Betreuer mit einem Jungen, Bild: rbb

- Fehlende Schulhelfer - wie ernst ist Inklusion gemeint?

Nach mehreren Protestaktionen betroffener Eltern ist der Etat für Schulhelferstunden kurzerhand aufgestockt worden: 750.000 Euro extra für Schulhelferstunden. Für Eltern behinderter Kinder ist das nur ein kleiner Schritt. Sie fordern eine bedarfsgerechte Ausstattung. Jedes Inklusionskind soll einen Anspruch auf verlässliche Unterstützung haben.

Anmoderation
Wir haben es gerade gehört: wer auch immer nun Regierender Bürgermeister in Berlin wird – an den Kindern soll nicht gespart werden, denn "Armut ist nicht sexy! ", haben wir gelernt. Was wohl Eltern von behinderten Kindern den drei Kandidaten antworten würden? Sie müssen gerade erleben, dass an ihren Kindern durchaus gespart wird. In diesem Schuljahr gibt es deutlich mehr Förderkinder – ohne dass für ihre Förderung auch deutlich mehr Geld zur Verfügung gestellt wird. Dabei ist Inklusion alles andere als ein Sparmodell. Andrea Everwien.

Elf Mädchen hüpfen fröhlich im Kreis – eine von ihnen hat das Down-Syndrom. Dass Blanca hier mitmachen darf, ist für sie und ihre Mutter ein großes Glück. Die Eltern der Ballettgruppe haben verstanden: ihre nicht behinderten Kinder profitieren vom Umgang mit Blanca und lernen, dass jeder Mensch anders ist. Doch nicht überall ist das Down-Kind so willkommen.

Ivona Meier
Mutter

"Wir wollten Blanca auch im Theater gerne sehen, aber uns wurde abgesagt. Die Eltern wollten das nicht."

Zu Hause gehört Blanca selbstverständlich dazu.

Blanca Meier
"Ich bin nicht behindert."

Ich bin nicht behindert. Ich habe bloß das Down-Syndrom.

Ihr Selbstbewusstsein hat Blanca auch hiergewonnen: in der Charlotte-Salomon-Schule in Kreuzberg. Eine normale Regelschule. Aber: Inklusion ist hier Programm. Um die dafür nötigen Mittel kämpft die Schule – wie viele andere in Berlin – jedes Jahr aufs Neue und in diesem Jahr besonders hart. Insgesamt brauchen 22 Kinder Unterstützung durch einen Schulhelfer – darunter auch Blanca.

Bärbel Baurycza
stellvertretende Schulleiterin

"Wenn man bestimmte Dinge von ihr fordert, kann es durchaus sein, dass sie das Gegenteil macht. Dass sie auch nicht unbedingt in der Klasse sein will. Dass sie gerade was anderes im Kopf hat, wo sie hingehen will. Das heißt, sie braucht eine ständige Begleitung."

In Blancas Klasse sind vier Kinder, die laut ärztlichem Attest einen persönlichen Schulhelfer brauchen, um am Unterricht teilzunehmen. In Berlin werden die Kinder gruppenweise von einer Schulhelferin betreut – zum Beispiel von Birgit Börchers. Sie begleitet Blanca nun im vierten Jahr und hilft ihr, im Unterricht bei der Sache zu bleiben. Mensch-Ärgere-dich-nicht-Spielen – das ist für Blanca und Clara, das zweite Down-Kind in der Klasse, harte Arbeit: Es geht ums Zählen üben – und darum, Regeln einzuhalten.

Birgit Börchers
Schulhelferin

"Das ist eines der wichtigsten Ziele, gerade bei diesen Kindern, dass sie einfach wissen, es gibt Regeln, an die halte ich mich, das mache ich und ich weiß auch, wo ich bin und ich habe die gute Orientierung."

Wenn Blanca sich überfordert fühlt, kennt sie keine Regeln mehr – dann läuft sie einfach weg. Das passiert mehrmals am Tag. Die Klassenlehrerin wäre überfordert, sie jedes Mal zurück zu holen. Nur die Zuneigung ihrer Schulhelferin und das Vertrauen, das Blanca ihr entgegenbringt, ermöglichen es dem Kind, in den Unterricht zurückzukehren.

Birgit Börchers
Schulhelferin

"Man kann nicht jemandem helfen, zu dem man keine Beziehung hat,  das geht nicht. Wenn man nicht versteht, was sie bewegt und wo sie gerade sind gedanklich, dann kann man auch nichts mit ihnen machen."

Doch im Augenblick müssen die Kinder in mehr als der Hälfte der Unterrichtszeit ohne ihre Betreuerin auskommen, weil die seit Schuljahresbeginn ein weiteres Down- Kind in einer anderen Klasse unterstützt. Blanca und Clara halten das oft nicht aus.

Birgit Börchers
Schulhelferin

"Sie suchen mich, versuchen bestimmte Orte abzuklappern und dann finden sie mich nicht."

