fühlt in sich Kraft und Lust, da Wünschen und Handeln nicht mehr durch „zentrifugale“ Impulse abgelenkt seien, also: Adam sucht Eva. Anlass die Aussicht auf den ‚Besitz’ von Frau de Stermaria. In der Wartezeit besucht ...
Ich werde morgen meinen Kommentar zu den aktuellen Folgen der Lesung abgeben - betr. den Übergang vom Sterben der Großmutter zu dem, was im 'Zweiten Kapitel' (Guermantes)zu Beginn erzählt wird.
Die Scheite verschieben sich: Prousts Modernität – das ist eine neue Weise von Erfahrung und Wahrnehmung. Irritiert ist er selbst vom neuen Schriftsteller, der „die Dinge auf ganz andere Weise zueinander in Beziehung“ setzt, bis dass er die Perspektiven umdreht. Die Dinge selbst blicken rätselhaft auf uns: „Die Wasserschläuche bewunderten die Unterhaltung der Straßen, die alle fünf Minuten von Briand und Claudel ausgingen.“ Verschiebung, Verrückung, Faltung: Das sind die Prinzipien des surrealistischen Wahrnehmungs- und Visionstrips, den wir vom Zauberzimmer Saint-Loups kennen: „Das Ticktack wechselte ...fortwährend den Platz,...kochende Milch...hebt sich schräg in die Höhe,...der Rahm faltig aufgeworfen,...von der milchigen Springflut überschüttet,...lautloses Weiterrücken von Gegenständen, [die] Feuer fangen an sich selbst...“ – und vom zweiten Zauberreich, dem Hotel, diesem „System von Räumen, die alle die Wirklichkeit von Personen besaßen“...
Bin raus, muss mich um meine Frau kümmern...
... Höhepunkt der Formulierungen: beim letzten Kuss des Erzählers – Assoziation mit dem Gutenachtkuss der Mutter – die Formel einer vielleicht existierenden „Überempfindlichkeit“ des zärtlichen Gefühls, den Sinnen überlegen und deshalb sogar „durch den Schleier der Unbewußtheit“ hindurch das Geliebte erkennend, liebend. –
Bemerkungen zum Übergang >> Zweites Kapitel später.
Lesung der Woche: Sterben der Großmutter
Tief berührende, großartige Beschreibung, Zärtlichkeit des Nachvollzug des stufenweisen inneren Versinkens und Aufbäumens des Lebens/der Sterbenden (erzählt in der Beimischung von Physiologie, Psychologie und Medizin), Verstummen, Versteinern des Dialogs, Flucht der Bilder des Antlitzes der Großmutter: Metamorphose wie zurück zur Materie (dazu analog die Vergleiche zur Kunst: Porträt, Zeichnung, Skultpur), am Ende Paradox der Neubelebung und Verjüngung durch den ‚Bildhauer Tod’. Trauer von Mutter und Sohn; Rahmung durch scharfe Kontraste: Defilee der Ärzte fast wie eine Buffo-Szene; ein Priester-Inquisitor, der Herzog als selbstverliebter Zeremonienherr, die mit dem Tod bäuerlich-vertraute Françoise, herrisch und bestrebt, ihre Erschütterung zu verbergen (sie darf das unmittelbare Sterberitual beschließen: die Haare der Toten kämmen). Für mich ein ...
Danke, Frau Windeck, alles ganz in meinem Sinne.
Wenn ich zitiere oder mich eng auf die eine oder andere Passage beziehe (v.a. letzte Woche auf die umfangreiche Salon-Szene), will ich durchaus den Proust-Text beim Wort nehmen. 'Ausschöpfen' ist ein anspruchsvolles Wort, da assoziiert jeder Leser (und Gesprächspartner im Forum) je nach eigenem Horizont, also Wissen, Werten, (Lebens-)Erfahrung usw.
Insofern würde ich mir mehr konkrete Anmerkungen/Austausch zum (Inhalt des) Erzählten wünschen.
Für Sie und Herrn Stellmann scheint mir das insofern mit einer komplizierten Rolle verknüpft zu sein, als der jeweilige Stand der Lesung den Rahmen abgeben und niemand 'spoilern' soll. -
Und ach, Ihr zorniger Stoßseufzer, Herr Stellmann - wenn wir mit Bezug auf den Text einander mitteilen, worin wir Großartiges oder auch Problematisches im Werk sehen oder was uns/mich rüttelt, irritiert, aufschreckt (wenn ich mich selbst erkenne), dann sind wir doch auf einem guten Weg auch zum Begreifen.
Von Anfang an habe ich in meinen Kommentaren dafür plädiert, Proust „beim Wort zu nehmen“ und den Text so weit wie möglich auszuschöpfen, bevor wir von außen etwas an ihn herantragen (oder hineinlegen – was sich ohnehin nicht vermeiden lässt, denn auch beim Leser ist „Objektivität“ letztlich eine Fiktion). Es gibt nur verschiedene Grade der Bemühung um sie; aus Respekt und aus Gründen der Fairness gegenüber Werk und Autor sollte das Level in meinen Augen ziemlich hoch liegen.
„Im Schatten…“. Wegen meiner frz Ausgabe kann ich keine Seitenzahl angeben; der Erzähler verbringt Zeit mit den Mädchen und denkt über Veränderung und Vergänglichkeit nach. Er stellt sich die Mütter der Mädchen vor. Die folgende längere Passage enthält alle Zitate meines Beitrags. Proust gibt in der Recherche immer wieder solche Erläuterungen, ohne die man sein Werk nicht verstehen kann. Sie sind ein integraler Teil der Recherche, den wir nicht ignorieren können und dürfen. Bevor wir als Leser mit Ablehnung oder Zustimmung reagieren, müssen wir m.E. versuchen, seine Gedan- kengänge im einzelnen nachzuvollziehen, selbst wenn wir seine Anschauungen und Schlussfolgerun-gen keineswegs teilen.
Lieber Herr Reimann, lesen Sie meine Kommentare bitte nicht als Angriff oder Vorwurf, denn so sind sie wirklich nicht gemeint. Ich unterstelle gar nicht, Sie seien in die ‚Sainte-Beuve-Falle‘ getappt. Aber die Versuchung ist bei Proust größer als bei anderen Autoren, daher schien der Hinweis auf seine eigenen Äußerungen zum Thema an dieser Stelle nützlich. Man kann sie im Hinterkopf behalten, auch wenn sich später zeigen sollte, dass die geforderte strikte Trennung nicht immer einzuhalten ist. –Endlich glaube ich verstanden zu haben, was Sie mit „Verschanzung“ meinen. Der Erzähler ergreift nicht Partei und beobachtet so unbeteiligt wie möglich „von außen“, obwohl er Reflexionen anschließt. Diese Haltung ist wohl genau das, was Proust unter seiner „Objektivität“ versteht, auf die er in dem zitierten Brief nicht ohne Stolz hinweist.- Das „Kryptogramm“ ist ein wörtliches Zitat aus…
ohne etwas von sich preiszugeben.
Welch ein Irrsinn, ein Kunstwerk begreifen zu wollen...
mein Gott... Die Gewalt der Hermeneutiker...
... seiner Roman-Aussage auf verschiedene ‚Personen’, darunter (nicht nur!) den Erzähler. Ich glaube nicht mich zu täuschen, dass ein wichtiges Thema des Romans das Problem der jüdischen Assimilation in Frankreich im frühen 20. Jh. ist. Ich habe den Roman keine Sekunde lang als antisemitisch gelesen. - Bei Charlus kommt noch hinzu, dass der Erzähler an ihm eine Redeweise ähnlich der Swanns ausmacht. (Mir fällt das hier lediglich auf, den Combray-Teil habe ich zu ‚grün’ verfolgt, als dass ich Swann charakterisieren/’einordnen’ könnte ...) Vom Autor Proust auf das Werk ‚zu schließen’ war nicht meine Absicht, wohl aber die Momente aufzugreifen und zu verknüpfen, die das Werk selber bietet, unter Kenntnis der engen Beziehung des Autors zum Judentum. Meine Telegramm-Thesen (z.B. Abwehr des Selbsthasses) biete ich zur Diskussion an.
... der ‚Verschanzung’ des Erzählers, das dann im Spiegelkabinett des Séparée eine Wendung erfuhr. Mir scheint solches Arbeiten mit kalkulierten Leerstellen durchaus ein Zug der „Recherche“ zu sein ... Ist nicht der Erzähler im Verlauf des Romans ‚nie fertig’ ? ... –
In Nr. 765 verwendete ich das Wort ‚Selbsthass’. Der engere Kontext war Charlus mit seinen antijüdischen Ausfällen, worin ich eine Überzeichnung, die Facette einer Karikatur etwa, gesehen habe, wohlgemerkt in Richtung Abwehr des Selbsthasses (als Roman-Aussage), nicht des Selbsthaders eo ipso, d.h. auch mit Distanz zu Bloch. Der Autor verteilt die Momente ...
... die Rehabilitierung Dreyfus’, weil er (in Distanz zur ‚Ostjuden-Schar’) für die Gleichberechtigung der Juden in Frankreich kämpft, - so auch im Salon Villeparisis. Wie aber ist das Verhältnis Erzähler - Bloch in der Salon-Szene gestaltet? Der E. verfolgt alle Gespräche und vornehmlich Bloch sehr genau, zeichnet ihn als Tölpel usw., lässt ihn (wie schon gesagt) sich abstrampeln in dieser Schlangengrube feiner Leute, deren Rede durchsetzt ist auch von Antisemitismen in je unterschiedlicher Schattierung. Nur, der E. selbst hält sich raus, bedeckt, ‚dokumentiert’ bloß - warum? Aus ‚Objektivität’? Der so minutiös beobachtet und selbst immer wieder den Katalysator Dreyfus ins Spiel bringt, lässt offen, ob er ‚berührt’ ist?
Eben diese Leerstelle (scheinbar Indifferenz) ist für mich ein Indiz für ‚Verschanzung’. Das muss ja nicht so bleiben – alle derartigen Einschätzungen sind wie gesagt vorläufige. Es gab das Doncières-Beispiel ...
Beginnen wir mit Bloch: Balbec, Strandspaziergang des Erzählers mit Saint-Loup, plötzlich sind aus einem Zelt laute „Verwünschungen gegen die Judeninvasion“ zu hören. Der Erzähler fragt sich, wer dieser „Antisemit“ wohl sei; es entpuppt sich - „mein Kamerad Bloch“. Es folgen Bemerkungen des Erzählers zur „jüdischen Kolonie“ im Seebad. „Es war in Balbec wie in gewissen Ländern, Rußland oder Rumänien zum Beispiel, wo die jüdische Bevölkerung, wie man in Erdkundebüchern (sic! – MR) liest, weniger begünstigt und schlechter assimiliert ist als etwa in Paris.“
Ich denke, man kann hier an/durch Bloch ein Stück jüdischen Selbsthader ausgesprochen finden, eine innere Ambivalenz und mehrschichtige Kritik am Judentum.
Dass die jüdische Assimilierung in Frankreich unsicher und gefährdet ist, bringt dann die Dreyfus-Affäre ans Licht. Bloch streitet offenbar für ...
Bin ich wirklich in die Sainte-Beuve-Falle getappt, Frau Windeck ? Ich glaube nicht.
Und zu den Schlagworten 'Verschanzung' und 'Selbsthass' will ich auch gern meine Karten offenlegen, brauche dazu aber noch ein paar Stunden Zeit. Ich habe mir jetzt einige Bände der "Recherche" besorgt, um nachschlagen zu können.
Also bitte noch etwas Geduld - ich werde meine Punkte klarzumachen versuchen. -
Übrigens, Ihre Erläuterung zum Proust'schen 'Kryptogramm' diente selbstverständlich als Orientierungshilfe, war aber
(mein Eindruck) auch so gemeint, dass wir sie zur Deutung des Werks heranziehen können/dürfen ?
… das in der Öffentlichkeit agierende „soziale Ich“ und das „private Ich“ müsse bei der Beurteilung strikt unterschieden werden von dem „Ich“, das den schöpferischen Grund des Werkes ausmacht. Auf dieser Trennung besteht Proust; zu Recht, wie ich finde. Für den Leser können biographische Fakten eine zusätzliche Informationsquelle und Orientierungshilfe sein; sie für die Deutung des Werks heranzuziehen, halte ich für mehr als problematisch.
Wie immer finde ich Anregendes in Ihren Kommentaren. Hinweise auf ein „Verschanzen“ des Erzählers kann ich im Text allerdings weiterhin nicht ausmachen. Auch sehe ich weder im Text noch zwischen den Zeilen Anzeichen für mutmaßlichen Selbsthass beim Erzähler, beim Autor oder einer Romanfigur. In diesem Zusammenhang ist Folgendes vielleicht von Interesse: Prousts Romanprojekt entstand aus seinem Aufsatz „Contre Sainte-Beuve“, in dem er die Methode des in Frankreich bekannten und einflussreichen Literaturkritikers scharf angriff. Er wirft ihm vor, bei der Beurteilung von Literatur nicht vom Werk, sondern von der Biographie des Autors auszugehen. Ebenso entschieden wendet er sich gegen Rückschlüsse vom Werk auf die Psychologie des Verfassers. Die Äußerungen von Mme de Villeparisis in Balbec zu Chateaubriand, Balzac etc. sind eine Parodie der „Methode Sainte-Beuve“. Proust fordert,…
Sie werden es schon ohne mich schaffen...grins. Aber ich habe wirklich keine Lust mehr, nicht direkt im Forum schreiben zu können, ohne dass es Probleme mit dem Hochladen gibt, oder Texte erst in Word zu schreiben, um sie dann hier einzukopieren und selbst das hat heute früh mal wieder nicht geklappt ...und es ist egal, ob ich am Rechner oder schreibe.
Sehen Sie es mir also bitte nach... Mit kurzen Einwürfen werde ich mich wahrscheinlich noch melden...
Ach-Mensch-Herr-Stellmann ! Wirklich ?
Jetzt, wo sich die Proust'schen Sachen immer komplexer darbieten ...
Hapert es wirklich so grundsätzlich, dass Technik entscheiden soll ?
Dem Forum - und mir als immer noch Newcomer - wird ganz bestimmt jede Ihrer Anregungen fehlen (schreibe ich hin auch als Egoist, der proftieren möchte).
Steigen Sie bitte bald wieder ein, ja ..........
und DANKE für bisher
Ich habe keine Lust mehr. Das liegt nicht am Forum, sondern an den technischen Unzulänglichkeiten, die seit Monaten moniert, aber nicht behoben werden....sorry
Nachtrag zu Nr. 765
Die ‚Zärtlichkeit des Zoologen’ würde zu dem o.g. (anthropologischen) Entwurf passen, allerdings nicht nur beschränkt auf das Frauenbild ...
- so gesehen, Zustimmung, Herr Stellmann (vgl. Ihre Nr. 721: „... Prousts Interesse am Menschen ist eher zoologischer Natur. Vielleicht also die Zärtlichkeit des Zoologen...“) –
Trotzdem ein Dennoch meinerseits auch hier: Mein Lektüregefühl sagt mir, das ist nicht das vollständige ‚Interesse am Menschen’, dazu scheint mir Prousts Schreiben zu sehr aus Leid und Lust geschöpft zu sein ...
... Für mich (meine ‚Lesart’) folgt heute daraus, dass Proust (selber stets krank und – wie ich seit kurzem weiß – mütterlicherseits aus jüdischer Familie in Frankeich) nicht zufällig gerade den Bloch und den Swann (und Rahel?) so gestaltet hat, wie wir sie vorfinden. Er ist augenscheinlich selbst ihnen nahe (wie ich schon zum Verhältnis Erzähler-Bloch vermutet/angemerkt hatte). Und auch die zynisch-derben antijüdischen Ausfälle des Charlus sind offenbar gezielt der Gesamt-Karikatur des Juden (Abwehr des Selbsthasses) beigefügt worden. Ohnehin versteht man jetzt besser die schon oft beobachteten ‚Verschanzungen’ oder ‚Wir-Fluchtburgen’ des Erzählers. Alles in allem wohl eine fatalistische Anthropologie, die einhergeht mit einer ästhetisch sublimierten (auch politisch-nervösen) Künstler-Existenz aus Erbe-Vermögen/ohne Arbeitszwang.
