Demonstration für Mindeslöhne (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Hungerlöhne trotz Mindestlohnkampagne

Der Wachschutzmann im Rathaus Reinickendorf träumt ebenso vom Mindestlohn, wie die Fahrkartenkontrolleure der BVG. Auch in der Kantine des Abgeordnetenhauses gibt es Gehälter weit unter Tarif. Und das, obwohl auch Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit und seine Partei öffentlichkeitswirksam für den gesetzlichen Mindestlohn eintreten.

Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit ist wieder aufgetaucht. Monatelang war kaum etwas von ihm zu hören. Jetzt feiert er den Verkauf der Landesbank, höhere Steuereinnahmen und eine geringere Neuverschuldung. Rückenwind für den Bürgermeister. Und plötzlich ist Wowereit auch wieder kämpferisch: Zum Beispiel beim Thema Mindestlohn. Dafür macht er sich stark. Mindestlohn - Davon träumen auch viele Berliner, die für landeseigene Betriebe arbeiten – zum Beispiel für die BVG. Und für die ist der Senat zuständig – und damit als oberster Dienstherr auch Klaus Wowereit. Sascha Adamek berichtet.

Das Land Berlin: einer der größten Arbeitgeber in der Stadt. Das Thema „Gesetzlicher Mindestlohn“ haben auch die Senatsspitzen von Rot-Rot entdeckt:

Klaus Wowereit (SPD), Regierender Bürgermeister Berlin
„Wir wollen eine richtige Lösung haben mit Mindestlöhnen für alle. Und das ist unser Ziel.“

Harald Wolf (Die Linke), Wirtschaftssenator Berlin
„Das aber Überhaupt erstmal in Gang zu bringen, die Diskussion, dass wir einen solchen gesetzlichen Mindestlohnstandard brauchen, das ist jetzt das Entscheidende.“

Ein Mindestlohn von 7,50 Euro steht zur Debatte. Aber welche Löhne werden da bezahlt, wo der Senat selbst bestimmt? In Landesunternehmen oder Rathäusern. Wir machen uns auf den Weg.

Erstes Beispiel: das Abgeordnetenhaus von Berlin. Auch hier wird momentan das Thema Mindestlohn debattiert.

Zwei Etagen tiefer: die Kantine – vor vier Jahren erhielt der Pächter den Auftrag von der Verwaltung des Abgeordnetenhauses. Bedingung war damals die Einhaltung der Tarife. Doch wie sieht es heute mit den Löhnen hier aus: Er geht in zwei Jahren in Rente, 62 Jahre ist er alt. Sprechen möchte er mit uns lieber nicht vor der Kamera: Am Ende eines langen Berufslebens verdient er pro Stunde 6,50 Euro brutto – und das im Auftrag des Berliner Parlaments. Sein Chef sagt, die Tarife seien über die Jahre gestiegen, die könne er heute nicht mehr zahlen:

Hans-Jürgen Schreiber, Kantinen und Konferenzservice
„Wir haben hier einen Pachtvertrag unterschrieben, der uns Kosten auferlegt, die in Bundeskantinen von Pächtern nicht zu tragen sind, wie Energie, wie die komplette Servierausstattung, wie Heizung und deshalb haben wir einen sehr geringen wirtschaftlichen Spielraum, der eigentlich Gehaltserhöhungen oder Anpassungen an den gültigen Gaststättentarif nicht zulässt.“

Gutes Essen, aber billig muss es sein. Denn der Kantinenchef darf die Preise nicht erhöhen. Existieren kann er nur wegen der niedrigen Löhne. Oben im Abgeordnetenhaus weiß man nicht, wie niedrig die Löhne der Küchenmitarbeiter unten sind, sie wurden jahrelang nicht kontrolliert.

Kein Interview, heißt es vom Präsidenten des hohen Hauses. Er lässt uns mitteilen, von den tatsächlichen Löhnen der Kantinenarbeiter habe man erst durch uns erfahren. Jetzt soll gehandelt werden.

Zweites Beispiel: Das Rathaus von Berlin-Reinickendorf. Wie weit ist man hier entfernt vom 7,50-Mindestlohn? Die Fassadeninschriften verheißen Gerechtigkeit: Arbeit ist des Bürgers Zierde. Und: Segen ist der Mühe Preis.