Zu Beginn des Schuljahres wurden der Charlotte-Salomon-Schule die Schulhelferstunden von heute auf morgen um ein Drittel gekürzt – von 180 auf 120 Stunden. Die Eltern sind empört.

Ivona Meier
Mutter

"Momentan, wenn die Schulhelferin nicht da ist, kümmern sich um Blanca die Kinder."
KLARTEXT
"Die anderen Kinder? "
Ivona Meier
Mutter

"Ja."
KLARTEXT

"Das ist doch nett."
Ivona Meier
Mutter

"Ja, das ist auch nett, aber das ist eine große Überlastung für die Kinder, irgendwann werden sie auch vergessen, dass Blanca da ist."

Die Schulhelferin muss auch dafür sorgen, dass Blanca regelmäßig isst und trinkt – sie selbst vergisst das oft, wird dann unterzuckert und unleidlich. Ohne die Betreuerin klappen nicht mal die einfachsten Dinge.

Ivona Meier
Mutter

"Die Leute, die ganz einfach darüber reden, dass wir keine Schulhelfer brauchen, haben keine Ahnung, was bedeutet eine Behinderung. Die haben keine Ahnung."

Die Eltern der Charlotte-Salomon-Schule haben mit ihren Kindern lauthals gegen die Kürzungen protestiert.

Demonstranten
"Integration wird behindert."

Integration wird behindert – das finden auch die Eltern der nicht behinderten Kinder skandalös.

KLARTEXT
"Was haben denn Ihre Kinder davon?"
Demonstrantin
"Dass sie lernen mit Menschen umzugehen, die nicht so sind, wie sie. Nicht so, ja weiß ich nicht, so eloquent oder nicht so begabt. Also, dass sie auf andere Rücksicht nehmen, und Menschlichkeit lernen."

Der gemeinsame Protest hatte Erfolg: in einem ersten Schritt bekam Blancas Schule 30 Stunden zurück von der Senatsverwaltung für Bildung. Allerdings offenbar auf Kosten einer anderen Schule. Denn der Etat für Schulhelfer war bisher gedeckelt. Laut Verwaltungsvorschrift werden die Gelder, "nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel" vergeben – und nicht nach dem tatsächlichen Bedarf.

Günter Peiritsch
Landeselternausschuss
AG Inklusion

"Sprich: die Kinder haben sich mit ihren Bedürfnissen nach einem Budget zu richten und nicht ein Budget wird erstellt, das sich nach den Kindern richtet."

Als das laufende Schuljahr im August begann, kamen berlinweit 340  neue Schüler mit Schulhelferbedarf. Doch weil der Topf für die Ausgaben gedeckelt war, gab es nicht wesentlich mehr Geld. Stattdessen bekam halt jedes Kind ein bisschen weniger Unterstützung – so die Logik der Berliner Mangelverwaltung.

Erst jetzt, fünf Wochen nach Schuljahresbeginn, zeigt die  Bildungssenatorin  ein Einsehen und machte vor ein paar Tagen 750.000 Euro aus dem eigenen Etat locker.

Ist damit jetzt der Deckel vom Topf, bekommt nun jedes Kind, was es tatsächlich braucht? Der zuständige Staatssekretär deutet einen Sinneswandel an:

Mark Rackles (SPD)
Staatssekretär, Senatsverwaltung für Bildung

"Formal ist er noch gedeckelt, faktisch haben wir ihn praktisch jetzt geöffnet, zunächst um 20 Prozent erhöht. Damit ist der Bedarf für dieses Schuljahr gedeckt. Wenn das so weiter zunimmt, wie es im Moment aussieht, dann müssen wir definitiv im nächsten Doppelhaushalt einen deutlich höheren Ansatz wählen. Und den Deckel auch letztlich rausnehmen, der ist auch fachlich nicht wirklich begründbar. Denn es ist tatsächlich so, dass die Kinder, wenn man sie auch konkret vor Ort erlebt, die Hilfe brauchen und die Unterstützung brauchen."

Die Botschaft hören die Eltern gern – allein nach den Kürzungen der Vergangenheit  fehlt ihnen ein bisschen der Glaube.

Günter Peiritsch
Landeselternausschuss
AG Inklusion

"Die Deckelung ist dann aufgehoben, wenn sie aus den Verordnungen gestrichen ist."

Erst wenn es in den Verordnungen rechtsverbindlich heißt: "die Gelder werden nach Maßgabe des tatsächlichen Bedarfs" vergeben, werden die Eltern behinderter Kinder darauf vertrauen, dass Inklusion in Berlin wirklich gewollt ist.

Alles andere wäre schade. Nicht nur für Blanca. Auch für die Kinder ohne Handicap. Sie würden lernen: Entscheidend sind nicht Zuwendung und Unterstützung, sondern die Kassenlage.

Beitrag von Andrea Everwien