Herzlichen Dank, Frau Windeck, für diese Erläuterungen zum Kontext, zu unser aller ‚Kryptogramm’ nach Prousts Anschauung/Überzeugung/Glaube (?). Genau das findet sich, denke ich, in der gesamten, minutiös durchkomponierten Salon-Szene einschließlich der Übergänge zu Charlus und zur (tödlichen) Krankheit der Großmutter.
Dennoch: Nicht ‚Anstoß’, sondern eine markante Auffälligkeit hat mich die Passagen zum Antisemitismus und zu Bloch genauer lesen/hören lassen. Dass der Erzähler Auffassungen kundtut über ein ur-ehernes, alles Geistig-Individuelle letztlich steuerndes und bis in den Tod überlebendes ‚Gesetz’ (auch: Leben = Krankheit) und dass er insbesondere das Jüdische/Jude-Sein als unabänderliches gesellschaftlich-zivilisatorisches Fatum (samt dem Anti-!) - also wohl auch die Vergeblichkeit jüdischer Assimilation - in seinen Beschreibungen und Reflexionen indirekt postuliert – diesen Eindruck vermitteln mir die gelesenen Passagen.
...
… Antriebskräften wird jeder Mensch gesteuert, ein Literat jüdischer Abstammung nicht weniger als ein judenfeindlicher Kleinbürger. Als Leserin kann ich diese Anschauungen für abwegig halten, aber ich muss sie zur Kenntnis nehmen und in das eigene Urteil einbeziehen. Die ausufernden Beschreibungen der Angehörigen des Hochadels dienen (unter anderem) der Illustration dieses Proustschen „Grundaxioms“ von den inneren Gesetzmäßigkeiten, denen der Einzelne unbewusst folgt und sie so „verwirklicht“. Dass wir heute vor allem an der Beschreibung Blochs Anstoß nehmen, ist mehr als verständlich; trotzdem denke ich, wir sollten auch diese Figur im oben skizzierten Kontext betrachten.
In „Im Schatten…“ hat Proust an verschiedenen Stellen seine Überzeugung dargelegt, dass jeder Mensch ein dem eigenen Leben weit vorausliegendes Leben hat („vie anterieure“), nach dessen unabänderlichen Gesetzen er denkt, lebt, sich verändert und entwickelt. Bei seiner Geburt trägt er schon genau die Krankheit in sich, an der er sterben wird. Seine Physiognomie ist festgelegt samt ihren Veränderungen im Laufe des Lebens, und sein Geist enthält wie ein Kryptogramm bestimmte Denkweisen, die unabhängig von ihm sind und älter als er selbst. Obwohl wir glauben, frei zu wählen und zu entscheiden, werden unsere Entschlüsse und Handlungen stets (mit)bestimmt von diesem „inneren Gesetz“, das sich immer durchsetzen wird, selbst wenn unsere bewussten, individuellen Überzeugungen und Absichten dagegen stehen. Von diesen ihm selbst unbewussten…
Immer kryptischer ...?
Zitate Folge 31: „Bloch glaubte auf logischem Wege zu seiner Parteinahme für Dreyfus gekommen zu sein und wusste doch, dass seine Nase, sein Haar und seine Haut ihm durch seine Rasse auferlegt waren. Die Vernunft ist zwar freier. Dennoch gehorcht auch sie Gesetzen, die sie sich nicht selbst gegeben hat.“ – „Aber Mitleid von unserm Körper zu verlangen, ist, als wollten wir mit einem Tintenfisch ein Gespräch eröffnen.“ – „Meine Großmutter verspürte in ihrem Körper die Gegenwart einer Wesenheit, die den menschlichen Leib besser kannte als sie (...), eines Ureinwohners aus einem Zeitalter vor der Erschaffung des denkenden Menschen. (...) Kampf zwischen prähistorischen Wesen (...) das Fieber von dem mächtigen chemischen Element überwunden, dem meine Großmutter durch die Naturreiche hindurch über die Herrschaft der Tiere und Pflanzen hinweg gern gedankt haben würde.“
Es wird immer kryptischer.....lach
Bon anniversaire, M Proust!
Hallo Herr Werckmeister, ich vermisse Ihre Zusammenfassungen und Interpretationen. Vielleicht machen Sie ja nur Urlaub..... Ich freue mich, wenn Sie wieder dabei sind.
... den gesellschaftlich Elitär-Unabhängigen gibt, äußert freimütig-brutal seinen (speziellen?) Anti-Juda-Semitismus, bevor er dem (jungen) Erzähler das persönliche ‚Katechumenat’ anträgt. Der Erzähler wiederum ‚verwurzelt’ ‚Vernunft’ im Ewig-Körperlichen: Anwendung zunächst auf Bloch als proDreyfus-Juden von Nase, Haut und Haar; dann - im Übergang zur Großmutter-Erkrankung – eine neue ‚Generalformel’: das aussichtslose „Gespräch mit dem Tintenfisch“ ...
Sind das Chiffren für ‚Prousts Objektivität’ ?
Anmerkung zu den Folgen der Woche:
Prousts Cliffhanger-Technik: Erzähler > Mme Guermantes: (Paris), Intermezzo Doncières (Saint-Loup, Rahel-Zézette), Salon Villeparisis: Einblicke in die Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain etc.: Karussell von Dünkel§Ressentiment plus Antisemitismus*, sog. Diplomatie.
offen/cliffh. Beziehung zur Herzogin; Platzhirsche Herzog, Norpois, Charlus; offen/cliffh.: Robert-Rahel;
betont offen/cliffh.: Charlus* !
>> Ritardando zur Großmutter (neuer ‚Nullpunkt’ der Erzählung?) –
*auch gerade Charlus, der ...
Danke für die ausführliche Antwort...
Das Expertentum, das Sie bei mir vermuten, ist noch sehr im Werden. Auf den Brief, den ich zitiert habe, stieß ich vor zwei Wochen. – Ich habe mit 20 „Un amour de Swann“ gelesen und fand es so öde, dass ich den Schluss gar nicht las. Heute mag ich keine halben Sachen mehr. Das Hörbuch kenne ich seit einigen Jahren; den Text lese ich jetzt zum ersten Mal. Schon bei „Combray“ war ich frappiert, was alles darin steckt, das mir beim Hören überhaupt nicht aufgefallen war. Ich kenne mich recht gut in Literatur und Kunst des 19./frühen 20.Jh aus (inklusive verschiedener persönlicher „Spezialgebiete“), was mir den Zugang zur Recherche erleichtert. Vorwiegend lese ich parallel zu den Hörfolgen. Der Austausch im Forum würde mir weniger Spaß machen, wenn ich alles schon vor Jahren durchdacht und ein Urteil im Hinterkopf hätte. Weitgehend „fertige“ Einschätzungen zu recyceln würde mich eher langweilen, glaube ich.
Die Frage nach Antisemitismus bei Proust bleibt heikel. In der „Recherche“ stellt er ihn stets als eingebettet in ein Bündel von Vorurteilen und Verhaltensweisen dar, die Merkmal bestimmter sozialer Schichten sind und meist unhinterfragt von den Eltern oder der langen Reihe ehrwürdiger Vorfahren übernommen werden; auch Ausnahmen werden beschrieben. Es liegt an uns als Leser, ob wir diese „objektive“ Darstellung als ein Anprangern verstehen. – Ich habe Zweifel, ob Proust mit dem Diktum, privates Handeln sei stets auch politisch, viel anzufangen gewusst hätte. Das sollte uns aber nicht hindern, die Recherche auch aus dieser Perspektive zu lesen.
So gewendet, nicht zu billig - OK. Proust präsentiert Diplomatensprache tatsächlich als höchst abgründig und offen für sprungbereite Gewalt. Und so ähnlich sehen Sie’s beim ’Feuerwehrball’. Bremse da gleichwohl, weil die gesellschaftliche Wucht, denke ich, zur ‚Wucht’ erst wird, wenn von Instanzen der realen Macht lizensiert (und manipuliert/ ggf. inkl. Anlass). D’accord aber, dass die Latenzen überhaupt nicht von Pappe sind.
In Norpois offenbart sich ein Proustscher Konflikt: Diplomatie oder Klartext... Der war nicht auflösbar, aber bis an die persönlichen und gesellschaftlichen Grenzen vorangetrieben...
Danke für die wichtigen Hinweise.... Ich selbst habe die Recherche nie als "antisemitisch" gelesen. Gleichwohl war mir die Haltung des Erzählers zum Judentum stets etwas rätselhaft-verwischtes wie dessen Einstellung zur Homosexualität..., Aber diese Rätselhaftigkeit ist wohl in Proust selbst begründet...
By the way: Was Sie alles gelesen haben...!!! Keine Proust-Spezialistin? Sie stellen bisweilen ihr Licht unter den Scheffel..kann das sein?
Auf den "Feuerwehrball" bestehe ich (grins). Es bedarf mitunter nur eines bestimmten, durchschlagenden Anlasses, gleich wie wahr oder unwahr er sein mag, um Latenzen und Ressentiments zu einer gesellschaftlichen Wucht zu verhelfen.... Und ja, die Recherche ist auch politisch, weil das "Private" eben auch immer politisch ist, das ist Proust wohl bewusst gewesen...
ich weiß nicht, ob ich Norpois zu billig davon kommen lasse.... der Merkur-Hinweis ist mir nicht entgangen, allerdings denke ich dabei eher an seinen griechischen Namen. Norpois ist für mich eine "hermetische Persönlichkeit", (keine Ahnung, ob es diesen Begriff gibt, - jetzt gibt es ihn), soll sagen, man erkennt bei ihm noch weniger als bei anderen, was wirklich in ihm vorgeht, welche Absichten ihn treiben etc. Prädestiniert ihn seine Persönlichkeit zum Diplomaten oder ist der Diplomat zu seiner Persönlichkeit, zur "zweiten Natur" geworden? Die Proustsche Persönlichkeits-Hermeneutik (sic!) hat hier etwas zu knacken.... Daher wohl auch der kurze, intensive Ausflug in die Feinheiten der Diplomatensprache, die auch einer eigenen Hermeneutik bedarf...
Man kann darüber streiten, ob es nützlich ist zu wissen, was der Autor über sein Werk denkt. Mitunter entspricht der Eindruck des Lesers durchaus nicht den Ansichten und Absichten des Autors. Proust meinte, „Die Welt der Guermantes“ könnte als ‚anti-dreyfus‘ missverstanden werden. Dies rühre daher, schreibt er in einem Brief, dass er als Autor in diesem Roman „absolut objektiv“ sei. (Problematik und Fragwürdigkeit der „absoluten Objektivität“ werden an dieser Stelle nicht thematisiert.) Im selben Brief bezeichnet er sich als „Dreyfusard“ der ersten Stunde. Er gehörte zum Kreis der Intellektuellen, die eine Revision des Prozesses gegen D. forderten. Sein Roman „Jean Santeuil“ enthält einen ausführlichen Bericht über den Prozess gegen Zola, an dem Proust als Augenzeuge teilnahm. Ob und wieweit diese Fakten für die Lesung von Belang sind, bleibt abzuwarten.
... schneidet anders ein als Feuerwehrball-u.ä.-Mechanismen ...
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Heute, Folge 28 (immer noch Salon V.), um Mme Swann herum eine neue intensive Drehung des Kaleidoskops von Intrige&Indiskretion, der Erzähler jetzt Beobachter und Involvierter zugleich, angedockt ein toller (selbst-)kritischer Bogen - gespannt vom homerischen Gelächter bis zur Röntgenaufnahme. -
Und offenbar ein weiterer Platzhirsch da, Charlus. Frage: Immer wieder der Hut – was soll ich mir dabei denken?
Ach, dieser Norpois, Herr Stellmann ... Kommt er nicht bei Ihnen als bloß Wendehals zu billig davon? Gesellschaftl. Sphären vermitteln heißt keineswegs Mediator sein, selbstverständlich ist er gewissen- und standpunktloser Strippenzieher, klar. Und: seine ‚Diplomatie’ hat die Kriegssachen durchaus im Blick! (s. Folge 27)
Proust (der Erzähler?) streut immer wieder Hinweise ein auf die im ‚Hintergrund’ schwebende Kriegsgefahr der Zeit (vor WK I)? Das ist so ernst, denke ich, dass lediglich Wendehals-Standpunktlosigkeit zu kurz greifen würde. Der Klassiker unter den Merkur-Aktionen ist übrigens die Beihilfe zum Trojanischen Krieg,Urteil des Paris. (Die „Recherche“ scheint mir inzwischen politischer zu sein, als ich zuerst dachte!) – Ja, auch Antisemitismus ...
Bloch - einverstanden ! Er kann machen, was er will, das Urteil ist gefällt! Analog zu Dreyfuss...
Norpois ist das Muster eines Denkens, das sich aufgegeben hat...
Ach, ja (seufz)...dieser Norpois....! Nicht Fisch, nicht Fleisch, kein erkennbarer (!) Standpunkt mit Ausnahme der jeweils gültigen Staatsräson, aalglatt windet und wendet er sich, scheinbar (!!) ohne jedes eigenes Interesse ... Und dennoch wird sichtbar: Diplomatie ist die höchste, verfeinerte Form des Intriganten-Stadels. Wer keinen Standpunkt hat, kann jeden Standpunkt einnehmen. So überlebt er von einer Regierung zur anderen. Vermittler? – Nein!!!!... Strippenzieher, Unterholzpoltiker? – Ja!!!! — Man muss nicht die Götterwelt bemühen, um einen Wendehals zu charakterisieren....
Und noch einmal... Proust liefert zwar eine Soziologie des Faubourg St. Germain... Und doch: Auf jedem Feuerwehrball (anders: in jedem sozialen Zusammenhang)ließen sich die gleichen personellen, psychologischen, kommunikativen Strukturen und ihre kaleidoskophaften Verschiebungen aufzeigen.
... nicht nur; er beobachtet gerade Bloch aufs genaueste als hilflos zappelndes Opfer und verschanzt sich gegen jede erkennbare Empathie. Das ist, denke ich, eine starke Lektion für uns Leser. Wird hier nicht eine innere unbequeme Wahrheit des Erzählers gestaltet, die Ahnung, das ‚Fremde’ könnte in ihm selber sein, wie Sie schreiben? –
Übrigens, die andere für mich interessante Figur in der Salon-Szene ist der quecksilbrige de Norpois geworden, ein Merkur-Typ (‚Botschafter’!), versiert in Karriere- und Kriegssachen, in Beziehungschosen aller Art. Er vermittelt auch die gesellschaftlichen Sphären, wofür überhaupt dieser Salon (Kontaktfeld Adel/Bourgoisie mit Auf- u. Abstiegen usw.) zu stehen scheint.
In der Tat, Herr Stellmann, die Salon-Szene ist virtuos komponiert. Es tun sich die uns heute sattsam bekannten (sozial-)psychologischen Abgründe auf, die Sie treffend charakterisieren. In meinen Augen hat Proust das Verdienst, dass er den Antisemitismus ungeschminkt zur Sprache bringt. Ich finde indes, er ist nicht „Beispiel“ für die allfälligen Ressentiments, sondern selbst perfider Kern. Je länger ich über die Salon-Szene nachdenke, desto überzeugender erscheint mir die Proust’sche Entscheidung, den Juden Bloch in diese Schlangengrube zu schicken und ihn ‚unmöglich’ aussehen zu lassen. Insofern „dokumentiert“ der Erzähler ...
Alles klar!