Aber sein Preis ist niedrig. Sehr niedrig. Jörg Heimann arbeitet für einen Wachdienst im Auftrag des Bezirksamtes. Pro Stunde erhält er 5,25 Euro brutto. Kaum mehr als Hartz IV.

Jörg Heimann, Objektschützer
„Der Anreiz fehlt natürlich, ist doch klar. Wenn man für eine Tätigkeit, wo man arbeiten geht, weniger hat, als wenn man zu Hause ist.“

Die öffentlichen Kassen sind leer. Aber heißt das: Sparen um jeden Preis?

Beispiel drei: Europas größtes Nahverkehrsunternehmen: die BVG. Morgens um sechs treten hier Menschen einen Dienst an, der ziemlich unangenehm ist: sie sind Fahrkartenkontrolleure. Und über ihr Gehalt zu reden, finden sie noch unangenehmer:

KLARTEXT
„Sie sind ja wahrscheinlich Fahrgastkontrolleuren. Was verdienen Sie da für einen Stundenlohn?“
BVG-Kontrolleurin
„Da möchte ich mich eigentlich nicht zu äußern. Haben Sie mal mit dem Chef geredet?“
KLARTEXT
„Ja.“
BVG-Kontrolleurin
„Und was sagt der?“
KLARTEXT
„6,15 Euro hat er uns gesagt.“
BVG-Kontrolleurin
„Na, wenn er es gesagt hat, wird’s schon stimmen, ja.“

Unglaublich: 6,15 Euro brutto. Um, um sich anpöbeln oder gar bedrohen zu lassen. 6,15 Euro um dann noch besonnen und freundlich zu reagieren.

Im BVG-Werbefilm wird der Job des Kontrolleurs zum Traumjob – angesichts der Hungerlöhne ein Hohn.

Gerade erst hat die BVG einen neuen Wachdienst mit den Fahrkartenkontrollen beauftragt. Warum besteht die BVG bei der Auftragsvergabe an Sicherheitsfirmen nicht auf einem Mindestlohn?

Petra Reetz, BVG-Sprecherin
„Wie die ihre Leute bezahlen, so leid es uns tut, geht uns eigentlich nicht wirklich was an. Es gibt für diese Berufsbranche in Berlin kein Tariftreuegesetz. Das könnten wir dann benutzen und könnten dann sagen, nur wer sich nicht dran hält, kommt in die Auswahl. So sind wir drauf angewiesen, tatsächlich Absprachen zu treffen, die aber natürlich juristisch angreifbar dann wären.“

Das stimmt, aber es lässt sich ändern. Wenn die Politiker das Berliner Vergabe-Gesetz verändern würden, könnten die BVG und andere öffentlichen Auftraggeber auf Mindestlöhnen bestehen. Sagt uns Professor Jürgen Keßler, Experte für Vergaberecht:

Prof. Jürgen Keßler, Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin
„Die neue europäische Vergaberichtlinie lässt ausdrücklich soziale Vergabekriterien zu. Der Europäische Gerichtshof hat das in mittlerweile vier Entscheidungen bestätigt. Und wenn wir mal zu unseren Nachbarn nach Frankreich, nach England, nach Italien schauen, werden wir schon sehen, wie soziale Kriterien für die Vergabe instrumentalisiert werden.“

Sprich: auch Mindestlöhne bei Vergaben festgelegt werden.

Selbstverständlich können bei der Vergabe auch Mindestlöhne festgelegt werden.

Es liegt also allein an Berlins Regierenden das Gesetz auch auf Wachschützer, Kontrolleure oder Kantinenarbeiter auszuweiten. Denn wie hieß es kürzlich so schön:

Klaus Wowereit (SPD), Regierender Bürgermeister Berlin
„Wir wollen eine richtige Lösung haben mit Mindestlöhnen für alle. Und das ist unser Ziel.“

Weder Klaus Wowereit noch Harald Wolf wollten sich vor der Kamera dazu äußern. Aus der Senatspressestelle kam heute lediglich ein Anruf: Nur in Berlin ein Gesetz zu ändern, das sei ihm zu klein. Er wolle den großen Wurf: Mindestlohn auf Bundesebene. Doch das kann Jahre dauern, falls er überhaupt kommt!