Mutter mit Kind beim Arzt (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Berliner Kinder, völlig verwahrlost: Warum immer wieder Kinder durchs soziale Netz fallen

Zugemüllte, ungeheizte Wohnungen, die Kinder darin sind ihrem Schicksal überlassen: Immer wieder werden solche traurigen Funde gemacht. Häufig zufällig. Kinder sind bis zum Einschulungstermin dem guten Willen ihrer Eltern ausgeliefert. Denn verbindliche Untersuchungen gibt es nicht. Das war vor Jahrzehnten noch anders, in Ost wie West. Damals ging das Kindswohl noch über die Erziehungsfreiheit der Eltern.

Die elfjährige Julia ging nicht mehr zur Schule. Ein halbes Jahr lang. Erst dann wurde die Schule aufmerksam. Polizisten fanden das Mädchen eingesperrt in einer völlig verdrecken Wohnung in Berlin-Reinickendorf. Eines von sieben misshandelten Kindern, die allein in den vergangenen vier Wochen in Berlin entdeckt wurden. Wie kann es sein, dass in all diesen Fällen niemand etwas bemerkt hat: weder Nachbarn, noch die Schulen, noch das Jugendamt. Der Senat will ein so genanntes Frühwarnsystem einrichten, Schulen, Ärzte und Ämter sollen enger zusammen arbeiten, damit Kindesmisshandlung früher bemerkt wird. Das klingt gut, aber reicht das aus, wo doch die Gewalt meist im Geheimen stattfindet, in den eigenen vier Wänden? Nein, das reicht nicht! meint Ute Bartel.

Harald Mau, Leiter der Kinderchirurgie Charité
„Diesem Jungen ist eine Zigarette auf der Stirn ausgedrückt worden. Das weiß ich Hundertprozentig sicher.“
„Kein Verkehrsunfall, sondern körperliche Züchtigung.“
„Das sind die Finger der Hand.“


Manchmal fällt es Professor Harald Mau schwer sich zu beherrschen. Der erfahre Kinderchirurg der Charité muss immer wieder misshandelten Kindern helfen.
Nicht immer sind die Anzeichen so deutlich wie hier. Oft ist es nur ein Bluterguss. Dann fragt er die Eltern nach einer Erklärung.

Harald Mau, Leiter der Kinderchirurgie Charité
„Wie konnte es passieren? War es einmalig, mehrmalig. Muss man etwas tun, um es zu verhüten oder ist es ein einmaliger Ausrutscher? Wenn es in die andere Richtung geht: ‚Ach, seh ich zum ersten Mal! Hab ich noch nie bemerkt. Ist ja ganz komisch!’ Dann drängt sich der Verdacht auf, dass die Mutter etwas vertuschen will oder die Kinder so wenig Fürsorge genießen, dass sie zehn Tage verletzt in einem Haushalt leben, ohne das jemand etwas bemerkt.“

Nur ein kleiner Anteil der misshandelten Kinder kommt in die Notaufnahme. Die Dunkelziffer ist hoch. Professor Mau lässt sich nicht von den Ausreden mancher Eltern täuschen. Er stellt das Kindeswohl über die Schweigepflicht des Arztes.

Harald Mau, Leiter der Kinderchirurgie Charité
„Ich sage dann der Mutter: ‚Passen Sie mal auf! Ich glaube Ihnen das nicht. Und ich werde jetzt den und den benachrichtigen, denn ich befürchte, dass Ihrem Kind sonst schlechtes passiert.’ Das mache ich, um mich morgens im Spiegel ankucken zu können. Aber es ist juristisch auch in diesem Falle zulässig, dass zur Abwendung von akuten Gefahren für Leben und Gesundheit des Kindes sofort Amtshilfe bei der Polizei, bei der Staatsanwaltschaft beantragt wird.“

Eine Kinderarztpraxis in Berlin-Mitte. Eine junge Mutter bringt ihren einjährigen Sohn zur Vorsorgeuntersuchung. Freiwillig. Der Arzt testet dabei die Reaktionsfähigkeit von Anton – alles ist in Ordnung. Doch bei diesen Untersuchungen könnte er auch Entwicklungsstörungen sehen und auch Anzeichen für Misshandlungen.