Und jetzt hau ich noch einen raus: Abwehrhaltung gegen Proust, ist Abwehrhaltung gegen sich..lach
Zu den Lesungen der vergangenen Woche: Bei allem Respekt vor der Blüten- und der Himmel-verläuft-sich-im-Meer –Poesie Prousts – diese literarische Transformation eines Salon-Gesprächs empfinde ich als Meisterwerk der Beschreibung gleichwohl individueller wie gesellschaftlicher Ressentiments am Beispiel des (leider immer noch aktuellen) Antisemitismus. Der Erzähler nimmt sich dabei sehr zurück, er "dokumentiert" weitgehend unterschiedliche Arten, Mauern zu errichten, die psychologischer Natur sind. Das Grundgefühl dahinter: Angst, dass das Fremde im Anderen das Fremde in mir sein könnte: Also die Mauern hochziehen durch offene Gegnerschaft, durch scheinbare Schläfrigkeit, durch Opportunismus, durch undurchsichtige Abwehr, um am Ende auf der richtigen = Gewinnerseite zu stehen(!)...
Ich denke, Proust will keine Antworten geben, sondern uns verführen, andere Fragen zu stellen, die ein Denken ohne Geländer ( Ahrendt ) zulassen. Man muss manchmal weit weg, um nah zu sein...
Der Satz sollte Ihrer Interpretation, Herr Werckmeister, zustimmen, dass der Erzähler seinem spontanen Widerwillen gegen Mme de Guermantes ("dumme Person") nicht traut; er spürt, dass seine Empörung über ihr Unvermögen, Maeterelinck zu verstehen, wohl zu vorschnell die Angebetete verdammt hat; er 'will' der Enttäuschung nicht trauen (d.h. er hängt doch zu sehr an dem Bild. das er sich von ihr gemacht hat).
Also noch keine wirkliche Desillusionierung.
"Ich denke auch, dass der Erzähler dem Spontangefühl nicht traut oder trauen 'will'."
26. Folge.
Endlich gipfelt dii anwachsende antisemitischen Stimmung auf dem Empfang doch in einem persönlichen Affront gegen Bloch und wirkt sich auf das Verhalten der Marquise aus, die ihn beim Abschied, schneidend ignorieret. Irregeführt von der, diplomatisch vernebelten Unterhaltung mit dem Marquis de Norpois über die Dreyfus-Affäre, von dem er seine Parteinahme für Dreyfus respektiert zu sehen glaubte, äußert Bloch diese auch gegenüber einem anderen und erhält eine ausdrücklich antisemitische Abfuhr. Bis zu seinem Abschied bleibt ihm unklar, was ihm eigentlich zustößt. Gleich darauf tritt Mme. de Marsantes ein, deren minutiöse Charakterisierung Proust aus seinem Repertoire typischer Verhaltensformen des Hochadels und physiognomischen Vererbungsklischees zusammensetzt.
Welchen Satz (welche Aussage genau) meinen Sie, Herr Werckmeister?
Mir ist nicht ganz klar, was ich erläutern soll.
Den letzten Satz kann ich nicht nachvollziehen.
Ja, Herr Reimann, so gabe ich es demeint.
25. Folge.
Während im weiteren Verlauf des Empfangs bei Mme. de Villeparisis immer mehr antisemitische Äußerungen zur Dreyfus-Affäre laut werden, zieht Bloch seine Diskussion der Affäre mit M. de Norpois unbeirrt in die Länge, ohne dass dieser seiner Parteinahme für Dreyfus widerspricht, obwohl er ein extremer Gegner von Dreyfus und dessen Verteidigern ist. Hier liefert er ein Meisterstück seines diplomatischen Geschicks, selbst die kontroversesten Themen anzusprechen, ohne sich selbst auf ein Urteil festzulegen. Wichtiger noch ist, dass er Bloch persönlich nicht antisemitisch behandelt, wie überhaupt die überwiegend antisemitische Gesellschaft diesen in keiner Weise brüskiert. Ob das bis zum Ende des Empfangs so bleibt?
... Betonung des Ungehobelten, Forcierten (neo-homerisch!) im Streben Blochs nach Erfolg und Assimilation (dagegen in Richtung Saint-Loup wohl ein geheimes Streben nach Teilhabe, Zugehörigkeit zu ‚echtem Adel’).
Obgleich der Erzähler mit Bloch hart ins Gericht geht, steht er ihm doch nicht fern, so mein Eindruck, als ob er trotz aller faux pas mit dem Außenseiter insgeheim vieles teilt, aber das daran Jüdische wie hinter einem Paravent unbedingt auf Abstand halten will. Er bescheinigt Bloch einen selbstironischen Umgang mit seinem „Ursprung“ vom „Sinai“. (War, glaube ich, schon mal im Balbec-Kapitel eine Facette.)
Ob die Damen und Herren Villeparisis, Norpois, beide Guermantes, Argencourt, Marsantes usw. tratschen, finassieren oder debattieren, der Erzähler folgt minutiös ihrer Diktion, hellwach gerade auch die antisemitischen Andeutungen und Bekenntnisse registrierend. Er selbst kommt mit seinen Anliegen nicht zum Ziel, verwirrt sich sogar in seiner Haltung zur Herzogin, hält sich heraus oder bedeckt, lässt aber „meinen Freund“ Bloch sich abstrampeln und regelrecht dumm aussehen. So ähnlich ja auch sein Verhalten gegenüber Saint-Loup. Zum Vergleich aus meiner Sicht vielleicht später mehr. ... Ich spüre hier eine merkwürdige, intensiv zur Sprache gebrachte Distanz, vermutlich aus der Motivation, sich gegenüber Bloch abschirmen zu wollen - ein Sich-Abschirmen gegen das Jüdische durch ...
Wie soll ich dann die Passage verstehen, die unmittelbar auf den Ausruf „so eine dumme Person“ sowie auf die Wendung „möchte sie nicht mehr geschenkt“ folgt, in der u.a. über dieses Selbstgespräch des Erzählers steht: diese Worte „ das Gegenteil von meinen Gedanken“ und „Bedürfnis“ verspürt „mit uns selbst so unaufrichtig wie mit einem Fremden zu reden“ ?
Ich denke auch, dass der Erzähler dem Spontangefühl nicht traut oder trauen 'will'.
Lieber Herr Werckmeister, Ihren Beobachtungen zur Desillusionierung des Erzählers in Bezug auf Mme de Guermantes stimme ich zu. Nach meinem Eindruck sind es vor allem ihre ‚grenzenlos bornierten‘ Äußerungen zur Aufführung einer Szene aus Maeterlincks Theaterstück, die die Desillusionierung bewirken.
Ihre Formulierung ist so unwiderstehlich, dass ich gar nicht anders kann als spontan zuzustimmen und sie vorläufig einfach stehen zu lassen. Differenzierende Ergänzungen können, falls nötig, später vorgenommen werden.
24. Folge.
In den vielfachen Unterhaltungen auf dem Empfang der Marquise von Villeparisis sagt niemand, was er oder sie denkt, sondern alle suchen sich gesellschaftlich in Stellung zu bringen und ihr Prestige zu behaupten oder zu verbessern. Das krasseste Beispiel dieser allgemeinen verbalen Entfremdung ist das Gespräch zwischen Bloch und dem Marquis de Norpois über die Dreyfus-Affäre, dass der letztere so diplomatisch führt, dass ihre dezidiert antagonistischen Parteinahmen nicht zur Sprache kommen. Die Prominenz der Herzogin von Guermantes in dieser frivolen Art der Unterhaltung stößt den Erzähler derart ab, dass er seine früheren Bemühungen um sie nicht mehr nachvollziehen kann, aber er traut dem neuen Gefühl der Abkühlung selber nicht.
Sie hattenn Recht, lieber Herr Reimann, mit Ihrem Einwand, denn ich hatte das Falsche gesagt. Was ich meinte, war, dass Blochs Missgeschicke auf diesem Empfang nicht auf antisemitische Haltungen der Teilnehmer zurückzuführen ist, sondern auf seine eigene gesellschaftliche Unbeholfenheit. Fraun Anselms Kommentare lese ich nicht.
Bei längerem Nachdenken: Vermutlich ist der Ausdruck "Zärtlichkeit" ein wenig übertrieben. In anderen Augenblicken denke ich, Prousts Interesse am Menschen ist eher zoologischer Natur. Vielleicht also die Zärtlichkeit des Zoologen...
Ich gebe zu, Herr Werckmeister, dass ich mich offenbar auch habe beeinflussen lassen von Zitaten aus der Kolumne von Doris Anselm. Dann kommt es also in den nächsten Folgen ganz schön dicke, oder ? -
Meine Frage lasse ich stehen ...
zwei Passagen:
(1) zu Mme Villeparisis und Bloch:
"Sei es, dass sie die Meinungen ihrer Freunde kannte und von der steigenden Flut des Antisemitismus wusste, sei es aus Zertreutheit, jedenfalls hatte sie ihn den Anwesenden nicht vorgestellt. Er aber, der wenig weltläufig war ..."
(2) "In der Tat war Sir Rufus Israels ... für die Guermantes nur ein in der großen Welt geduldeter ausländischer Parvenü, aus dessen Freundschaft man sich beim besten Willen nichts einbilden konnte, eher umgekehrt."
Zumindest in dieser Episode wird kein Antisemitismus angesprochen!
23. Folge.
Die Scheingeselligkeit des Empfangs bei der Marquise von Villeparisis lässt alle Versuche, aus alten oder neuen Bekanntschaften persönliche Vorteile zu schlagen, am Protokoll der vorgegebenen gesellschaftlichen Hierarchien scheitern, allen voran den Versuch des Erzählers, Monsieur de Norpois für die Unterstützung einer Akademiebewerbung seines Vaters zu gewinnen. Sie geht allerdings nicht so weit, ein gemeinsames Auftreten des Herzogs und der Herzogin, die als Ehepaar einander entfremdet sind, zu ermöglichen. Nur Blochs durchgängiges Fehlverhalten gibt seinen unbeabsichtigten Nonkonformismus einen grotesken Ausdruck.
Überraschend und interessant fand ich Ihre Anmerkungen zu durchschimmernder Zärtlichkeit in den Salonschilderungen. Ich selbst habe eine vage Zärtlichkeit viel eher in seinen Beschreibungen von Landschaften (Weißdornhecken, Sonnenaufgang) und Gegenständen (Mme Swanns Garderobe, die Möbel im Hotel de Flandres) empfunden als in seiner Beschreibung von Personen.
Nein, Sie müssen nicht spoilern, ich ahne, wohin ihre Gedanken gehen....
zu den Folgen 22/23:
Mir fällt auf, dass der Salon-Beobachter (Erzähler) als Person mit Interessen selbst stark zurücktritt und Bloch an seiner Stelle in den Vordergrund rückt, der das Bild eines Unschicklichen, Ungeschickten, Nervenden abgibt. Da die Gespräche (Kontext Dreyfus) augenscheinlich den Antisemitismus der Zeit, hier im Milieu der Adels-Clans des Faubourg St.Germain, nicht nur streifen, frage ich mich, ob der Erzähler dem ‚schlecht erzogenen’ jüdischen Außenseiter einigermaßen glimpflich aus dieser Schlangengrube heraushilft ...
22. Folge.
Nein, auch in dieser Lesung kommt der Erzähler der Herzogin von Guermantes in seiner vorgefassten ‚Liebe‘ um keinen Deut näher. Stattdessen entwirft er eine weit ausgreifende, biografisch begründete Analyse ihres gesellschaftlichen Verhaltens, so wie er es auf dem Empfang der Marquise de Villeparisis aus der Distanz beobachtet, ohne ihr auch nur vorgestellt zu sein. Gegenüber den ästhetischen und dynastischen Illusionen seiner Jugend in Combray, an die er sich bei dieser Gelegenheit erinnert, kommt diese Analyse einer drastischen Enttäuschung gleich, die von dem erotischen Affekt nichts übrig lässt. Zudem beruht sie auf einem Wissen, über das der Erzähler zu diesem Zeitpunkt noch nicht verfügt haben kann, so dass die retrospektive Perspektive des Berichts vom Ende her besonders deutlich wird.
... müsste ich "spoilern" - können wir das vertagen, bis wir dort angelangt sind?
Wie gewohnt :-) weder kurz noch knackig: Das Frauenbild des Erzählers, das sich aus dem bisher Gehörten ergibt, stimmt weitgehend mit dem überein, das in der Literatur der Epoche vorherrschte. Nennt man es frauenfeindlich, dann war Proust frauenfeindlich. Die „Erkenntnis“, Frauen seien so vollkommen rätselhafte Wesen, dass jeder Versuch, sie verstehen zu wollen, von vornherein aussichtslos wäre, teilt er ebenfalls mit der Mehrzahl seiner Zeitgenossen. Ein „Frauenversteher“ wie z.B. Balzac war er nicht. Die differenzierten und nuancierten Charakterisierungen Odettes, Rahels und letztlich Mme de Guermantes‘ sprechen für mich klar gegen eine Frauenfeindlichkeit Prousts. Ganz anders sieht es bei der E i n s t e l l u n g zu Frauen aus. Die Haltung des Erzählers ihnen gegenüber, die sich im Laufe der Recherche immer deutlicher kundtut, halte ich in der Tat für „frauenfeindlich“ (und für noch so manches andere). Um dieses herbe Urteil am Text plausibel zu machen, müsste ich ...
... Zurück zur Verschanzung und wieder ein Eindruck, den ich Proust-Grünhorn anbiete: Ich spüre in der ‚Recherche’ ein gesellschaftliches und psychologisches Kaleidoskop im Entstehen, in dem vielfältiges (Sich-)Verschanzen das Funktionieren (erst) ermöglicht. Sprache, Rituale, Imaginationen sind Mittel sowohl des Verbergens wie des Enthüllens (danke für No. 708, Herr Stellmann). Auch Macht und Gewalt existieren in diesem Doppel-Modus. -
Proust frauenfeindlich? Misogyne Züge, wo sie (beim Erzähler!) auftreten mögen, gehören wohl auch zur Verschanzung. Ich zweifle sehr, ob Proust überhaupt ‚feindlich’ sein kann. Aber warten wir die Antwort der Frauen ab.
Nun ist dieser Online-Dialog richtig erfrischend (geworden). Ich versuche mal, auf Sie alle – in der Reihenfolge der Meldungen (Werckmeister/Windeck/Stellmann – Nr. 702-708) zu antworten:
Ich will gern vom Gaspedal treten, wenn es um die ‚Gesamtschau’ geht, die ich allerdings nicht als ‚vorweggenommene’ zu konstruieren denke, sondern mein Blick auf den Text ist geleitet von Neugier und Interesse am Ganzen. Das ändert nichts an meinen Eindrücken zu Verschanzung, Wir-Verallgemeinerungen usf., die den Erzähler treffen. - Der ‚erste Blick’, ausdrücklich so bezeichnet, ist natürlich nicht der letzte oder gültige; er ist vorläufig und aufgeladen mit Neugier; und das Hin und Her der Fragen und Perspektiven (Blicke No. 2, 3, usw.) in unserem Dialog zur Proust-Lesung Ausdruck davon und Bestätigung der guten alten Dialektik des Gesprächs. – ...
Nicht nur der Autor verschanzt sich hinter seiner Sprache, auch der Leser!...!
Und nun doch eine ernsthafte Frage an die Frauen in diesem Forum: Ist Proust wirklich frauenfeindlich oder etwa menschenfeindlich? Ich finde, in seiner zeitweiligen Boshaftigkeit schimmert stets eine unglaubliche Zärtlichkeit hindurch...
Der Vergleich ist schief, ich weiß: Wenn ich mir den Aufklärer Hagen Rether anschaue, sehe ich sehr viel Proust: Schaut, so sind wir!
Ach was! Proust nimmt hier die Post-Post-Post- Moderne voraus: höchste Anspannung bei tiefer Bewusstlosigkeit....lach
Welch feiner Humor, Respekt!
