Beitrag des Leopoldina-Präsdidenten zur Bürgerbeteiligung in der Wissenschaft - Jörg Hacker: Vom Sinn und Unsinn der Bürgerwissenschaften

Mit Bürgerbeteiligung zum Erfolg. Davon ist die Bürgerwissenschafts-Bewegung überzeugt und arbeitet seit mehr als einem Jahr an der deutschen Citizen Science Strategie. Der Wissenschaftsbetrieb soll sich öffnen. Forschungsthemen und –fragen auch von Amateuren zulassen, Expertenwissen von Hobbyforschern ernst nehmen. In zahlreichen Foren wird seit Sommer 2014 über Strukturen, Vernetzung, Qualitätsmanagement und Qualitätskriterien, optimiertes Datenmanagement und vieles mehr diskutiert, 2016 soll es dann so weit sein. Bis dahin sind alle aufgefordert sich zu beteiligen. Das macht auch der Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Prof. Jörg Hacker, im folgenden Beitrag für den Rundfunk Berlin-Brandenburg.

Mo 12.10.2015 | 22:15

- Hier soll ab 12.10., 22:45 der Mediathekshinweis zu sehen sein!!!

Ob Vogel-, Mücken- oder Pflanzenatlas - nur mit freiwilligen Helfern sind flächendeckende Beobachtungen möglich, können Unmengen an Daten gesammelt werden. Was bedeutet „Citizen Science“, die Bürgerwissenschaft, für unsere Gesellschaft?

Ich verfolge die Diskussion um Citizen Science in Deutschland mit großem Interesse. Sie zeigt ganz deutlich, wie weit die hohe Wertschätzung der Wissenschaft in unserem Land verbreitet ist: Viele Bürger wollen Forschungsergebnisse mehr als nur konsumieren – sie wollen aktiv zur Wissenschaft beitragen.

Ich denke, dass Citizen Science in zwei Hinsichten wichtige Beiträge leisten kann. Erstens kann sie die Datenerhebung und -auswertung unterstützen, wenn sich Bürger in Netzwerken zusammenschließen und Naturphänomene beobachten oder große Datenmengen auf ihren Computern analysieren. Das hat bereits Tradition, etwa in der Ornithologie und der Astronomie. Zweitens kann Citizen Science das Wissen der Bürger über die komplexen Strukturen ihrer Lebenswelt mobilisieren, um es zum Beispiel in Prozesse der Stadtplanung einzubringen. Hier haben die betroffenen Menschen häufig das beste Verständnis dafür, welche Veränderungen funktionieren könnten und welche nicht.

Aber Citizen Science hat – wie jede Form reflektierter Wissenschaft – ihre Grenzen, die bei aller Freude über das bürgerschaftliche Engagement für die Wissenschaft unbedingt berücksichtigt werden sollten. Die Wissenschaft ist nämlich wie viele andere Bereiche unserer Gesellschaft ein komplexes System, das über Jahrhunderte hinweg immer differenziertere Strukturen entwickelt und von Generation zu Generation ein immer reichhaltigeres Wissen ansammelt. Deshalb braucht es ein intensives Studium und viel Erfahrung in der täglichen Forschungsarbeit, um ein guter Wissenschaftler mit hochentwickelten Fähigkeiten für exaktes methodisches Arbeiten zu werden. Das lässt sich nur äußerst selten durch individuelle Anstrengungen außerhalb von Universitäten und Forschungseinrichtungen kompensieren.

Mit der wissenschaftlichen Erfahrung steigt aber die Kompetenz, sachgerecht darüber mitentscheiden zu können, welche Forschungsthemen und -methoden vielversprechend sind. Deshalb ist die von außerwissenschaftlichen Interessen möglichst unabhängige Selbstorganisation der Wissenschaft so wichtig, die in Deutschland insgesamt sehr gut funktioniert. Und sie wird umso wichtiger, je mehr sich wissenschaftliche Projekte gerade in der Grundlagenforschung zwar von unmittelbaren Bezügen zur Lebenswelt entfernen, aber womöglich in einigen Jahren oder Jahrzehnten zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen können. Hier wäre es ein Irrweg, das Interesse an Citizen Science für eine vermeintlich bürgernahe Wissenschaftspolitik zu instrumentalisieren, die dem Ideal der unmittelbaren Relevanz von Wissenschaft für die Gesellschaft folgt. Dies würde letztendlich auch die positiven Beiträge der Bürgerwissenschaftler zum Erkenntnisfortschritt gefährden.

Prof. Jörg Hacker, Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina