- Serie "Demographischer Wandel" (Teil I): Wo das Leben härter wird - Am Rand Brandenburgs stößt die Landesverfassung an ihre Grenzen

Während im Berliner Speckgürtel immer mehr Menschen wohnen, schreitet der demographische Wandel an den Rändern Brandenburgs ungebremst voran. Die Bevölkerung wird immer älter, immer ärmer - sie schrumpft. Eine komplette Infrastruktur für immer weniger Menschen? Kann Brandenburg sich das auf Dauer leisten? Bereits heute Realität: Busse fahren nicht mehr regelmäßig überall, Ärzte ziehen weg, die Feuerwehr steht vor dem Aus. Dabei ist die "Gleichwertigkeit" der Lebensverhältnisse in Brandenburgs Verfassung verankert.

Junge Menschen verlassen scharenweise ihre Heimat. Schulen und Geschäfte schließen. Busse und Züge halten nicht mehr an. Zurückbleiben zunehmend Ältere und eine geisterhaft verlassene Kulisse, die man früher Stadt oder Dorf nannte. Das ist teilweise heute schon Realität in Brandenburg. Wir nehmen das zum Anlass für eine Serie in KLARTEXT, in der wir Ihnen die unterschiedlichen Facetten des demographischen Wandels näherbringen. Beginnen wollen wir mit einer Reportage aus Hohensaaten, ungefähr 80 Autominuten nordöstlich von Berlin. André Kartschall war für uns dort.

Direkt vor dem Gemeindezentrum liegt sie: die ehemalige Zukunft von Hohensaaten. Ein paar Schritte nur sind es für Ortsvorsteher Bernd Pliquett, und dann steht er vor dem Nichts.

Bernd Pliquett, Ortsvorsteher Hohensaaten
„Sie sehen hier eigentlich nur Brachland. Aber so im Zuge der Nachwendezeit kam dann hier auch mal ein Investor und hatte dann den Plan, hier das ganze Areal - also bis zum Wald daran, bis zu dem Weg hier hinten - mit Ein- und Mehrfamilienhäusern zu bebauen. Aber na ja, es wurde mal ein Riesenschild aufgestellt, das stand dann ein paar Jahre, man sah und hörte den Herrn nicht mehr. Und irgendwann ist das Schild umgefallen und genauso sind auch wahrscheinlich die Pläne umgefallen."

Noch ein paar Schritte weiter sieht Bernd Pliquett, was sich stattdessen in seinem Dorf getan hat. Die Kindertagesstätte ist zu und heute ein Einfamilienhaus. Die Grundschule - in den 90er Jahren noch für hunderttausende D-Mark saniert - wurde auch dichtgemacht. Die Arztpraxis: geschlossen und zu verkaufen. Der Doktor ist weggezogen, in den Nachbarort. Für einen Arztbesuch können viele Hohensaatener so schon einmal einen ganzen Tag einplanen. Der Bus fährt nur noch selten - besonders wenn Ferien sind. Ein Problem gerade für ältere Menschen - und von denen gibt es in Hohensaaten mehr als andernorts.

Bernd Pliquett, Ortsvorsteher Hohensaaten
„Hier befinden wir uns jetzt in der Voigtlandstraße. Was ich jetzt sage, mag vielleicht für viele ein bisschen makaber klingen, aber im Volksmund bei uns heißt das eben ‚Die Straße der Witwen', weil ein Großteil der Leute, die hier wohnen, sind wirklich alleinstehende Witwen. Also bestimmt von den dreißig Häusern - ich will jetzt nicht übertreiben - bestimmt in der Hälfte der Häuser sind wirklich alleinstehende Witwen. Ditt beste Beispiel: Ein paar Häuser weiter wohnt meine Mutter mit ihren 76 Jahren, die wohnt da ooch alleene drinne."

Geblieben sind dem Ort an der Grenze zu Polen noch eine Kneipe, ein kleiner Backshop und - ein Altenheim. Hier wohnt fast jeder zehnte Hohensaatener.

Harald Michel ist Demograph. Er beobachtet den Alterungsprozess der Gesellschaft bereits seit 20 Jahren. Seine Prophezeiung: Wie in Hohensaaten wird in weiten Teilen Brandenburgs das Leben eher schwerer als leichter werden.

