Arzt bei der Behandlung (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Fehlende Amtsärzte: Keine Pflichtuntersuchungen für Kinder

Ob Neukölln oder Friedrichshain – es fehlt an Amtsärzten. Der Bezirk schiebt die Schuld auf die Sparpolitik des Senats, der Senat spricht von der Unfähigkeit des Bezirks, offene Stellen zu besetzen. Leidtragende sind die Kinder, denn viele gesetzlich vorgeschriebene Untersuchungen werden schon lange nicht mehr durchgeführt.

Stellen sich folgende Situation vor: Der Dreck stapelt sich, die Betten sind schmutzig, der Kühlschrank ist leer. Und in so einer verwahrlosten Umgebung müssen Kinder aufwachsen. Jedes Mal, wenn so ein Fall bekannt wird, ist die Empörung groß. Doch viele vernachlässigte Kinder bleiben jahrelang unentdeckt. Dabei könnten sie relativ schnell gefunden werden, bei Pflichtuntersuchungen im Kindergarten oder in der Schule. Dafür ist der Amtsarzt zuständig. Aber in Berlin gibt es zu wenig Amtsärzte. Besonders krass ist die Situation in Neukölln: Dort ist ein einziger Kinderarzt vom Gesundheitsamt zuständig für 44.000 Kinder. Birgit Mittwoch ist der Sache nachgegangen.

Emir ist fünfeinhalb Jahre alt und will in diesem Jahr zur Schule gehen. Ob er dazu in der Lage ist, das wird Dr. Dietrich Delekat vom Kinder- und Jugend-Gesundheitsdienst in Friedrichhain-Kreuzberg gleich feststellen.

Auch die Aufgabe dieses Kreuz nachzuzeichnen, erweist sich als zu schwierig für das Kind. Aber es gibt noch schlechtere Leistungen. Kinder, die Vorgegebenes so nachmalen, weiß Dr. Delekat, haben vorher wahrscheinlich nie einen Bleistift in der Hand gehalten – und brauchen dringend Förderung. Dafür aber haben die Ärzte kaum noch Zeit.

Dr. Dietrich Delekat, Kinder-und-Jugend-Gesundheitsdienst Berlin Friedrichshain-Kreuzberg
„Ich kann mich jetzt nach meinem Dafürhalten nicht adäquat um die Kinder kümmern, so wie ich das möchte. Ich stelle fest, dass die Rate der Kinder, die mit Misshandlungen zum Beispiel kommen, dass die zugenommen hat. Die Anrufe vom Jugendamt, Kinder die vorgestellt werden, Kinder mit Zigaretten auf dem Arm ausgedrückt, verprügelte Kinder, wo die Mutter vielleicht gleich mit geprügelt wird, das ist einfach mehr geworden. Ich habe noch nie so viele Gutachten geschrieben.“

Über Jahre hat er immer wieder Stellenstreichungen in Kauf nehmen müssen. Anstatt mit acht Ärzten muss er jetzt mit fünf auskommen.

Dr. Dietrich Delekat, Kinder-und-Jugend-Gesundheitsdienst Berlin Friedrichshain-Kreuzberg
„Das sich die Stellen bei uns nahezu halbiert haben und die Neubesetzungen sehr lange Zeit in Anspruch nehmen, wenn überhaupt, sind im Moment die gesetzlichen Pflichtaufgaben überhaupt nicht zu schaffen und die anderen zusätzlichen, also uns um die Kinder kümmern, Kinderschutz betreiben, auf die Familien zugehen, was in Kreuzberg ja ein sehr häufiger Fall ist, vollkommen unmöglich.“

Die Schulaufnahmemuntersuchungen von mehr als 2.400 Kindern pro Jahr sind Pflichtaufgabe. Diese Tests dauern vom November bis weit in den Sommer des nächsten Jahres. Früher, als noch acht Ärzte hier gearbeitet haben, waren sie schon im Februar damit fertig.

Emir hat vor allem Sprachprobleme. Eigentlich hätten die schon zwei Jahre früher bei einer Kita-Untersuchung erkannt werden können. Diese ist seit Sommer 2005 eigentlich Pflicht.

Fast 2.000 Kinder im Alter zwischen dreieinhalb und vier Jahren müssten in Friedrichhain-Kreuzberg demnach untersucht werden. Das ist nicht zu schaffen.

Die schlechte personelle Ausstattung im Kinder-und-Jugend-Gesundheitsdienst ist der Politik des Berliner Senates geschuldet, meint Dr.Delekat.