Ihr Unbehagen und die Frage nach der Aufrichtigkeit hatte ich anders verstanden, daher haben sich Missverständnisse ergeben, tut mir leid. – Ihre „Lesart des ersten Blicks“ wird, glaube ich, von uns allen gewürdigt. Sollte aber nicht gerade dieser erste Blick ein nachhaltig neugieriger Blick sein, der sich vergewissert, ob das, was er assoziiert, ins rechte Verhältnis gesetzt werden kann zu dem, was ein zweiter oder dritter Blick (auf das schon Gelesene!) ihm zeigt? „I know you believe you understand what you think I said but I’m not sure you realize that what you heard is not what I meant.“ :-)
Meine Güte, was für ein Theater bei den Salons! Das Gerede dort ist eher dämlich als geistreich. Mein Nasenflügel zuckt in spannungsloser Langeweile...;-)
Als "Eingefuchster" kann ich nur sagen, dass mir Ihre ersten kritischen Einwürfe mehr eingeluiechtet haben als Ihr jetzige Tendenz einer vorweggenommenen Gesamtschau, lieber Reimann!
... würdigen ja die Komplexität der Darstellung (zuletzt > Séparée-Spiegelungen; übrigens: das ‚Dreieck’ Erzähler-Rahel-Robert könnte auch von den zwei anderen seiner Eckpunkte her gedacht werden). Das „abscheuliche Ich“ in der Spiegelflucht wäre ein Indiz für ‚Aufrichtigkeit’ und gelungene ‚Objektivität’. –
Nochmal: Ich kenne die ‚Recherche’ nur partiell, sog. große Fragen kann ich bestenfalls als Fragen andeuten oder hinstellen, deshalb konzentriert sich mein Interesse primär auf die Konstruktion des Erzählers. Ich halte das für eine tragfähige Lesehaltung, da ich nur in progressu daherkommen kann. Vielleicht beschert das den ‚Eingefuchsten’ die produktive Konfrontation mit einer ‚Lesart des ersten Blicks’?
Wieder interessante Hinweise u. Begriffe, Frau Windeck: Für substantielle Aussagen zum ‚Betriebsgeheimnis’ bin ich nach meiner bisherigen Romankenntnis noch viel zu grün, habe nun aber einen schönen Kompass, danke.
Ihre pragmatische Sicht aufs Riesenprogramm Prousts leuchtet mir ein, komisch nur, jetzt schauen plötzlich Ihr ‚Mammutprogramm’ und meine ‚Gesamtform’ einander an ... -
Zu meinem Unbehagen: Ich habe nicht vom Eindruck gelegentlicher Unstimmigkeit des Erzählens auf eine ‚Unaufrichtigkeit’ des Autors schließen wollen. Zahlreiche Anmerkungen zu Details des Erzählens, dem Ambivalenten, Sublimen und ‚Osmotischen’ der Beschreibungen und Reflexionen . > (...)
21. Folge.
So, wie es der Erzähler darstellt, wird der Prestigewettbewerb zwischen den Pariser Salons ausschließlich unter ältlichen, unverheirateten Frauen ausgetragen, die er sowohl in ihren Manövern als auch in ihrem Aussehen scharf karikiert, während sowohl die die sich am eifrigsten um Einladung in die Salons bemühen, Männer sind. Ob diese Polarisierung der damaligen Wirklichkeit entspricht, oder ob sie Prousts Misogynie zuzuschreiben ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Als die Herzogin von Guermantes die Teegesellschaft bei Madame de Villeparisis betritt, ergreift der Erzähler überraschender Weise nicht die Gelegenheit, ihr vorgestellt zu werden, um die er Saint-Loup so lange gedrängt hatte, und die ihm die Marquise nun leicht verschaffen könnte, sondern begnügt sich damit, die Herzogin aus der Distanz ausführlich zu beschreiben, wobei er teilweise in die dynastischen Klischees seiner Fantasien von Combray zurückfällt. On er ihr in der folgenden Lesung doch noch näherkommt?
... als „dies abscheuliche Ich“, „hässlich und fremd“. (Ich sehe hierin keine moralische Wertung.), verspürt im Abgang „Kummer“, er könnte sich so im ganzen Leben nicht wieder „begegnen“.
Formulierungen dieser Passage korrespondieren mit Aussagen zu Rahels Gesicht („so ein bisschen Gesicht“/“völlig wertlose, kümmerliche Elemente“/“Hautunreinigkeiten“/“eines jener Gesichter denen erst die Entfernung ... eine Zeichnung gibt und die ... von nahem gesehen gleichsam in Staub zerfallen“ [=> (optische) Täuschung]. Der Erzähler konstatiert sein Bedürfnis, seine Unlust abzuschütteln, indem er „den Vorgängen einen ästhetischen Wert“ zuschreibt. -
Ich merke mir hier den Wunsch, dem „hässlich und fremd“ wiederzubegegnen:sich dem Hässlichen aussetzen und der Wahrheit ins Auge blicken?
Bei der Séparée-Szene war ich wohl abgelenkt (danke für den nachträglichen Hinweis!); die Szene ist in der Tat bemerkenswert vielschichtig angelegt. Vielsagend schon der Umstand, dass der Erzähler mit dem Paar à trois in dieser Spiegel-Klause weilt. Er ist mit von der Partie, verschweigt aber sein Verhältnis. Warum geht er auf die Einladung ein, zum Beobachten? Wie ein Komplize nimmt er von Rahel Zigarette, Rose und Champagner an und betrinkt sich; Rausch/Trunkenheit wird nun auf zwei Ebenen reflektiert: als Zugang zu Tiefenschichten des eigenen Ich (Vergleich mit der Tiefenmarkierung von Meereskarten) und optisch in der Flucht der Spiegel. Die Entgrenzung wirke doppelt (so der Erzähler), aufdeckend (Wahrheiten übers Ich) und ermächtigend (herrschend über weit Ausgedehnteres). Der Erzähler sieht sich spontan ...
Ganz ähnlich habe ich das auch gesehen - vielleicht handelt es sich tatsächlich um eine kleine Hommage an Mr. Wilde...passen würde es zu M. Proust...
Danke für beide Kommentare, Frau Windeck....
Unsere offenbar ähnlichen Assoziationen können kaum Zufall sein: der Blick des angetrunkenen Erzählers in den vielfach reflektierenden Spiegel im Séparée des Restaurants zeigt ihm ein entstelltes Spiegelbild, von dem er sich abgestoßen fühlt. Champagnereuphorisiert lächelt er ihm dennoch zu und bedauert – im Gegensatz zu Dorian G. – dieses grässliche Abbild vielleicht nie wiederzusehen. Als er Rahels völlige Verwandlung auf der Bühne erlebt und so erstmals St Loups Hingerissenheit nachvollziehen kann, hatte ich den Eindruck einer Zerrspiegelvision von Sibyl Vane als Julia, gesehen mit den Augen Dorian Grays. Meine Textausgabe (Gallimard folio classique) gibt jedoch in den Anmerkungen keinen Hinweis auf die Parallelen zu Wilde; auch die Auswahlbibliographie führt keine Untersuchung dazu auf. Mehr weiß ich nicht – aber die Anspielungen sind zu deutlich, um unbeabsichtigt zu sein. Ich bin keine „Proustexpertin“ (vielleicht werde ich eine im Laufe unserer Lesung).
Es ist gut möglich, dass Sie mit Ihrem Unbehagen an etwas rühren, das Rüdiger Safranski das Betriebsgeheimnis“ eines Autors nennt. Der Verdacht, den der Leser über weite Strecken nicht loswird, ganz auf dem Grund könnte sich eine „inhärente“ Unaufrichtigkeit des Autors verbergen. Dabei gerät man leicht in Spekulationen; ob sie begründet sind oder nicht, lässt sich nicht zweifelsfrei entscheiden. Es ist mindestens ebenso plausibel anzunehmen, dass dieser „Verdacht“ seine Ursache in der schieren Unlösbarkeit der Mammutaufgabe hat, die Proust sich stellt (nicht nur formal oder auf einer abgrenzbaren „Ebene“). Diese Perspektive – bei der Proust eben manchmal ‚schwächelt‘- ziehe ich schon aus praktischen Gründen vor. Proust selbst war sich in seinen Bemühungen um „Objektivität“ mit ziemlicher Sicherheit keiner Unaufrichtigkeit bewusst, und die Recherche „funktioniert“ nur nach seinen Spielregeln.
... Mein Eindruck jetzt: Das Ich im Salon beobachtet daumierhaft (vorausgesetzt eine entspannte Läster-Haltung - wie von Ihnen erwähnt: Straßencafé, Ortsverein ...) – UND: äußerste An-/Vorspannung, die zurückgehalten in Passivität sich in Phantasien, sublimierenden Bildern erotisch entlädt. Das soll nach Proust wohl zusammenpassen: je mehr Vorspannung, je drängender das Begehren, desto intensiver der entlarvende Blick auf die Trabanten des Fixsterns (vgl. Opernszene). Das ‚Idol’ soll zum absoluten Strahlen gebracht werden. So auch die Formulierungen: das „unfassbare Leben“, das der Name Guermantes bezeichnet, „umschloss hier dieser Leib“(!) > ‚magisches Markieren’ nochmals: Kreise auf den Teppich mit der Sonnenschirmspitze „als wäre dies der äußerste Fühlfaden ihres geheimnisumwobenen Daseins“ – Madame dG, die königlichste, dunkel-helle Parzenschöpfung. – So wird das Proust’sche Erzählnetz wieder provozierend-faszinierend. Die selbstgestrickte Vorhölle des Erzählers erlesen tapeziert.
„Diese drei Parzen im weißen, bläulichen oder rosigen Haar hatten an dem moralischen Leichentuch unzähliger Herren ihrer Epoche gewebt.“ Das ist bester Honoré Daumier. Und amüsiert auch mich sehr! Lästermäuler sind wir alle gern, klar.– Heute, Folge 21, satirisch weiter: „von vielen Puderschichten gipsartig überzogenes Gesicht ...“ – im Kontrast zur imaginierenden Beschreibung der Herzogin (Seidenpuff, Antlitz, Augen, Chinaseide, Matrosenhut mit Kornblumen ... >> grüne Wälder, blauer Nachmittagshimmel über Frankreich, träges öliges Gold besonnter Provinz, Staubduft der Dämmerstunde auf einer Pariser Straße, Peripherie der (Rock-)Glocke: eine Linie züngelnder Erregtheit markierend). – Der Erzähler zugleich: „... beobachtete ich im Grunde nichts, denn in der Atmosphäre meiner leidenschaftlich gespannten Aufmerksamkeit verflüchtigte sich ...“) – ...
Sorry, Herr Reimann, aber dass wir uns in der Sache näher gekommen sind, sehe ich so nicht... Gerade die Schilderungen im Umfeld der Madame P. machen mich so doch wieder sehr lächelnd (abgesehen von den Schilderungen des Judentums, die sind in der Tat hochproblematisch). Ansonsten habe ich mich amüsiert... Ich sehe in einen Spiegel und mich in einem Straßencafé lästern über die Passanten oder in einem Kleingartenverein, in einem SPD- CDU-..Ortsverein, im Gemeindevorstand oder sonstwo....überall die gleichen eitlen Verhaltensweisen, meine inklusive...
Ich könnte mir vorstellen, dass manche Kritik (nicht Ihre, die schätze ich durchaus) an Proust aus dem Gefühl heraus entsteht, ertappt worden zu sein.
Aber meine Lesart ist auch eine andere, nicht literaturwissenschaftliche, davon habe ich mich längst verabschiedet...ich bin gehöre nicht zur Fraktion Warentest... Wenn ein Text für MICH funktioniert, ist es okay...
20. Folge.
Das Erscheinen Blochs auf der Soirée von Madame de Villeparisis gibt dem Erzähler den Anstoß zu einer visuellen Typologie der Juden, einer seiner krassesten Verallgemeinerungen, die aus assyrischen Reliefs, orientalischen Fantasiegestalten und Klischees aus dem täglichen Leben zusammengebraut ist. Sie läuft auf das Urteil hinaus, dass man Juden immer als solche erkennt, wie sehr sie sich auch zu assimilieren suchen. Die folgenden Erwägungen über die Gründe für den Abstieg der Marquise und einige ihrer Freundinnen aus den obersten Rängen der Adelsgesellschaft setzen hypothetische Verfehlungen der Vergangenheit voraus, über die sich nichts mehr in Erfahrung bringen lässt. Nur wer den gesamten Roman gelesen hat, erkennt hier Prousts eigenes Unternehmen, die Auflösung der gesellschaftlichen Hierarchien seiner Zeit—für die die Dreyfus-Affäre ein zentrales ideologisches Ereignis ist— so genau wie möglich aufzuzeichnen.
... über die sozialen Distinktionen (Salon) ‚schwächelt’ deshalb hier auch, Tendenz Tratschen, die Dialogführung wirkt gedrechselt, platt ... ‚Distanz’ kann für den Erzähler nicht existieren, aber seine Sprache hat hier diese Tendenz. Immer wenn Funken von Imagination die Diktion bestimmen, ist wieder die doppelte oder tiefere Ebene da, darin zeigt sich die innere Dauer-Erregtheit des Erzählers. (Groß-)Muttersohn? -
- Über die Passagen zu Bloch schweige ich mit des Sängers Höflichkeit ...
Danke, Herr Stellmann, jetzt sind wir uns in der Sache offenbar nähergekommen. Merkwürdig, mein ‚Unbehagen’ betrifft natürlich den Stil (Erzählhaltung), ‚schwächeln’ könnte ich es freundlicherweise auch nennen, aber mich hat es geärgert, gerade weil ich aus dem bisherigen (!) Kontext heraus verstärkt den Eindruck habe, der Erzähler brütet seit Gilberte/Odette seine eigene Vorhölle aus. (Allein schon die obsessive Garderobenbeschreibung bei Madame Swann ... / und dann das Eiertanz-Nachstellen ad Gilberte-Albertine-Herzogin). Psychisch ‚verstrickt’ ist er durchgehend. Und da passt, denke ich, eben die Erzählhaltung in den genannten Passagen nicht zur (uns schon längst erzählend-umrissenen) Innenausstattung des Erzählers. Das griffige Präludieren ...
Und zum Schluss einfach noch eine Frage an Frau Windeck. Wissen Sie, ob es in der Sekundärliteratur Texte gibt, die sich mit möglichen Parallelen zwischen der Recherche und Wildes "Dorian Gray" befassen? Wer sollte mir das beantworten können, wenn nicht Sie. Ich bin bisher nicht fündig geworden...
Und ja, das von Herrn Reimann angesprochene Gewaltpotential gibt auch mir zu denken... Ehrlicherweise sei gesagt, dass es bei meinen Proust-Lektüren vor 40 und vor 20 Jahren keine Rolle für mich gespielt hat. Heute stößt da einiges bei mir bitter auf, nicht nur bei Proust, sondern auch in der eigenen Familiengeschichte, ja im eigenen und früheren Verhalten...
Und mal ehrlich...sind wir soweit von diese Zeiten weg. Vielleicht sollte man Proust einmal unter heutiger strafrechtlicher
Perspektive lesen, grins...Stalking, Mobbing, üble Nachrede, Korperverletzung, Psychoterror....alles dabei und alles Ausdrucksformen der Gewalt, die mit der Landnahme (pars pro toto)begann oder schlimmer noch vielleicht zu den Bedingungen unserer Existenz gehört...
Ich will ja nicht spoilern, aber warten wir den Horror mal ab, wenn der Erzähler erst selbst in den Teufelskreis gerät...Dann erscheint alles bisherige zur Liebe wie ein Vorgeplänkel und die scheinbar mögliche Distanz ist dahin. Tendenziell auch die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich.
Ich kann Ihr Unbehagen in etwa nachvollziehen, auch wenn ich es so nicht bei mir nicht wahrnehme. Ich habe eher das Gefühl, dass Proust in manchen Passagen "schwächelt" und das konzise Denken und Schreiben nicht immer durchhält. Mag aber sein, dass auch das gewollt ist. Sollen sich berufenere Geister als ich damit befassen.... Ich bin immer noch vergnügt dabei.