Harald Michel, Institut für angewandte Demographie
„Ja, wir werden einen hohen Grad von Differenzierung von Lebensweisen bekommen. Brandenburg ist ja ein sehr gutes Beispiel dafür: Berlin, die Stadt, in der die Welt tanzt und in geringer Umgebung davon, in 60 Kilometern Abstand von dieser Stadt, werden wir Gebiete haben, die im Wesentlichen ländlich und durch die Natur geprägt sein werden. Das ist ja auch, wenn Sie so wollen, ein Vorteil: Es kann sich jeder aussuchen, aber er kann dann nicht annehmen, dass in dieser Region dann die gleichen infrastrukturellen Voraussetzungen vorhanden sein werden, wie das in Berlin der Fall ist."

Hohensaaten hatte vor fünf Jahren statistisch gesehen im Durchschnitt die ältesten Einwohner in ganz Brandenburg. Damals war man noch eine eigenständige Gemeinde. Dann ging das Geld aus. Das Dorf verlor seine Selbständigkeit und wurde ein Ortsteil von Bad Freienwalde. In den Statistiken zum Durchschnittsalter taucht das Dorf jetzt nicht mehr auf.

Doch der Ortsvorsteher hat die Zahlen in Handarbeit zusammensuchen lassen. Hohensaaten ist so etwas wie ein Blick in die Zukunft des Landes Brandenburg.

Im Mittel sind die Dorfbewohner etwa 53 Jahre alt - ein Wert, der in ganz Brandenburg erst nach 2030 erreicht wird. Und: Das Dorf schrumpft rapide, gerade ist es unter die 700-Einwohner-Marke gefallen.

Bernd Pliquett, Ortsvorsteher Hohensaaten

„Ich glaube, so Mitte der achtziger Jahre waren wir noch circa 1.000 bis 1.200 Einwohner. Wenn man das heute sieht, mit Stand vom heutigen Tage sind wir noch 699 Einwohner. Also, wir haben fast 500 Einwohner verloren innerhalb von 20, 30 Jahren. Wir haben jetzt zurzeit, glaube ich … ich glaube, um die 50 Kinder und Jugendliche, vielleicht knapp 60 von den 699 Einwohnern. Meine Bevölkerungsgruppe von 50 bis 59 ist mit 165 Einwohnern die größte Gruppe. Und die Rentner, tja, die machen über ein Drittel aus, also die Über-60-Jährigen."

Hohensaatens Problem ist auch Brandenburgs Problem: Für eine Gesellschaft ist es schlicht nicht bezahlbar, für immer weniger Menschen die gleiche Anzahl an Schulen, Arztpraxen und Busverbindungen bereitzuhalten.

In der Brandenburger Landesverfassung aber ist das Ziel verankert, mit Hilfe von Förderprogrammen

Zitat
„… in allen Landesteilen gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen und zu erhalten."

Diesen Passus der Verfassung findet man in Hohensaaten eher unfreiwillig komisch.

Bernd Pliquett, Ortsvorsteher Hohensaaten
„Papier ist geduldig. Aus meiner Sicht kommt hier am Ende von Brandenburg immer weniger an. Von dem, was Sie eben zitiert haben, diese hoch gelobten Förderprogramme, die kommen hier auf dem Land nicht mehr an."

Was für die Hohensaatener traurig ist, ist aus der Sicht von Demographen volkswirtschaftlich die einzige Lösung. Fördermittel in bald menschenleere Dörfer stecken, bringe nichts. Vielmehr müsse das Anspruchsdenken auf dem Land ein anderes werden.

Harald Michel, Institut für angewandte Demographie
„Da muss man sich auch mal trennen von liebgewordenen Kindern, also natürlich zuallererst von diesem Paradigma oder, wenn Sie so wollen, der Monstranz der ‚Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen'. Das war am 3. Oktober 1990 erledigt, indem die neuen Bundesländer zum deutschen Staatsgebiet hinzugekommen sind. Und das wird auch nie wieder möglich sein, das in dem alten Verständnis herzustellen."

Der „Demographische Wandel" ist in Brandenburg Chefsache. Doch ein Interview gibt es nicht: Also fragen wir die Staatskanzlei schriftlich: Hält die Landesregierung die Schaffung „gleichwertiger Lebensverhältnisse" noch immer für machbar? Die Antwort klingt überraschend optimistisch:

Zitat
„Die Landesregierung arbeitet dafür, dass auch in allen Teilen des Landes die erforderliche Infrastruktur der Daseinsvorsorge vorhanden ist."

Und eine Entwicklung zu einer „zunehmenden Ungleichwertigkeit“ sei für die Landesregierung auch nicht erkennbar."

In Hohensaaten am Rande Brandenburgs sieht man das ganz sicher anders.


Autor: André Kartschall