Rainer Schwitzkowski, Kinderarzt
„Man kann auch Hinweise auf seelische Vernachlässigungen kriegen, wenn die Kinder nicht altersgemäß entwickelt sind, wenn sie keinen Kontakt zum Untersucher aufbauen. Bei dem Kind hier eben, das war ja wunderbar kontaktfreudig. Man schätzt auch mit das Mutter-Kind-Verhältnis ein. Das geht schon im Warteraum los, wie die Mutter sich dem Kind gegenüber verhält.“

Doch viele Fälle von Vernachlässigung bleiben unentdeckt. Deshalb plädiert Doktor Schwitzkowski dafür, diese Vorsorgeuntersuchungen für alle Eltern zur Pflicht zu machen.

Rainer Schwitzkowski, Kinderarzt
„Also aus meiner Sicht wäre das sinnvoll, weil man das dann einfach mal an einer Stelle definieren könnte und eben auch reagieren könnte, wenn die Termine nicht wahrgenommen werden. Ich denke, dass es da eine erhebliche Dunkelziffer gibt und dass die Kinder, die es vielleicht am nötigsten haben, gar nicht bei uns erscheinen.“

Doch von verpflichtenden Maßnahmen halten die zuständigen Senatoren nichts. Die Sozialsenatorin will nicht alle Eltern unter Generalverdacht stellen.

Heidi Knake-Werner (Die Linke.PDS), Sozialsenatorin Berlin
„Ich finde, man muss sie davon überzeugen und man muss ihnen alle Hilfe geben, die sie nötig haben und sie nicht zwingen. Weil ich das Gefühl habe, gewaltfrei erzieht man Kinder nur, wenn nicht selber auch so etwas wie Zwang oder Gewalt erfährt.“

Zwingen müsste man in Berlin nur wenige Eltern. Denn 95 Prozent nehmen die Untersuchungen im ersten Lebensjahr ihres Kindes wahr. Für sie würde sich durch eine gesetzliche Pflicht nichts ändern.

Molin Schlüter-Ideström, Mutter
„Für mich würde das keinen Unterschied machen. Ich mache das sowieso. Ich denke, natürlich ist es gut, wenn es Familien gibt, die ihre Kinder nicht zu den Untersuchungen bringen, dass sie das natürlich machen sollten.“

In Berlin gibt es noch ein anderes Angebot für Eltern, das auf Freiwilligkeit basiert. Die Hausbesuche des Kinder –und Jugendgesundheitsdienstes. Eine Sozialarbeiterin besucht in Marzahn eine Mutter mit einem Neugeborenen. Sie verschafft sich einen Eindruck, ob das Baby in stabilen sozialen Verhältnissen lebt. Und sie gibt Hilfe bei den Anträgen fürs Kinder –und Erziehungsgeld. Doch die Sozialarbeiter in Marzahn-Hellersdorf erreichen nur 60 Prozent der Familien. Mehr sind freiwillig nicht bereit.

Im Bezirk Mitte sind es etwas mehr. Doch in anderen Bezirken finden diese Hausbesuche gar nicht mehr statt. Problemfälle bleiben unentdeckt.

Matthias Brockstedt, Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Mitte
„Wir haben jetzt die Situation, dass in Neukölln seit einem Jahr Stadtrat und alle Beteiligten Alarm schlagen und sagen, wir können unsere Sozialarbeiter nur noch zu Krisenfällen, zu akuten Kindsmisshandlungen und stattgehabten Problemen der Vernachlässigung in die Familien schicken. Prävention, Hausbesuche schaffen wir aus Personalmangel nicht mehr.“

Davon hat die Sozialsenatorin keine Kenntnis. Sie will stattdessen ein neues Frühwarnsystem erfinden.

Heidi Knake-Werner (Die Linke.PDS), Sozialsenatorin Berlin
„Wir wollen, dass die Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes so genannte Gehstrukturen entwickeln, die hingehen in die Familien, die schauen, wo es Probleme gibt.“

Der Leiter des Kinder –und Jugendgesundheitsdienstes in Mitte wünscht sich statt eines neuen Systems lieber mehr Personal in Problembezirken, damit dort Hausbesuche flächendeckend stattfinden können.

Matthias Brockstedt, Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Mitte
„Für die Problembezirke würde ich diese 100 Prozent dringend einfordern, weil wir sonst wirklich nur noch Feuerwehrarbeit machen. Das heißt dann tätig werden, wenn die Nachbarn anrufen und es aus meiner Sicht als Kinderarzt eigentlich schon zu spät ist.“

Misshandelte Kinder. Viele werden nicht entdeckt. In ihrem Interesse sollten alle Eltern Pflichtuntersuchungen und Hausbesuche von Sozialarbeitern aushalten können.