- Überforderte Schüler, gestresste Eltern - erneuter Streit ums Turbo-Abi

Gestresste Schüler, gestresste Eltern - dies ist für viele Berliner das Ergebnis der Einführung des Turbo-Abiturs nach 12 Jahren. Deshalb fordern einige Berliner Eltern nun in einer Online-Petition: „Zurück zu 13 Jahren an Berliner Gymnasien!" Innerhalb eines Monats bekamen sie tausendfache Zustimmung. Dabei können Berliner Schüler das Abi noch immer in der alten Geschwindigkeit machen: an den Sekundarschulen. Doch die Vorbehalte gegen den neuen Schultyp sind riesig. Ist nur das Abitur am "guten alten Gymnasium" so richtig wertvoll? In Brandenburg sieht man die Debatte übrigens wesentlich entspannter.

Das Turbo-Abi: Wenn Sie Kinder haben, die kurz vor dem Abitur stehen, dann kennen Sie das Problem - Seit die Schulzeit bei den Gymnasien von 13 auf 12 Jahre verkürzt wurde, gibt‘s bei vielen nur noch Stress zuhause: Denn Kinder müssen jetzt den gleichen Lehrstoff in weitaus kürzerer Zeit büffeln. Viele Eltern, Schüler und Lehrer in Berlin sind deshalb genervt. Jetzt reicht es einigen: Robert Frenz.

Matthias Reinhardt hat dem Turbo-Abi den Kampf angesagt. Und – er ist nicht allein. Der Psychologe und Vater zweier Töchter hat eine Petition verfasst und bekommt im Internet tausendfach Unterstützung. Reinhardt glaubt: Das Abi nach 12 Jahren macht Schüler, Eltern und Lehrer krank.

Matthias Reinhardt, Petitions-Verfasser
„Wir fordern die Wiedereinführung des 13. Schuljahres zum Abitur hin und dadurch sollen die Schülerinnen und Schüler entlastet werden, die Familien entlastet werden, auch die Lehrer entlastet werden. Und es soll wieder Freiräume geben für seelische und körperliche Gesundheit, so wie es im Berliner Schulgesetz auch drinsteht.“

Ist das Abi nach 12 Jahren tatsächlich eine zu große Belastung? Wir sind zu Gast im Geschichte Leistungskurs am Tegeler Humboldt-Gymnasium. Im so genannten Doppeljahrgang sitzen die letzten, die noch dreizehn Jahre Zeit zum Abi haben, neben den ersten, die das Abitur nach 12 Jahren machen. Und gerade die Jüngeren müssen sich anstrengen, um mitzuhalten.

Alicia Drazetic, Schülerin, 17 Jahre
„Ich bin ziemlich abgesackt erstmal, mein Zeugnis jetzt in der 12., war nicht ganz so gut wie in der 10. Ich geb mir ziemlich viel Mühe und versuche, es wieder hinzukriegen, aber ich habe schon ziemlich große Unterschiede gemerkt.“

Felix Fürstenberg, Schüler, 17 Jahre
„Die größte Konsequenz persönlich für mich ist der Schlafmangel. Ich komm um 17 Uhr nach Hause, geh dann erst einmal in Richtung Zimmer und schlafe zwei Stunden, dann kann man nachts wieder nicht schlafen, ist bis 12 Uhr wach oder oft dann auch später.“

Die Folgen voller Stundenpläne begegnen Martin Karsten täglich. Seit Einführung der Schulreform haben die Beschwerden seiner Patienten zugenommen, sagt der Kinderarzt. Deswegen unterstützt auch er die Petition gegen das Turbo-Abi.

Dr. Martin Karsten, Kinderarzt
„Der Druck der Eltern wird natürlich durch die Verkürzung der Schulzeit noch mal angeheizt. Die Leidtragenden sind eindeutig die Kinder, die dann entsprechend mit Beschwerden psychosomatischer Art, die dann sagen, sie haben Bauchschmerzen, sie haben Übelkeit, sie fangen an morgens zu brechen, sie gehen gar nicht mehr zur Schule. Und das sehen dann die Eltern, damit gehen sie zum Kinderarzt.“

Die Rechnung ist einfach. 265 so genannte Jahreswochenstunden müssen Schüler von der 5. Klasse bis zum Abitur belegen. Bei bislang 13 Schuljahren ergab das durchschnittlich 30 Stunden pro Woche. Mit der Verkürzung der Gymnasialzeit kommen Schüler nun auf 33 Stunden pro Woche.

Eine Mehrbelastung, die auch Lehrer registrieren. Sie fordern vom Bildungssenator, die Lehrpläne zu entrümpeln.

Als Bildungsminister von Rheinland-Pfalz hatte Jürgen Zöllner das Turbo-Abi noch verhindert. In Berlin musste er die längst beschlossene Schulreform dann umsetzen. Er findet, man habe die Lehrpläne bereits genug entschlackt.