... und die gleiche psychische und soziale Disposition teilt (aufgeladen; besessen, distinktionsversessen, ‚besitzen’wollend) – dass er sein Ich hier erzählend versteckt, sich verschanzt, in kritische Distanz flüchtet usw. >> Für mich eine Frage der Glaubwürdigkeit der Erzählhaltung. Bescheiden oder naiv oder vorschnell abgeleitet aus dem engen Kontext dieser Passagen des Romans.
Nochmal: Nicht Handlung und Charaktere befremden mich, die Erzählhaltung ist es, die mich hier nicht überzeugt. (Und im Abschnitt über den Salon Villeparisis setzt sich dieses Manko, denke ich, erstmal fort.)
Jetzt habe ich tatsächlich mit meiner ‚Preisfrage’ eine Reihe von Erwiderungen ausgelöst, die mir auch Einblicke in den weiteren Romanverlauf verschaffen. Meine Anmerkungen erwuchsen aus den jeweils aktuell gelesenen Folgen der „Recherche“ – ohne das Kontextwissen, das Sie alle besitzen. Mein ‚Unbehagen’ hinsichtlich der jetzigen Folgen betrifft übrigens nicht das Verhalten von Saint-Loup [dass kalkulierte Machtspiele, Gewalt und Hörigkeit im (gerade auch erotisch) aufgeladenen Trabantenmilieu der Guermantes-Welt gang und gäbe sind, habe ich erwähnt] - auch nicht das souveräne Rollenspiel der Frauen (Rahel; zuvor Odette), sondern die Art und Weise, wie der Erzähler (ich) daherkommt: Eben als ob er nicht selber involviert wäre ...
…werden nicht zu Opfern, weil sie verstehen, innerlich unabhängig zu bleiben und damit die Oberhand behalten. Swann und St Loup unterwerfen sich in lustvoller Selbsterniedrigung jeder Laune der Geliebten und weisen ihr damit als einzig mögliche Rolle die der herzlosen Femme fatale zu, die sich an der Qual ihrer Opfer weidet. Es ist Proust anzurechnen, dass er weder Odette noch Rahel als Femme fatale darstellt, sondern ihnen, um „Objektivität“ bemüht, relativ differenzierte, auch positive Züge zuschreibt.
An „institutionelle“ oder „strukturelle“ Gewalt dachte man eher im Rahmen der Romane von Dickens. *Eines doch: Rahel fährt jedes Jahr zu Allerheiligen nach Brügge. Zeitgenössische Leser sahen darin sofort die Anspielung auf Georges Rodenbachs Roman „Bruges la Morte“. Der Protagonist, mit ähnlicher Hypersensitivität und überschärfter Sinneswahrnehmung ausgestattet wie unser Erzähler, sieht in den neblig-düsteren Gassen von Brügge eine Doppelgängerin seiner verstorbenen Frau. Er folgt ihr zwanghaft, begegnet ihr wieder und wieder, ohne sie anzusprechen. Ihr Bild und die sterbende Stadt ergreifen immer mehr Besitz von ihm, steigern sich zur völligen Besessenheit, aus der er sich am Ende befreit, indem er die Unbekannte – erwürgt. Der Übergang von „seelischer“ zu physischer Gewalt ist fließend. Swann, St Loup, auch der Erzähler geraten in ihren Liebesbeziehungen in ähnlich krankhafte Zustände der Besessenheit. Odette und Rahel werden …
Die mit pathetischem Gestus gestellte Frage nach dem „Gewaltpotential“ kommt mir beinahe ein wenig blauäugig vor. In der fast identischen Grundkonstellation der erotischen Beziehungen (Swann, St Loup, später auch der Erzähler) geht es immer um Machtausübung und damit um „Gewalt“(von beiden Seiten). Auf die Parallele zu Kriegsstrategien hat Herr Stellmann hingewiesen. „Liebe“ in Prousts Sinn ist (auch) die auf Projektion beruhende seelische Abhängigkeit, die bei den Protagonisten zeitweise Züge der Besessenheit annimmt; das (scheinbar) vernunftgesteuerte Bewusstsein ist außer Kraft gesetzt.Das Interesse an solchen Extremzuständen und inneren Abgründen im 19./ frühen 20. Jh war immens, der Schwerpunkt lag jedoch auf den schwindelerregend-ungeahnten Möglichkeiten der eigenen Seele, die ‚in der Tiefe‘ wirken, die Freud als "das Unbewusste“ umschrieb; Gewalt war nur ein Aspekt. Mit Beispielen aus Literatur und Kunst fange ich gar nicht erst an*.
Das haben Sie von St. Loup in einem früheren Kommentar auch mal behauptet, grins
Ich nicht, Herr Stellmann!
19. Folge.
In der Auseinandersetzung mit seiner Mätresse macht Saint-Loup die Erfahrung, dass die Macht, die er dank seines Geldes über sie zu haben glaubt, bei dieser selbstbewussten Frau aus dem Milieu der Bohème nichts ausrichtet. Diese Erschütterung seines Selbstbewusstseins veranlasst ihn zu zwei Gewalttaten gegen Unbekannte, von denen er sich gekränkt glaubt, und die gesellschaftlich so tief unter ihm stehen, dass sie sich nicht zu wehren wagen. Zusammen mit dem Erzähler macht er sich auf den Weg zu einem Besuch bei der Marquise de Villeparisis, deren Salon zwar den Ruf eines bureau d’esprit genießt, doch aus diesem Grunde von Leuten besucht wird, mit denen die Aristokratie nicht verkehren will. Der Erzähler bringt dies in Zusammenhang mit komplizierten Vermutungen über andere, lebensgeschichtliche Gründe ihres gesellschaftlichen Prestigeverlusts.
Ja, richtig: Waren- u. Tauschcharakter der Beziehung; aber involviert ist das erzählende Ich schon, denke ich: Mit „Rahel“ verbindet der E. spontan die selbst erlebte Bordellszene und hat sie seitdem intus; und er ist im Anlauf auf sein aktuelles Objekt des Begehrens (Mme de Guermantes) begriffen. Gerade deshalb - nach dem ‚verzierten’ Einstieg mit Kirsch- u. Apfelbaumblüte - das zielstrebig-obsessive Erzählen dieser 20-Francs-Liaison; auch zur eigenen Entlastung. ‚Entlarvt’ wird Saint-Loup in einem sprachlichen Duktus, als wäre der Entlarvende ‚unbefleckt’ und ohne Ambitionen à la Tauschwert !
Tja, und daran hat sich bis heute nichts geändert... Macht neigt zur Gewalt und zur Vergewaltigung...
Vielleicht möchte das erzählende Ich ja ledigllich und unter Verzicht aller sprachlichen Verzierungen den Waren- und Tauschcharakter der "Liebes"beziehung zwischen St.Loup und Rahel aufzeigen... Das kann es nur, weil es hier eben nicht persönlich nicht involviert ist.
Psychologisch sind das Machtspielchen (>>Transaktionsanalyse) unter Erwachsenen. Und St.Loup wird entlarvt als normaler Mensch/Mann, in dessen Person sich , wie in uns allen, unterschiedliche und teils konträre Persönlichkeiten vereinen: Feingeist, Fürsorger etc. pp und eben auch ein Schlägertrupp....
... Das führt mich zu einer anregenden Bemerkung von Herrn Werckmeister (Nr. 668). Ich finde nicht, dass sich die „Klassentrennung (...) durch sexuelle Übergriffe abmildert“. Für mich ist solche Übergriffigkeit vielmehr Ausdruck der Lizenz, die man sich in diesen Kreisen nimmt, ein Mittel zur Handhabung, zum egoistischen Manöver im sozialen Grenzgebiet Adel/Bourgeoisie (übrigens Reflex tatsächlicher sozialer Durchmischung Ende 19.Jh.) zu dem Zweck, das je alte oder neue (konkurrierende) Selbstbild, die Distinktion der Ränge und die eigene Macht ‚körperlich’ zu behaupten. Latente Vergewaltigungen?
> Preisfrage: Was sagt die ‚Recherche’ über das große Thema ‚Gewaltpotential’?
Seit einigen Folgen bei mir eine Welle des Unbehagens; die Darstellung erscheint mir problematisch: Die Passagen über den qualverliebten Saint-Loup werden erzählt aus einer verschanzten Position: die Perspektive in der Attitüde eines ‚observateur neutre’, als ob das erzählende Ich nicht selbst involviert wäre, v.a. Ausblendung des eigenen Begehrens. Erzählhaltung Tendenz denunziatorisch, und die Dialoge Robert/Zézette kolportagehaft; auch ein Schuss Misogynie ist im Spiel. - Im Passus über Madame Villeparisis mit ähnlich gespielter Distanz, die Ich-Bezüge kaschieren, denke ich, eine Zwerg-Allwissend-Perspektive über das Thema Dünkel & Distinktion. > (...)
18. Folge.
Der Restaurantbesuch und die anschließende Theatervorstellung, bei denen Saint-Loup seine Geliebte daran zu hindern versucht, anderen Männern nachzublicken, während sie ihrerseits auf dem erotischen Vergnügen beharrt, das sie dabei empfindet, gibt dem Erzähler die Gelegenheit zu Reflexionen über die Unterschiede zwischen Nahsicht und Fernsicht als Quelle erotischer Anziehung, die der Gegensatz von Bühne und Zuschauerraum ebenso wie der zwischen Theater und Lebenswelt wie in einem Spiegelkabinett vervielfältigt. So gesehen ist auch Saint-Loups Verhalten auf eine durch seine Erziehung einstudierte „Rolle“ zurückzuführen. Die Liebesbeziehungen, die sich auf diese Weise herstellen, folgen dem astrologischen Muster der Einwirkung von Gestirnen, die Anziehung oder Abstoßung befördern. Diese ebenso oberflächliche wie zwanghafte Vorstellung der Liebe gilt wohl kaum für den ganzen Roman.
17. Folge.
Als der Erzähler in Saint-Loups Geliebter eine Prostituierte wiedererkennt, die ihm einmal in einem billigen Bordell angeboten worden ist, erlebt er eine Variante der Liebesgeschichte zwischen Swann und Odette de Crécy. Diese Erinnerung kontrastiert mit der Erscheinung einer literarisch gebildeten Schauspielerin, als die Zézette Saint-Loup kennengelernt hat und nunmehr idealisiert, ohne etwas von ihrer Vergangenheit zu wissen. Die Widersprüchlichkeit seines Verhältnisses zu ihr besteht darin, dass er sie als Mätresse hoch bezahlt und sich darüber im Klaren ist, wie ihn das finanziell und gesellschaftlich kompromittiert. Im Unterschied zu Swann denkt er nicht daran, seine Geliebte aus diesem Verhältnis zu lösen. Umso schärfer übt er dieselbe eifersüchtige Kontrolle ihres Umgangs aus. Die roten Flecken in seinem Gesicht machen diese Verzerrung seines sonst so einfühlsamen Charakters sichtbar.
16. Folge.
Die herablassenden, sarkastischen Simplifikationen, mit denen der Erzähler die Freizeitgewohnheiten Françoise, ihrer Tochter und ihrer Verwandten abtut, kontrastieren mit der differenzierten Analyse von Saint-Loups illusionärer Liebe zu seiner Mätresse und dem realistischen Kalkül, mit dem er sie an sich zu binden plant, und das er sich auch von seinem Liebeskummer nicht verwirren lässt. Hier zeigt sich einmal mehr, dass Prousts Romanwerk keine umfassende Darstellung der französischen Gesellschaft ist, sondern eine Sozialgeschichte der Klassentrennung zwischen Adel und Bürgertum, die sich in den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg durch sexuelle Übergriffe abmildert. Sowohl Legrandins vorgebliche Verachtung der Adelsgesellschaft als auch die Unsicherheit über die Unterstützung des Marquis de Norpois, die der Vater des Erzählers bei seiner Bewerbung um die Mitgliedschaft im Institut empfindet, exemplifizieren diese Grundmuster des Romans.
Das sehe ich ganz ähnlich....
... Kann man sagen: Proust steckt einen weiten Rahmen, in dem er das Streben seiner Protagonisten ‚in die Zeit stellen’ und das Bewusstsein (des Erzählers) Fragen der Dauer und wie der Vergänglichkeit aussetzen kann?
Mein Eindruck: Das erzählende Ich ist hellwach und sondiert ständig die sozialen Reibungen. Solche ‚Voreinstellungen’ der Beobachtung sind immer präsent, wenn es um die Liebes-Strategien geht und alle erdenklichen Stereotype abklopft werden; schließlich: Energiequelle all dieses Beobachtens und Reflektierens sowie des Gesellschafts-Spiels ist das je individuelle Begehren und Interesse.
Wertvolle Hinweise, Herr Stellmann, auf den ‚historischen Horizont’ des Romans.
In den Passagen über den Rittmeister wird en passent die Überlagerung und Kollision scheinbar ungleichzeitiger gesellschaftlicher Stände/Klassen/Schichten und ihrer (werdenden) Traditionen, Manieren und Ambitionen geliefert. Allein in den beiden Napoleons ist die Spannweite zwischen den frz. politischen Revolutionen und der anbrechenden (industriellen) Moderne angedeutet. Die Imagination ‚Guermantes’ umgreift das alles.
Der vom Erzähler beobachtete Saint-Loup bildet einen der Schnittpunkte in diesem Koordinatensystem. Insofern geht es im Verhältnis Erzähler <> Saint-Loup nicht nur um das Thema ‚Freundschaft’ (wie überhaupt auch beim Thema ‚Liebe’ die gesellschaftlich-historische Verortung mitgesehen werden sollte, denke ich). >
15. Folge, Teil 2
Die ungeregelte Lebensweise des Erzähler ohne Willenskraft für irgendeine geregelte Tätigkeit, geschweige denn für die erstrebte Schriftstellerei, bringt sein Schlafverhalten durcheinander. Nachts ist er wach, tagsüber will oder soll er schlafen. So hängt sein Schlaf von seinem Willen ab, und er beginnt von seiner Schlaflosigkeit zu träumen. Das ist das Gegenteil des friedlichen Versinkens in den Schlaf während seiner geborgenen Kindheit, mit dessen Schilderung der Roman beginnt. Schließlich träumt der Erzähler, er sei zu nichts keiner Kommunikation mehr fähig, weil er sich im Schlaf nicht frei bewegen kann.
15. Folge, Teil 1
Das Wiedersehen mit seiner Großmutter nach einer Trennung von nur ein paar Wochen enthüllt dem Erzähler, wie stark sie in der letzten Zeit gealtert ist, was ihm nicht aufgefallen war, als er mit ihr zusammenlebte—ein Beispiel für die biografische Relativität der Zeitempfindung, die der Roman zum Thema hat. Das Einzige, was sich durch alle Veränderungen des Befindens gleich bleibt, ist die Unfähigkeit, sich zum Schreiben aufzuraffen.
Einen hab ich noch! Man kann Proust auch unter dem Aspekt der Beschleunigung lesen, die mit der 2. industriellen Revolution ihren Anfang nimmt und bis heute anhält und sich exponentiell steigert. Das Paris Prousts verfügte über ein schnelles Rohrpostsystem. Briefe, die vormittags geschrieben wurden, erreichten nachmittags den Empfänger. Phantastisch!. Dann das Telefon, das ein erster kleiner Tod des Briefes war, heute die E-Mail. Dazu all die anderen Neuerungen wie Automobil, Flugzeug etc. pp. Die Welt beginnt in zu Prousts Zeiten kleiner und schließlich zum Dorf zu werden. Die synchronisierte Gegenwart schlägt in Terror des Augenblicks um... Proust setzt einen dagegen, indem er im Augenblick das Moment des Gebliebenen wie des Bleibenden sucht....
Zusatz zu 660.... Und dieses Wahrnehmungsproblem wird noch einmal verschärft, wenn nicht einmal die Stimme mehr bleibt, sondern nur die 1000 Schriftzeichen, die ein Internetforum zur Verfügung stellt....grins
Die Telefonszene habe ich als Beschreibung eines Schocks gelesen, den wir heute - von kleinauf ans Telefon gewöhnt, gar nicht mehr wahrnehmen und bestenfalls bei Kindern beobachten können, die zum ersten Mal mit Mama, Papa oder einer anderen Person telefonieren. Gleichsam beschreibt Proust damit das Wahrnehmungsproblem, das ein Telefonat bestimmt, die Reduzierung auf einen Sinn. Wir versuchen allein anhand der Stimme die Befindlichkeit eines Menschen zu schließen, alle anderen Informationen wie Körpersprache etc. sind ausgegrenzt. Das für den Erzähler ohnehin unmögliche Unterfangen einen anderen Menschen, sei er noch so vertraut, zu verstehen, erfährt noch einmal ein Verschärfung....
Gewiss mag die Schilderung des rittmeisterlichen Gebarens überspritzt sein, aber wir sollten sie im Zusammenhang mit den übrigen Adelsschilderungen, insbesondere Charlus sehen... Diese Schilderungen kontrastieren, und haben doch ein Gemeinsames, nämlich ein Geschichtsbewusstsein der eigenen Person, wie ideologisch dieses auch immer geprägt sein mag. In beiden versammeln sich die Vorfahren zu einem Orchester unterschiedlicher Stimmen, die sich in wechselndem Gebaren ausdrücken. Der Adel überdauert mit Hilfe seiner Stammbäume gewissermaßen die Zeit, während das ""gemeine Volk"" eher gegenwärtig lebt und sich seiner historischen Herkunft kaum bewusst ist, obwohl es natürlich eine solche hat.
Insofern ist der Adel für Prousts Gedanken über Gegenwart und Vergänglichkeit ein dankbares Sujet....
14 Folge.
Nach der satirischen, ja grotesken Schilderung der napoleonischen Attitüde des Rittmeisters von Borodino erhebt sich der Erzählungston zu einer mythisch-fantastische Ekstase über die missglückte Telefonverbindung des Erzählers zu seiner Großmutter, deren Unerreichbarkeit sich zur Todesdrohung steigert und ihn zur sofortigen Rückkehr nach Paris bewegt. Kaum hat sich die Geschichte in sein durchaus eigenartiges und eigenwilliges Empfinden subjektiviert, sind auch die „wir“ und „wie“-Verallgemeinerungen wieder da.
Ratschläge für Saint-Loup in Folge 13.
https://science.orf.at/stories/3207082/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
Lieber Herr Reimann, im letzten Band räumt der Weltkrieg mit sämtlichen gesellschaftlichen Konventionen und Prätentionen auf. Saint-Loup kann sich seine militärgeschichtliche Gelehrsamkeit nicht zunutze machen, als er in vorderster Linie den Rückzug seiner Kompanie deckt und dabei ums Leben kommt.
13 Folge.
Mir fällt auf, dass die durchdringenden Analysen sowohl von Saint-Loups Unschlüssigkeit in seinem taktischen Verhalten gegenüber seiner entfremdeten Mätresse als auch der gesellschaftlichen Unterschiede zwischen altem und napoleonischem Adel am Beispiel des Rittmeisters von Borodino kein einziges Mal die Worte „wir“ und „wie“ enthalten, deren Übermaß die bisher überwiegenden selbstbiografischen und selbstbezüglichen Passagen für mich so problematisch machen.
... Überhaupt führt Folge 13 den Blick (des Erzählers) auf das gesellschaftliche Panorama der Zeit fort: Abstufungen, Ränge, Denkweisen und Verhaltensformen im Militär; anziehend wirken insbesondere die Handlungsmöglichkeiten von ‚Strategen’, die Menschen und Konflikte planvoll lenken können. Der Erzähler fühlt sich entspannt, da er in der Rolle eines Beobachters von ‚Nebenschauplätzen’ (hie Kriegsgeschichte, da Liebeskrise Saint-Loups) zwischen Interesse, Empathie und Distanz frei pendeln kann. Hellwach registriert er die Adelsformen seiner Zeit und die fortlebenden Strukturen aus dem Wirken beider Napoleons, gerade auch in der Republik. –
Noch was: Rittmeister ‚von Borodino’ – Adelstitel, der für Napoleons Scheinsieg vor Moskau steht; doch Ironie Prousts am Werk?
Bin gespannt, lieber Herr Werckmeister, ob/wie am Ende der ‚Recherche’ die Haltung, die aus dieser Passage spricht, kritisiert sein wird. – In Doncières: Distanziert sich der Erzähler von der Blauäugigkeit der Adepten der ‚Kriegsgeschichte’, gar ‚Kriegskunst’? Er ist angezogen vom Offiziersleben und der ‚Genialität’ der großen Heerführer. Nicht zufällig läuft das Gespräch auf ein intellektuelles Schwärmen von ‚mustergültigen’ Schlachten hinaus, ein Tableau mit Napoleon als Fixstern am Kriegs- und Ruhmeshimmel. Unterhaltung und Reflexionen spinnen den Kontext weiter: das ‚Erbe’ Napoleons in Reglement und Ehrenkodex der Armee und in der Erneuerung des Adels als politischer Kraftquelle (Bourgeoisie als Reservoir). >(...)
Kommentar zur 12 Folge.
Ich verstehe diese Passage als eine existenzielle Selbstkritik, die der Erzähler am Ende seines Entwicklungsromans an der beschränkten Denkweise seines jugendlichen Helden übt. Einem solchen Verständnis stehen allerdings die obsessiven „wir“-Verallgemeinerungen entgegen, die auch hier nicht fehlen.
12 Folge.
Die Tischunterhaltung zwischen Saint-Loup, dem Erzähler und einem ungenannten Freund über die Bedeutung der Kriegsgeschichte für Strategie und Taktik der Gegenwart versteigt sich bis zu einer Erörterung der „Kriegskunst“ im Vergleich zu anderen „Künsten“ wie die Medizin, wo „geniale“ Generäle und „geniale“ Ärzte ihres Amtes walten. Sie ist ebenso weit entfernt von den tiefgründigen Erwägungen über die Künste, die den Roman durchziehen und deren Bezugspersonen Vinteuil, Bergotte und Elstir sind, wie von der Erfahrung der schmachvollen Niederlage im letzten französischen Krieg von 1870-71 (aus dem gleichwohl zwei kleine Episoden als taktische Beispiele angeführt werden), ganz zu schweigen von der dramatischen Widerlegung der französischen Militärdoktrin durch den deutschen Angriffskrieg von 1914. Und sie ist ebenso substanzlos wie die anschließenden Verallgemeinerungen des Erzählers über seinen einseitigen Liebeskummer um die Herzogin von Guermantes.
In Folge 12 nun gibt sich der Erzähler sehr interessiert am „Genie des Heerführers“; Regeln der „Kriegführung“ (> Finten, Durchhalten, Sieg und Eroberung!) sind das eine, aber das „Genie“, die „Kunst“ bestehe wohl in der Fähigkeit, wenn's drauf ankommt, ganz neu und improvisierend zu entscheiden. Ja, die Parallele zur Liebesstrategie liegt auf der Hand. –
Der Erzähler erlebt in Doncières viele Stunden der ‚Entspannung’, er genießt einen ‚Nebenkriegsschauplatz’. Der brutale Ernst des Kriegs wird mit ‚geistreichen’ Gesprächen über-spielt und das ‚ästhetische’ Behagen wird bei feinem Dinieren körperlich gesteigert.
Ich fürchte, ganz so einfach ist es mal wieder nicht. Wenn ich die Ausführungen zu Strategie und Taktik und den Interpretationen von Informationen sowie der Verhaltensmuster im Krieg lese, drängen sich mir Parallelen zu den "Liebesstrategien" bei Swann und dem erzählten Ich auf....
Es gibt, lieber Kamerad Stellmann, kaum einen grässlicheren Euphemismus als 'aufreiben'.
Was sich hinter 'eine Kompanie wurde aufgerieben' verbirgt, hat nicht zuletzt Spielberg in den 20 Minuten von 'James Ryan' nachdrücklich dargelegt.
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Nun hat unser Ästhet und Feingeist Marcel beim abendlichen Spaziergang durch Doncieres und Betreten des Gasthauses die Alten Niederländischen Meister wie Rembrandt oder Breughel (Licht und Dunkelheit bei den Wachleuten, Stillleben kulinarischer Genüsse) vor unserem inneren Auge auferstehen lassen.
Dagegen denunziert er den angeblichen Freund Robert, der von Anfang an nur für Marcels egoistischen Zecken-Zwecke benutzt wurde, als kalten Militaristen...
... hilfsweise ein paar Hinweise: Saint-Loup und einer seiner Kameraden (beide pro Dreyfus) schätzen den kriegsgeschichtlichen Kurs des Majors: „eine Darlegung von wahrhaft ästhetischer Schönheit“; von „Ideen“ geleitet, sogar mehrschichtig - wie ein „Palimpsest“; Obacht >> Text-Archäologie (!?) -
Insofern Kriegsgeschichte ein „geistig bestimmtes Ganzes“ analog zu Wissenschaft und Kunst; ästhetisch übrigens auch das bessere Uniformtuch; schließlich: „im Geiste des Generals“ sei das Alte Vergangenheit, Bibliothek (!), Wissenschaft, Etymologie, Aristokratie (!) des Neuen. - stupende Anziehungskraft des Militärischen ?
11.Folge; große Frage: In welcher Beziehung steht diese "Hermeneutik des Krieges" wohl zum Roman?
Für die Analogie zur Archäologie habe ich ebenfalls viel übrig. Noch faszinierender finde ich Ihre Metapher der archäologischen Ausgrabungsstätte als Gleichnis für das „offene Kunstwerk“. Proust als Künstler und Ästhet bemüht sich zwar, die Bruchkanten der Fragmente, die er zutage fördert, zu glätten und aneinanderzufügen; doch nur auf den ersten Blick liegt darin ein Widerspruch. Für uns als Leser ist das Bild auf vielen Ebenen gültig – und sehr suggestiv. Schon mehrere zunächst unbeachtete Fundstücke sind für mich zu Katalysatoren geworden; der Prozess intensiviert sich, je mehr man sich auf das „Gefundene“ einlässt. In der Gewissheit, nie fertigzuwerden mit der „Recherche“, liegt ein großer Teil ihrer Anziehungskraft für den Leser, denke ich.
11. Folge.
Die kriegsgeschichtlichen Belehrungen, in denen Saint-Loup und einige seiner Kameraden dem Erzähler weitergeben, was sie in ihrer Offiziersausbildung in der Kaserne beigebracht bekommen, und deren Satzungetüme die Proportionen einer Tischunterhaltung sprengen, laufen auf die vollständige Unplanbarkeit allen Kriegsgeschehens hinaus, gerade weil die angehenden Offiziere lernen haben, an dessen geradezu gesetzmäßigen, in der Kriegsgeschichte vorgezeichneten Verlauf zu glauben—gleich, welches Land gegen welches andere kämpft. In ihrer bis in die kleinsten Details verästelten Leere gleichen sie der ebenso schlusslosen öffentlichen Debatte über Schuld oder Unschuld des als Spion verurteilten Hauptmanns Dreyfuss, die von keinerlei Informationen, sondern nur von vorgefassten Überzeugungen der Protagonisten der Affäre und des Publikums bestimmt sind.
10. Folge, Teil 2.
Kurz vor einem Abendessen mit Saint-Loup und seinen Kameraden nimmt der Erzähler seinen Freund beiseite, um ihm trotz der drängenden Zeit endlich um die Vermittlung bei der erotischen Annäherung an die Herzogin von Guermantes zu bitten—erst dadurch, dass er gut zu ihr von ihm spricht, dann dadurch, dass er ihm seine Fotografie von ihr überlässt. Die Schilderung dieser verschlagenen Unterhaltung ist derart krass, dass sie sich kaum anders als selbstkritisch verstehen lässt, und zwar nicht nur als Missachtung eines Freundes, dem der Erzähler gleichzeitig das ‚du‘ anbietet, sondern auch als Manöver zur Beförderung seiner ‚Liebe‘.
10. Folge, Teil 1.
Die Freundschaft Saint-Loups, das ansprechende Hotelzimmer und der tägliche Wechsel zwischen ungestörter Lektüre und angenehmer Gesellschaft versetzen den Erzähler bei seinen Wanderungen durch die Kleinstadt in eine Hochstimmung, in der, wie einst in der Landschaft um Combray, seine Begehrlichkeit auf junge Mädchen angeregt wird, die auf der Straße an ihm vorübergehen. Anders als dort hält ihn kein Anstand davor zurück, sie anzuspringen, so dass sie sich erschreckt von ihm losmachen müssen. Im Fluss der Erzählung werden diese Episoden nur auf das Kürzeste gestreift, so dass ihre moralische Fragwürdigkeit nicht zum Tragen kommt.
Die Andeutungen in Folge 8 (Saint-Loups Zimmer) sind tatsächlich subtil und vielsagend gehalten (virtuos!), während der Aufenthalt im Hotel nur die eine derartige Stelle (‚Umarmen’) aufweist, noch am ersten Abend vor dem Einschlafen. Einen abrupten Übergang sehe ich eigentlich gar nicht, nur eben das ‚Aussparen’ aller Bezüge zur Herzogin, v.a. beim Reflektieren über Schlafen/Aufwachen usw. am Morgen nach der ersten Nacht im Hotel (es sei denn, die Bemerkungen zur ‚Wärme’ wären so zu werten). Die Assoziationen wandern nach Balbec und Combray, den ‚Vorstufen’. Ich habe meinen Eindruck (s. Nr. 621) allerdings inzwischen modifiziert (s. Nr. 630/631).
Nochmals danke!, Herr Stellmann, die Analogie ‚Recherche’/‚Archäologie’ gefällt mir sehr. Vom Gesamt-‚Bau’ des Romans und seinem Ende weiß ich ja noch gar nichts, und je mehr ich hier mitschreibe, desto mehr verliere ich sogar die Lust, in irgendwelchen Inhaltsübersichten nachzuschauen (oder ihnen gar zu trauen). Mein Eindruck: der Roman als ‚konstruierte offene Form’ – ein Paradox womöglich, aber eine ‚Recherche’ ist garantiert eine Form, in der das Fragen dominiert und sich mit jedem ‚Fundstück’ (schöner Ausdruck) stets regeneriert, erweitert und ‚vertieft’ (graben!). Ein zweiter Eindruck inzwischen: Proust stellt beide Formen des Erinnerns/der Erinnerung, die unwillkürliche und die willkürliche (in Ihren Worten), in Wechselwirkung und lässt den Erzähler in diesem Echo-Modus seinen Erzählfluss anlegen.
..Gefühl der Geborgenheit bleibt. Selbst das Hotel empfindet der Erzähler als anheimelnd, weil die dort „wohnenden“ Möbel und Räume ihn willkommen heißen und sich wie eine Einfriedung um sein Zimmer gruppieren, bereit, ihm im Falle von Schlaflosigkeit Gesellschaft zu leisten. In seiner Empfindung „umarmen“ die Wände das Zimmer. Ich finde diese Passage (ab der Betrachtung der Fotografie bis zur Beschreibung des Hotels) ziemlich raffiniert komponiert; besonders die „gleitenden“ Übergänge in abgestuften Entsprechungen sind mit großer Sorgfalt gestaltet, überall wird die Atmosphäre für den Leser spürbar. Der „Wechsel“ von den ausschließlich um Mme de Guermantes kreisenden Träumen und Gedanken des Erzählers zu Reflexionen über Schlafen, Träumen, Aufwachen im Hotel wirkt auf mich daher nicht abrupt, sondern geradezu virtuos.