Dr. Dietrich Delekat, Kinder-und-Jugend-Gesundheitsdienst Berlin Friedrichshain-Kreuzberg
„Es ist auf jeden Fall eine große Diskrepanz zwischen dem, was wir leisten sollen - was auch in Gesetzen in Absichtserklärungen formuliert ist, die bedeuten dass unsere Aufgaben ausgeweitet werden - und der konkreten Realität, die dahin geht, dass unsere Stellen gestrichen werden oder dass uns die Neubesetzung bestehender knapper Stellen so schwer gemacht wird, das es Jahre dauert, bevor wir das schaffen.“

Auch Dr. Dietrich Gundert vom Kinder-und Jugend-Gesundheitsdienst in Berlin-Neukölln hat viele Sorgenkinder und zu wenige Ärzte, die sich um sie kümmern können. Um die, die Entwicklungsstörungen haben, um die, die nicht richtig ernährt werden, nicht gut sprechen oder hören können, die noch kein Arzt vorher gesehen hat.

Sie alle kommen zu Dr. Gundert und seinen Kollegen. Der ist der letzte Kinderarzt im öffentlichen Gesundheitsdienst in Neukölln und wird im Sommer in Pension gehen. Vier Kollegen wurden schon vor Jahren pensioniert – Nachfolger gab es keine. Nun hält er mit Mühe einen Notbetrieb aufrecht.

Dr. Dietrich Gundert, Kinderarzt Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Neukölln
„Man schafft eben das, was man schafft. Man könnte viel mehr schaffen.“
KLARTEXT
„Müsste man nicht mehr schaffen?“
Dr. Dietrich Gundert, Kinderarzt Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Neukölln
„Man müsste viel mehr schaffen. Das ist klar. Wir haben ja das große Problem zum Beispiel, dass die Untersuchungen in den Kitas, den Kindergärten, die im Gesetz drinstehen, wir sollten vom öffentlichen Gesundheitsdienst alle Kinder im Alter zwischen dreieinhalb und vier Jahren, sollen wir in der Kita untersuchen, das ist uns leider nur im sehr geringen Umfang möglich, weil wir eben mit anderen Dingen so belastet sind.“

Noch nicht einmal die Hälfte der dreieinhalb bis vierjährigen Kinder in den staatlichen Kindergärten können von den Ärzten in Berlin Neukölln untersucht werden. Dabei wäre das dringend nötig.

Dr. Dietrich Gundert, Kinderarzt Kinder- und Jugendgesundheitsdienst Neukölln
„Das ist schon etwas, was einem sehr zu schaffen macht, das Erlebnis, dass es so viele Kinder gibt, wo man eigentlich, schon früher hätte eingreifen müssen und man weiß genau - wie wir das bei der Einschulungsuntersuchung erleben - wenn wir die zwei drei Jahr früher bei der Kita-Untersuchng kennen gelernt hätten, dann wäre früher etwas möglich gewesen.“

Die Gesundheitsstadträtin von Neukölln fühlt sich allein gelassen. Sieben mal hat sie in den vergangenen Jahren neu zu besetzende Stellen beim Senat beantragt. Alle Anträge wurden abgewiesen.

Stefanie Vogelsang, Bezirksstadträtin für Gesundheit Neukölln
„Weil der Senat über Jahre hinweg blockiert hat, dass Stelleneinstellungen von außen erfolgen können. Wir haben im Stellenpool des Landes Berlin keine Fachärzte, und so ist es besonders schwierig geworden in einer überalternden Verwaltung für Nachwuchs zu sorgen.“

Bis 2005 war der Ersatz von unbesetzten Stellen der Kinder-und Jugend-Gesundheitsdienste in Berlin so gut wie unmöglich. Im Sommer letzten Jahres nun hat der Senat von Berlin ein neues Gesetz verabschiedet. Zwei lange Jahre hat er dafür gebraucht. Jetzt endlich können auch Arzt-Stellen neu besetzt werden - jedenfalls theoretisch.

Katrin Lompscher (Linkspartei.PDS), Senatorin für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz
„Der öffentliche Gesundheitsdienst befindet sich in einem Prozess der Neuorientierung, die Rahmenbedingungen dafür sind geklärt, sowohl rechtlich als auch finanziell.“

Im Klartext: Jetzt sollen 14 Ärzte neu eingestellt werden - für ganz Berlin.
Friedrichhain/Kreuzberg bekommt vorerst einen ab. Gebraucht werden drei.
Auch in Neukölln wird ein Arzt neu eingestellt werden. Der ersetzt dann gerade mal den Kinderarzt, der im Sommer gehen wird.

Stefanie Vogelsang, Bezirksstadträtin für Gesundheit Neukölln
„Wir haben über 40.000 Kinder unter 15 Jahren und für diese über 40.000 Kinder haben wir einen Kinderarzt im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Das ist ein doch ein Skandal ohne Ende.“