KLARTEXT
„Gibt es noch Änderungen an den Lehrplänen?“
Prof. Jürgen Zöllner (SPD), Bildungssenator Berlin
„Ich sehe im Moment und kenne keine konkreten Hinweise oder Bitten, dass man in irgendeiner Art und Weise dieses ändern sollte. Ich glaube, wir müssen auch darauf aufpassen, dass wir Qualitätsstandards, um die es ja geht: Menschen eben so auszubilden, dass sie den Herausforderungen der weiteren Berufsausbildung oder aber, wenn sie gleich in den Beruf gehen, gewachsen sind.“

Muss sich also jeder Berliner Schüler, der das Abitur machen will, dem Turbo-Stress aussetzen? Nein. In Berlin besteht die Möglichkeit, das Abitur nach 13 Schuljahren abzulegen. Hier zum Beispiel – an der Friedensburg-Sekundarschule in Charlottenburg. Nur: Ist dieser neue Schultyp eine echte Alternative zum altehrwürdigen Gymnasium? Der Schulleiter glaubt: ja.

Paul Schuknecht, Friedensburg-Oberschule
„Wir schaffen es, dass einfach der Teil, der am Gymnasium scheitert, hier eine Chance bekommt, deswegen sind unsere Durchschnittsergebnisse im Abitur immer etwas schlechter, aber wir haben die Hochleister eben auch hier. Wir haben auch die Schüler mit 1,3 im Durchschnitt, die große Erfolge erzielen und wir müssen uns ja im Zentralabitur an den gleichen Maßstäben messen wie andere Schulen auch.“

Unterstützung bekommt der Schulleiter von Bildungsforschern. Hans Döbert vergleicht seit Jahren internationale Bildungssysteme – und glaubt fest an den Erfolg der Sekundarschule.

Prof. Hans Döbert, Institut für Internationale Pädagogische Forschung
„Die traditionelle Vorstellung, dass das Abitur am Gymnasium der alleinige Weg ist, die lässt sich nicht mehr aufrecht erhalten in der heutigen Zeit. Entscheidend ist, eine Hochschulzulassung zu erreichen. Die kann man heute auf vielfältige Weise erreichen in Deutschland, und diese Möglichkeiten sollten auch viel stärker genutzt werden. Das muss den Eltern aber rechtzeitig erklärt werden.“

KLARTEXT
„Warum schicken Sie Ihr Kind nicht auf die Sekundarschule?“
Matthias Reinhardt, Petitions-Verfasser
„Ich möchte gerne, dass meine Tochter die Gelegenheit hat, sich mit den besten und guten Schülern zu messen, weil ich der Überzeugung bin, nur so können herausragende Leistungen geschaffen werden, im Wettbewerb der Besten. Ich bin sicher, dass das auf dem Gymnasium eher machbar ist.“

Paul Schuknecht, Friedensburg-Oberschule
„Ich bin seit langem überzeugt davon, dieser Hype, das Etikett Gymnasium sei ein besonderes Qualitätssiegel… ich halte das für Unsinn. Ich empfehle immer, sich die einzelne Schule anzuschauen, und da gibt es Sekundarschulen, die hervorragend sind, es gibt sicher auch welche, die schwächer sind, bei Gymnasien sieht es genauso aus.“

Ortswechsel. Auch Brandenburg hat das Abitur nach 12 Jahren eingeführt. Und auch hier kämpfen Schüler und Lehrer mit der Umsetzung. Aber im Brandenburger Landeselternrat wundert man sich über die Abitur-Diskussionen in Berlin.

Christine Schaade, Landeselternrat Brandenburg
„Es rumpelt nicht so, wie es in Berlin rumpelt. Bislang gibt es wenig Widerstände, eine große Akzeptanz für das Abitur in 12 Jahren. Ich vermute, das hängt damit zusammen, dass halt zu DDR-Zeiten das Abitur auch nach 12 Jahren Schulzeit abgelegt wurde.“

Zurück also zum Abi nach 13 Jahren an Berliner Gymnasien? Im Internet mag Matthias Reinhardt dafür Unterstützer finden. In der Politik wird er es schwer haben. Keine Partei fordert dies in ihrem Wahlprogramm für die Berliner Abgeordnetenhauswahl. Selbst die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft will, dass es so bleibt wie es ist: Abi nach 13 Jahren an der Sekundarschule - und Abi nach 12 Jahren am Gymnasium – und das will auch der Bildungssenator.

Prof. Jürgen Zöllner (SPD), Bildungssenator Berlin
„Nachdem die Schülerinnen und Schüler über mehrere Jahre eine ganz andere Stundentafel gehabt haben, unter dem Aspekt unterrichtet worden sind, dass es 12 Jahre dauert, dann können Sie nicht, nachdem ein Jahrgang durchgegangen ist, sagen: ein Satz mit X, war wohl nix. Wir machen das wieder ganz anders. Das wäre tatsächlich ein Sargnagel für die Schulen.“

Matthias Reinhardt, Petitions-Verfasser
„Eine Petition ist erst einmal so ‘ne eine Bittschrift. Und wenn niemand sich bewegt muss man vielleicht dazu übergehen, ein Volksbegehren auszurufen. Mal sehen.“



Autor: Robert Frenz