..als bei der Betrachtung der Fotografie. Durch Verschiebung von Assoziationen vollzieht sich ein subtiler Übergang von einer weiblichen Gestalt zu einer anderen (Analogie: der unerlaubte Blick; Kontrast: “sie“ wird ihre Schleier ablegen und den Erzähler zum ersten Mal direkt anblicken). Er spürt „ihre“ Nähe in der angenehmen Wärme des Zimmers, als er vom Fenster zurücktritt. Es ist die Hügellandschaft um Doncières, die er als weibliche Gestalt wahrnimmt und die ihn von jetzt an begleitet; ein Gefühl von Geborgenheit schwingt mit. Ihre unterschwellige Anwesenheit versetzt ihn in eine heiter-zärtliche Stimmung. Leider werden weibliche Substantive („colline“) in der Übersetzung z.T. mit männlichen („Hügel“) wiedergegeben, so dass im 2.Teil der Passage das Schwebend-Erotische, das die Schilderung durchzieht, verlorengeht. – Reminiszenzen an Combray und Balbec schließen sich an. Das erotische Moment tritt zurück, das ..
Dass Sie so oder ähnlich antworten, hatte ich gehofft.Ich habe mir den Übergang, der Ihnen zu abrupt vorkam, noch einmal genauer angesehen:In St Loups Zimmer genießt der Erzähler die ungestörte Betrachtung der Fotografie von Mme de Guermantes in dem Bewusstsein, dass ihm die Herzogin nie gestatten würde, sie derart intensiv in Augenschein zu nehmen. Er empfindet den eigenen Blick als unerlaubte Entblößung. Die festgestellte Ähnlichkeit der Gesichtszüge St Loups mit denen seiner Tante verweisen darauf, dass die Gefühle des Erzählers nicht so sehr der Herzogin als vielmehr dem Traumbild „Guermantes“ gelten. – Nach dem gemeinsamen Abendessen sieht der Erzähler am nächsten Morgen aus St Loups Fenster auf die ländliche Umgebung im Morgennebel. Im Halbdunkel belauscht er die erwachende Herbstlandschaft wie eine noch in ihr Nachtgewand gehüllte Frau.Mme de Guermantes erschien im Theater ganz in weißem Mousseline.Die erotischen Untertöne sind beim Blick aus dem Fenster deutlicher als ...
Und dennoch, mir gefällt die weitergedachte Analogie zur Archäologie. Am Ende der Recherche stehen wir vor einem wieder aufgerichteten Ort der Antike, der uns einen komplexen Eindruck der Vergangenheit gibt und gleichsam immer neue Fragen stellt, der Lücken lässt, Dinge nebeneinander stellt, die manchmal passen oder auch nicht (was nicht passt, ist im Nichtpassen ernstzunehmen und wird nicht etwa passend gemacht), und jedes noch so kleine, unscheinbare Fund- oder Bruchstück kann zum Katalysator der eigenen Erinnerungsarbeit werden oder das Bild verändern. Die Recherche ist offen, nicht hermetisch, ein Buch, darauf angelegt, dass der Leser nicht mit ihm fertig wird, sondern ihn in Bewegung hält. Damit sprengt Proust die Form... Drastischer Beisatz: Wer mit Proust fertig ist, muss ganz schön fertig sein.
Tja, für mich wäre das ein (!) Punkt, an dem meine werkimmanente Kritik ansetzen würde. Mir ist schon klar, dass Proust die Authentizität der unwillkürlichen Erinnerung höher ansetzt als jene der willkürlichen Erinnerung, doch ich frage mich, ob dem wirklich so ist. Meine Selbstbeobachtung zeigt mir,dass unwillkürliche Erinnerungen häufig emotional anders und stärker aufgeladen sind als bewusst herbeigeführte Erinnerungen, doch sind sie deshalb auch authentischer, unmittelbarer? Ich halte das für ein bedenkliches Konstrukt, das wichtig für die Konzeption der Recherche ist, mir aber nicht unbedingt einleuchtet... aber nun ja, mir leuchtet vieles im Leben nicht ein, grins
Danke, Herr Stellmann, die Stelle ist bemerkenswert. Wenn ich recht sehe, folgt sie auf die Wahrnehmung des Erzählers, wieder einmal die ‚gute Kindheitsmüdigkeit’ mit ihrer Verwurzelung in Erdenschwere zu empfinden . Der Erzähler ‚antwortet’ hier auf die Behauptung von ‚Dichtern’, dass man bei Wiederkehr an längst verlassene Orte erinnernd zurück in die Kindheit finden könne. Seine Replik darauf: entweder Archäologe sei (wie Sie schreiben) oder besser – aber ‚subtiler (...) , unfehlbarer und vergänglicher’ (!) – dank flüchtiger Eindrücke. Oh, Proust!
Wie so oft gibt Proust auch in der 9. Folge Hinweise zu seiner Arbeitsweise. Hier verwendet er das Bild des Archäologen.
"Was die Erde trug, ist nicht mehr auf ihr, sondern unter ihr; ein Ausflug genügt nicht, um die tote Stadt zu besuchen, man muss Ausgrabungen machen." Der Erzähler als Archäologe des erzählten Ich's? Der Gräber, der die Fundstücke eines weiten Feldes zusammenträgt und daraus ein Ganzes zu rekonstruieren versucht. Und steht am Ende ein Pompeji des Subjekts, immer noch fragmentarisch zwar und dennoch aus dem Dunkel der verlorenen Zeit gerettet?
Wohl eher "versucht" als "versteht"!
(...)
Hier ist das Psychologische in einen übergreifenden Kontext gestellt, der uns auf das Quecksilbrige eines Erzählers blicken lässt, der - in erlesener Bildseligkeit sich ergehend - Liebesnot und Täuschungen zu kuppeln versteht.
Doncières: Es hat den Anschein, als wolle Proust seinen Erzähler die Assoziationen zu Einschlafen-Träumen-Aufwachen nicht unbedingt psychologisch 'plausibel' beschreiben lassen; deshalb schenkt sich das Ich wohl jede Erwähnung des Liebes-Begehrens (Folge 9). In Folge 10 nun wird deutlich, dass das Ich die Herzogin alles andere als ‚vergessen’ hat. - Die Fahrt zur Kasernenstadt Saint-Loups ist ein weiteres Manöver (der versuchten Eroberung). Die Nähe des Freundes ‚beflügelt’ den sonst ängstlichen Erzähler. Im folgenden Gespräch mit Saint-Loup spielt er mit verdeckten Karten. Für mich ist die Schlüsselstelle, die das egoistische Spiel allegorisch bündelt und verdeckt benennt, folgende Formel des Hochgefühls: „Ich meinte die Flügelschuhe Merkurs an den Füßen zu haben.“ Merkur: Götterbote, Kuppler, Patron der Händler und Diebe. >(...)
9. Folge, Teil 2.
Im Widerspruch zu seinen früheren Beteuerungen, er sei für eine tiefe Freundschaft ungeeignet, sucht der Erzähler während der Angstzustände, die ihn beim Alleinsein befallen, Saint-Loups Beistand. Bei ihm findet er so viel Verständnis für seine Sorgen, dass er sofort wieder Mut fasst. Er sagt nicht, was das für Sorgen sind. Auch hier vermisse ich das Thema seiner ‚Liebe‘ zur Herzogin von Guermantes, um derentwillen er doch zu Saint-Loup gereist ist.
Das mach ich, falls ARTE antwortet. Neben der Schlöndorff-Verfilmung gibt es eine Verfilmung der "Wiedergefundenen Zeit", die ich nicht gesehen habe und eine mehrteilige französische Adaption der gesamten Recherche, die die "Handlungsabläufe" und Schlüsselszenen zusammenfasst, nun ja...
Für sehr sehenswert halte ich den Film "Céleste" von Percy Adlon, der auf den Memoiren von Prousts Haushälterin basiert. Dazu kommen viele Dokumentationen durchaus unterschiedlicher Qualität. Man könnte also bequem einen Tag damit füllen.
Zu den Proust-Verfilmungen: Proust arbeitete mit feinster Feder, das lässt sich nicht mit dem Pinselstrich der klassischen Spielfilmdramaturgie umsetzen...
9. Folge, Teil 1.
Unverhofft findet der Erzähler an seinem Hotelzimmer so viel Gefallen, dass er einen Spaziergang durch die ganze Etage poetisch als vertrauten Dialog mit all ihren Türen, Räumen, Wänden, Teppichen und Möbeln schildert. Nach dem Eingeschlafen taucht er in eine ebenso topografisch aufgegliederte, aber weiträumigere Unterwelt hinab, in der alle Varianten von Träumen dem Schlafenden je nach dessen Verfassung zur Verfügung stehen. Merkwürdigerweise fehlen unter den vergangenen Momenten seines Lebens, die ihm dabei in den Sinn kommen, die erotischen Begegnungen, Sehnsüchte und Frustrationen, von denen dieses Leben bisher erfüllt war.
Ich habe überlegt: ich kenne nur eine einzige Proust-Verfilmung, Schlöndorffs „schon ganz mit historischem Edelrost überzogene“ Version von ‚Eine Liebe von Swann‘. Literaturverfilmungen sind wohl auch deshalb meist enttäuschend, weil nichts, was ins Bild gesetzt werden kann, an das Kopfkino beim Lesen heranreicht (Bestätigung eines Proust-Axioms). Trotzdem können sie sehenswert und interessant sein, vor allem, wenn man sich hinterher darüber austauscht. Wenn arte sich bei Ihnen meldet, geben Sie die Info doch an uns weiter?
Sie brauchen Ihre kritische Lesart nicht zu rechtfertigen, lieber Herr Reimann. Sie ist auch die meine!
Korrektur zu Nr. 623.
"ohne Spekulationen darüber anzustellen"
8. Folge.
Nach langem Zögern entschließt sich der Erzähler, Saint-Loups Einladung nach Doncières zu folgen, weil er darauf hofft, er werde ihn mit der Herzogin von Guermantes bekanntmachen. Er studiert jede Einzelheit ihrer Fotografie, die auf Saint-Loups Zimmer steht und meint ihr auf diese Weise näher zu kommen als bei den flüchtigen Begegnungen auf ihren morgendlichen Ausgängen in Paris. Doch er beschreibt nur die Schönheit ihrer Züge, über Spekulationen darüber anzustellen, was sie ihm bedeuten könnte, ganz anders als bei seinen langen, mit Verallgemeinerungen angereicherten Beschreibungen der Zimmer in Saint-Loups Kaserne und im Hotel,die seine Stimmung aufs Äußerste beängstigen oder beflügeln.
(zu 619/620)
Meine Art zu lesen ist nicht die, möglichst schnell (m)ein ‚Raster’ zu konstruieren und die folgende Lektüre/Interpretation - als auch meine ‚Erwartungen’ an den Text - daran zu messen, gar von einer ‚höheren Warte’ aus. Das wäre vermessen und lächerlich angesichts des Reichtums der ‚Recherche’. Ich nehme jede ‚Biegung’ der Erzählung ernst, ihre Anziehungskraft ist und bleibt enorm.
(zu 618) Auch Herr Stellmann hat mich bereits ermahnt, nicht zu ‚drängeln’. Glauben Sie mir, Frau Windeck, ich will schon geduldig sein und keineswegs nassforsch erscheinen.
Was ich zur Diskussion angeboten habe (ich gebe zu: früh), sind meine Folgerungen aus der Beobachtung der bisherigen ‚Erzählbewegung’ – ein Ausdruck, der übrigens noch kein Echo gefunden hat. Ich will meine Aussagen zur ‚Form’ oder gar zur ‚Gesamtform’ gern zurückstellen. – Natürlich werden Muster nicht ‚gefüllt’. (Die Darstellung, Erzählung weist Muster auf, Parallelen regen zur Interpretation an usw.) – Die Folge 9 heute hat mich übrigens insofern überrascht, als der Erzähler facettenreich sein Verhältnis zu Schlaf/Traum/Einschlafen/Aufwachen schildern darf, während das Naheliegende völlig ausgeblendet wird: die Herzogin, deren Foto er gerade ‚studiert’ hatte. Mir erscheint das überhaupt nicht plausibel an dieser Stelle.
…ich es einfach schade fände, wenn Sie ungestüm in einen Tunnel hineinpreschen, der sich bald als Sackgasse erweist, und sich dann enttäuscht abwenden in der Meinung, Proust hätte Ihnen „weiter nichts zu geben“.
Nachtrag: wäre eine „Universalformel“ (Motto: Wir knacken den Proust-Code) überhaupt erstrebenswert? Mich jedenfalls würde es langweilen, Proust nur aus einem Blickwinkel oder gar nach einem Raster-Schema (ICH und…) zu lesen. Die Genugtuung, durch den Text (scheinbar) das eigene Raster bestätigt zu finden, so dass man sich von einer vermeintlich höheren Warte zum Text und zum Autor herablassen kann, liegt zwar voll im Trend, nutzt sich aber schnell ab. - Hoffentlich nehmen Sie diese offenen Worte nicht krumm; ich möchte Ihnen nichts unterstellen hoffe im Gegenteil, dass diese Verallgemeinerungen auf Sie nicht zutreffen. Ihre Kommentare enthalten so viele zündende Ideen, so viele Anregungen, die es wert sind, ihnen im einzelnen nachzugehen, dass …
Ich meinte die Betrachtung wiederkehrender Muster, Motive, Strukturen. Obwohl man dabei leicht auf Holzwege geraten kann,habe ich mir vorgenommen, auf solche Parallelen zu achten und zu sehen, ob die Perspektiven, die sich ergeben, zum Verständnis des Ganzen beitragen. Ihr Bild von den wachsenden Jahresringen wäre ein stimmiges Muster, das sich aus Prousts Ratschlägen an den zukünftigen Romancier ableiten lässt.Die Muster beziehen sich in meinen Augen nicht, oder nicht vorwiegend, auf die Form, erst recht nicht auf die „Gesamtform“, was immer Sie darunter verstehen. Sie werden nicht mit Inhalt „gefüllt“. Wir haben den dritten Band von sieben gerade begonnen; meinen Sie nicht, dass es etwas verfrüht ist, in einem „großen Wurf“ die Formel des Werkes zu entdecken?
Lieber Herr Werckmeister, danke! Diese Antwort wäre auch die Konsequenz meiner bisherigen Hör-Lektüre. -
Die ICH-Bezogenheit löst sich wohl auch nicht von dem ‚Liebes’-Begehren und der ‚Suche’ nach einem DU (oder dem Besitz eines DU), das ‚das Glück’ vollkommen machen könnte.
7. Folge.
Die späte Erkenntnis des Klassenunterschiedes zwischen Françoise und ihm selbst löst im Erzähler eine lange Überlegung zu dem unauflöslichen Antagonismus aus, der beide voneinander trennt, und den der Erzähler wie gewohnt als schicksalhaften Konflikt der Charaktere verallgemeinert. Aus den einander scheinbar widersprechenden Beobachtungen und Informationen kann er nicht ergründen, ob sie ihm freundlich oder feindlich gesinnt ist, obwohl er täglich mit ihr Umgang pflegt. Ebenso bieten ihm seine täglichen Bemühungen, die Herzogin von Guermantes auf der Straße zu treffen und zu grüßen, keine Aussicht darauf, sie von seiner ‚Liebe‘ zu ihr in Kenntnis zu setzen. So ergeht er sich in Fantasien über die Umkehrung ihres Klassenverhältnisses zueinander, wenn er sich ausmalt, wie sie verarmt und verlassen bei ihm Zuflucht sucht. Affektive Bindungen stellen sich ihm stets als Machtverhältnisse dar.
Nirgends, bis zum Schluss. Was er findet, ist sein ICH.
... Überall die Amplituden der Erregung und Verfeinerung, Raum schaffend gerade auch für Reflexionen (!), schillernd zwischen Ich und Wir; und problematisierend das Verhältnis von Produktion und Rezeption, Ersteindruck und Wiederholung usf.
- Nochmals: die Form ist nicht d e r Schlüssel. Sie ist das ‚Gefäß’ der Erzählung; und nun kommen die ‚Füllungen’, v.a.: ICH und die Gesellschaft / ICH und die Künste / ICH und die Natur / ICH und die Liebe / ICH und die ‚Welt’ - alle Aspekte in je wechselnder Verschränkung, Spiegelung, Beleuchtung, Erinnerung oder Ahnung und auch vice versa mit dem ICH am Ende. Wohl auch ICH und ICH. Für mich wird nun spannend: (Wo) findet der Erzähler (s)ein DU ?
- Zu der von Proust empfohlenen ‚Ähnlichkeit’ der Geliebten wie der Verlaufsform der Beziehungen: das Wiederholungsmoment geht tatsächlich von der Disposition des ‚Mannes’ aus.
- Für mich sind die ‚Muster’ Indizien einer vorgefassten Gesamt f o r m der ‚Recherche’. Wie oben (Nr. 591) umrissen als Hypothese: der F o r m nach eine Erzählbewegung , die die Gesamtform konstituiert, schrittweise entfaltet und inhaltlich füllt. Oder anders: Eine Art wachsendes Umkreisen wie bei Jahresringen eines Baumes; jeder ‚Ring’ schließt frühere ein und lässt sie zu neuer Ausdehnung und Stärke mitwachsen. - Hierzu passte neben der Stationen-Folge ‚Liebe’ diejenige über die Beziehung des Erzähler-Ich zu den Künsten: Bücher (der Großmutter) - Bergotte - Elstir – Berma/Phädra. > (...)
... Odette - Gilberte - Albertine (u. Schar) – Herzogin (u. Loge); an den Rändern diverse Mädels (Milchmädchen, Fischverkäuferin; auch Schulmädchen). Immer wieder Manöver und Eiertänze der Annäherung und imaginierten Eroberung und Besitzergreifung; obsessive Beschreibung der Garderobe ( Odette > Guermantes) - wohl auch ein ‚Abtasten’ der Objekte des Begehrens; in der Oper Licht- und Blickführung auf die Logen und ihr Zentrum, die Loge der Guermantes; Umschlagen der ‚Apotheose’ in Liebesglückseligkeit (Herzogin: >>die Göttin, die zur Frau wurde<<). Konsequent in diesem ‚Flow’ das lächerliche ‚stalking’ (so wie zuvor elevenhaft bei Gilberte/Albertine). Wie sollte Proust rückblickend solche Übertreibung/Exaltiertheit kritisieren, wenn sie doch allem Anschein nach zur Essenz des pulsierenden Erzählens gehört? > (...)
Herzlichen Dank, Frau Windeck, für Ihre anregenden und erhellenden Erläuterungen! Im letzten Satz von Nr. 601 verstehe ich aber leider nicht, auf welche Sichtweise das ‚diese’ Bezug nimmt. –
Jetzt ein paar Aspekte, zunächst zum Oszillieren der Stimmungen: Sie schreiben, aus dem wiederholten Zusammenprall von Imagination und Realität resultiere ‚vollständige Zertrümmerung’, ‚Sturz in den Abgrund’ als jeweiliges Zwischentief. In solchen Repetitionen sehe ich auch eine (Selbst-)Inszenierung des Erzählers (des Erzähler-Ego), der in den enormen Amplituden des Auf und Ab von Erregung und Enttäuschung sich Raum verschafft für sein Bedürfnis, beziehungs- und bildreich, hochempfindsam und sezierend zu erzählen und seine Wahrnehmungen zu durchleuchten. Dieses Pulsieren eines ‚unter Strom’ Stehenden zieht sich durch die Stationen-Folge seiner ‚Liebe’ und nimmt von Station zu Station Fahrt auf. Das Muster intensiviert sich ‚energetisch’: >(...)
Lieber Herr Werckmeister,
ich freue mich (aufrichtig und ohne Ironie), dass wir uns in diesem Punkt verstehen. Zu 6, Teil 1: Die Frage, ob das stalking vielleicht absichtlich übersteigert gezeichnet ist, habe ich mir auch schon gestellt, aber noch keine schlüssige Antwort gefunden.
Lieber Herr Reimann,
gerade sehe ich, dass ich beim Kommentarkürzen die direkte Antwort auf Ihre Frage versehentlich „weggekürzt“ habe. Also: ich glaube, dass man bei Proust die künstlerische und die philosophische Ebene schwer trennen könnte. In den letzten 8 Jahren seines Lebens w a r das Schreiben sein Leben, und er hat sich wiederholt in dem Sinn geäußert, dass der Schriftsteller sich nur in seinem Werk und mit den Mitteln der Sprache verwirklichen kann.
Meine Reflektionen zu Proust gehen fast ausschließlich vom (gedruckten) Text aus. Ich liebe die Matic-Lesung, aber ich „überhöre“ dabei zu viel, was mir bedeutsam scheint. Also versuche ich parallel zu lesen und zu hören.
6. Folge, Teil 2.
Françoise, die dem Erzähler allmorgendlich die Garderobe für seine Streifzüge zurechtlegt, bringt ihre Missbilligung dieses Unterfangens derart unmissverständlich zum Ausdruck, dass der Erzähler vermutet, sie könne die Missbilligung der Herzogin weiterleiten, von der sie durch ihre Bekanntschaften in deren Hauspersonal erfahren haben könnte. Er versucht sich das durch ein hypothetisches Wertsystem ihrer niedrigen Herkunft und durch einen Vergleich mit wortlosen Kommunikationssystemen von ‚Naturvölkern‘ zu erklären. Am Ende dieser Überlegungen wird ihm zu ersten Male—spät genug— bewusst, dass seine Beziehung zu ihr durch das Klassenverhältnis zwischen Herrschaft und Dienerschaft geprägt ist.
6. Folge, Teil 1.
Ein grüßender Blick der Herzogin von Guermantes aus der Loge ins Parkett hinab genügt, um den Erzähler in einen derartigen Liebestaumel zu versetzten, dass er von nun an jeden Morgen stundenlang durch die Straße geht, um ihr auf ihren Ausgängen zu begegnen und sie zu grüßen, als treffe er sie aus Zufall—nicht ohne nebenbei auch noch zwei einfachen jungen Mädchen nachzuspüren, die es ihm ebenfalls angetan haben, wenn auch nicht so stark. Proust schildert sowohl den Effekt des Blicks in der Oper als auch die Gefühle des Erzählers beim täglichen stalking in einer derart grotesken Übersteigerung, dass ich mich frage, ob er sie nicht etwa selber in der Rückschau kritisch bewertet.
Bin ganz mit Ihnen, liebe Frau Windeck!
Lach, an wen das wohl ging?
Ich habe vor einigen Wochen bei ARTE angefragt, ob der Sender einen Geburtstag für Proust ausrichtet, aber leider keine Antwort erhalten. An Dokumentationen, Adaptionen etc mangelt es ja nicht. Auch wenn die Verfilmungen meist ein großes Scheitern dokumentieren, interessant sind auch sie es allemal..
In der Sendung gab es z.B. auch keine "Leser", die sich offenbar nicht im mindesten für Prousts Roman interessieren, sondern nur irgendwelchen Frust in wüsten Invektiven abladen wollten.
Vor einigen Jahren gab es auf arte eine 90-minütige Sendung „Auf der Suche nach den Proust-Lesern“, in der 10-12 Leser und Leserinnen unterschiedlicher sozialer Schichten und Altersgruppen ausführlich über ihr persönliches Verhältnis zur „Recherche“ sprachen. Am Ende der Sendung hatte ich den Eindruck, jeder von ihnen hätte ein anderes Buch gelesen. Wohlgemerkt: unter diesen Lesern war niemand,der etwas in den Roman hineinlas, das nicht wirklich darin wäre. Die Vielfalt der Standpunkte und Blickwinkel verdankt sich ganz der Vielschichtigkeit des Werkes. –
Wir lesen (und hören) nicht nur, um uns den Kopf zu zerbrechen, sondern( hoffe ich) auch, um zu genießen. Und ein solches köstliches Genießerstückchen ist uns gerade in der Szene in der Oper geboten worden, wo die Theaterbesucher zu Nereiden und Tritonen werden. An Offenbach denke ich dabei, und an die ausgelassen-derben Spiele der Meeresbewohner in den Bildern von Böcklin…
Proust entlarvt sich selbst als jungen Mann einmal mehr in seiner vollkommen nutzlosen Existenz als gnadenlose Zecke, die sich unter den abscheulichsten Vorwänden an hübsche Frauen in grandiosen Toiletten (Mme. Swann) und Adlige mit grandiosem Rang (Herzogin Guermantes) heranpirscht, um von ihnen und ihrem guten Ruf zu profitieren.
Ich fürchte, bei der Herzogin wird der junge Mann mit seinen unsäglichen Schleimereien ebenso Erfolg verzeichnen können wie bei der vormaligen Mme. de Cressi.
Er wird sich wohl einen warmen Winkel in ihrer Kniekehle, ihrer heißen Leiste oder Achselhöhle suchen, um von dort aus seiner vorgeblichen Leidenschaft für Schönheit und höheren Adel zu frönen...
--- Oder, wie man in gerne in Istanbul sagt: Izmir übel!
2 In „Im Schatten…“ gibt Proust (nicht der Erzähler) indirekt eine Erklärung dafür in seinen Ratschlägen für angehende Romanciers (mit denen er sein eigenes Vorgehen beschreibt und rechtfertigt): da Temperament und Veranlagung eines Menschen etwas Gegebenes sind, sollten die Frauen, in die der Romanheld sich verliebt, einander ähnlich sein(ich gehe hier nicht auf die Vorstellung der Geliebten als „komplementäre“ Projektion des Liebenden ein).Proust rät, auch das Muster des Beziehungsverlaufs sollte sich wiederholen, mit nur geringen Abweichungen, aus denen der Protagonist eine neue Erkenntnis gewinnt. – Ich bin nicht der Auffassung, in der Betrachtung sich wiederholender Motive, „Muster“ und Strukturen läge d e r Schlüssel zum Verständnis der Recherche; zahlreiche Textbelege weisen für mich darauf hin, dass diese Sichtweise Prousts Intentionen zumindest nicht zuwiderläuft.
Lieber Herr Reimann, meine Aussage, dass der Erzähler im Grunde derselbe bleibt, stützt sich auf verschiedene Beobachtungen in Teil I und II. Seit „Combray“ erleben wir immer wieder das Entstehen komplexer, ins Irreale gesteigerter Vorstellungswelten des Erzählers (die Personen, Orte, ersehnte Ereignisse umfassen),und deren jeweils vollständige Zertrümmerung beim Zusammenprall mit der Realität. Bemerkenswert ist, dass sich der Erzähler von Anfang an bewusst ist(er sagt es wiederholt), dass keine Realität den Schöpfungen seiner Imagination je entsprechen kann. Dennoch erlebt er jede dieser Desillusionierungen wie einen Sturz in den Abgrund. Das betrifft auch die Beziehungen, die er mit dem Wort „Liebe“ bezeichnet. Zu diesem Komplex ist aber so viel mehr zu sagen, dass ich ihn vorerst aufschieben möchte; nicht zu übersehen ist die Ähnlichkeit der Konstellationen. …(2)
5. Folge.
Verglichen mit der Begeisterung, die der Erzähler vor Jahren bei seinem ersten Besuch einer Aufführung mit der Berma für diese Schauspielerin empfunden, kompliziert sich sein erneutes Erlebnis ihres Auftritts in einem Akt aus Racines Phädra durch lange, zögernde Überlegungen über das Verhältnis zwischen Dichtung, Vortrag, und den Personen der Schauspieler einerseits und seiner eigenen Vorbildung, Erwartung und persönlicher Verfassung andererseits, deren Komplexität ich als Leser nicht aufzulösen vermag, obwohl sie schließlich mit einer nicht weniger entschiedenen Huldigung an die altgewordenen Schauspielerin enden als damals. Ganz unproblematisch fällt dagegen das ästhetisches Urteil des Erzählers über die Galakleidung der Fürstin und der Herzogin von Guermantes in ihren Logen aus, die er des längeren beschreibt. Er erkennt umstandslos den höchsten Rängen der Adelsgesellschaft auch den besten Geschmack in Sachen Mode zu, den die niederen bis zur Karikatur verfehlen.
D'accord, je vais être patient ...
Nein, Herr Reimann, Proust gibt darauf keine "zukunftsweisende" Antwort. Und nein, er will auch will auch nicht auf EINE Gesamtaussage zum Zustand der Gesellschaft hinaus. Und drängeln Sie bitte nicht so... Ich werde jedenfalls nicht spoilern....
Und was ist Prousts ‚Antwort’ auf die Frage nach Glück und richtigem Leben? Ein Kunstwerk schaffen, die ‚Recherche’ !? Nach allem, was ich im Gedankenaustausch dieses Forums bisher gelernt habe, läge in der Form des Erzählkosmos mit all ihren Spiegelungen, Überlagerungen und fluiden Übergängen zwischen Innen und Außen, Natur, Landschaft, Künsten, Individuum und Gesellschaft, Begehren, Wollen, Imagination usf. die ‚offene Antwort des Erzählers’. Ob am Ende ein Scheitern steht, weiß ich selber noch nicht. Aber auch dann, vermute ich, wären dieses Scheitern ebenso wie die Äußerungen der Egozentrik Facetten im Kaleidoskop. Bisher habe ich nicht den Eindruck, dass Proust auf eine Gesamtaussage über die ‚Gesellschaft’ aus ist, nicht auf ein Fazit vom ‚Krieg aller gegen alle’. Oder geht das Ende des Romans in diese Richtung?
Ganz so einfach ist es für mich nicht...ich denke schon, dass sich für Proust die Frage nach einem richtigen und nach einem glücklichen Leben stellt. Das erzählte Ich ist wie das Gros des Personals in der Recherche ein Glückssucher auf der Suche nach Liebe, Wertschätzung, Dazugehörigkeit. Sein Scheitern ist angelegt in seiner Persönlichkeitsstruktur, die in Teilen pars pro toto für die Persönlichkeitsstruktur der meisten Agierenden steht. In einer Gesellschaft, die wesentlich von der Egozentrik ihrer Mitglieder geprägt ist, ist das Leben Krieg zur Durchsetzung eigener und nur eigener Interessen...
So scharfsinnig und tiefgründig Ihre Überlegungen auch sind, lieber Herr Reimann, sie werden sich erst nach beendeter Lektüre beantworten lassen.
4. Folge.
Beim seinem ersten Besuch in der Oper lässt den Erzählers die Racine-Vorstellung der früher so bewunderten Berma unerwartet kalt. Dafür erlebt er das Foyer, den Zuschauerraum und die abonnierten Logen als eine grandiose Vorführung der Pariser Adelsgesellschaft die den Theaterabend erst in eine imaginäre mythologische Seelandschaft verwandelt, in der sich die adligen Besucher als antike Tritonen und Nymphen tummeln, und dann in ein ebenso imaginäres Riesenaquarium, hinter dessen Glaswänden sie als Fische schwimmen. So wird seine vorgefasste Bewunderung für den Faubourg Saint-Germain, ironisch übersteigert und relativiert, zur Begeisterung für ein farbiges Spektakel. Zwei kurze Zwischenbemerkungen machen deutlich, dass der Erzähler aus dieser gesellschaftliche Selbstvorführung des Adels keinen Einblick in dessen Lebensumstände erwartet.
(...)
Das erzählende Ich konstituiert im Fortgang seines Erzählens diese Gesamtform, die Form, die das Ich als Künstler erschafft; und die ‚Aussage’ und ‚Haltung’ des Romans wäre dann, seiner Form folgend - trotz aller eingebundenen Reflexionen - eine künstlerische, keine philosophische ... ?
Eine Frage, Frau Windeck, im Anschluss an Ihre Erwiderung auf Herrn Stellmann:
[Zur Erinerung: Ich kann nur fragen als jemand, der im Gegensatz zu Ihnen (beiden) Prousts ‚Recherche’ nur so weit kennt, wie die rbb-Lesung vorangeschritten ist.]
Wenn wir es zu tun haben mit einer ‚sehr, sehr bewussten Schöpfung’ des Autors, wenn zudem der Erzähler im gesamten Romanzyklus ‚im Grunde unverändert derselbe bleibt’, kann ich daraus fü