Dieter Tam (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Warum ein Berliner Jude im Jahr 2004 nach Haifa flüchtete

Dieter Tam lebte in Berlin-Tegel. Ein Kaufmann, der sich in einem kleinen Laden in Berlin-Tegel auf koschere Waren spezialisiert hatte. Draußen hing die israelische Fahne. Das nahmen kahl geschorene Jugendliche zum Anlass, Dieter Tam als „Judenschwein“ zu beschimpfen. Später kamen Jugendliche arabischer Herkunft und urinierten ans Schaufenster. Irgendwann flog ein Stein in die Scheibe, die Täter blieben unerkannt. Der Jude Dieter Tam verlor den Mut, weiter in Deutschland zu leben. Vor zwei Jahren zog er nach Israel. Inzwischen lebt er in Haifa und fühlt sich wohl. Doch bei den meisten seiner ehemaligen Nachbarn findet er noch heute kein Verständnis. „Selber schuld“, sagen sie, ein erschreckendes Stimmungsbild von einem Berliner Kiez.

Und wir bleiben in Berlin: in der Kunst-und Szene-Metropole, der tolerantesten Stadt Deutschlands. Berlin, wo ein Bürgermeister, gerade, weil er schwul ist, gemocht wird. Berlin, wo vom Karneval der Kulturen zum Marathon, vom Kebab-Stand zur Currywurst viel Unterschiedliches Platz hat. Ein kleiner Lebensmittel-Laden im Bezirk Tegel hatte hier Keinen Platz. Sein Besitzer: Dieter Tamm ist ein richtiger Ur-Berliner, hier in der Hauptstadt geboren, mit Schnodder-Schnauze und Berliner Charme. Es gab nur einen kleinen Unterschied zu seinen Nachbarn. Der zwang ihn zum Aufgeben. Eine Reportage von Anja Dehne und Esther Schapira.

Arie Tam
“Shalom, Shalom, kommen Sie ruhig rein.“

Anderthalb Zimmer unter dem Dach - das ist sein neues Zuhause. Die Möbel hat Herr Tam auf dem Flohmarkt gekauft. Aus Deutschland kam er nur mit drei Koffern.

Arie Tam
“Na ja, ist nicht so doll eingerichtet, aber ich bin zufrieden.“

Fotos von den Verwandten. Die Großeltern starben im KZ Theresienstadt. Als er kam, konnte er kaum ein Wort sprechen. „Hebräisch leicht gemacht“, ein Kurs für Anfänger.

Arie Tam
“Hier im Rekorder ist immer ein Band drinne, so dass ich, wenn ich anschalte, morgens aufstehe, höre ich immer irgendwelche Vokabeln.“

Aber nach einem Jahr fällt es ihm noch immer schwer sich in seiner neuen Sprach zu verständigen. Er ist 62 Jahre, 61 davon hat er in Deutschland gelebt und nur ein Jahr hier in Haifa.

Arie Tam
“Vom Denken her, denke ich, bin ich Israeli. Also fühle mich hier in Israel eben heimisch und auch wohl. Also ich würde nicht unbedingt nach Deutschland zurückgehen.“
KLARTEXT
“Dieter Tam haben Sie zurückgelassen?“
Arie Tam
“Richtig, Dieter Tam existiert nicht mehr.“

Berlin- Tegel. Dieter Tam, der deutsche Jude, existiert nicht mehr. Sein Laden ist geschlossen, seit knapp zwei Jahren, die zerschmetterte Schaufensterscheibe immer noch nicht repariert. Es sind keine Molotow- Cocktails geflogen, Herr Tam, der Jude, ist auch nicht verprügelt worden. Und eigentlich ist doch gar nichts gewesen, sagen die Nachbarn.

Nachbarin
“Ist mir unangenehm zu sagen, der war jüdisch und der war aus dem Osten und da haben die ihm wohl hier immer Sperenzchen gemacht und seitdem ist er weg.“

Nachbar
“Da würde ich mich von solchen Eierköpfen doch nicht aus dem Land vertreiben lassen. Da würde ich wahrscheinlich irgendwo anders hingehen.“
KLARTEXT
“Also können Sie das nicht verstehen, dass der Herr Tam jetzt nach Israel gegangen ist?“
Nachbar
“Nee, so schlimm war es ja nun auch nicht.“

Nachbar
“Ich hab damit keine Probleme. Ich finde auch mal, dass diese ganze Problematik, Juden, Deutsche, das muss irgendwann mal aufhören. Ich bin Baujahr 54, ich bin jetzt 50 Jahre alt, muss mir mein ganzes Leben lang diesen Holocaust vorwerfen lassen, ja, und habe damit gar nichts zu tun gehabt.“

Um den Holocaust geht es gar nicht. Eigentlich geht es nur um einen kleinen Lebensmittelladen, den es heute nicht mehr gibt. Erst verkauft Herr Tam ganz normale Brötchen, da läuft der Laden gut. Dann stellt er um auf koschere Ware, auf Lebensmittel nach dem religiösen Reinheitsgebot der Juden. Der Laden, zu erkennen an der israelischen Fahne und am Davidstern in der Schaufensterscheibe.
Herr Tam wird terrorisiert.

Erst sind es junge Männer mit kahlgeschorenen Köpfen. Sie rufen: „Judenschwein, Du gehörst in die Gaskammer“. Es wird der Hitlergruß gezeigt, Hacken knallen. Dann kommen Jugendliche arabischer Herkunft. Sie spucken und urinieren gegen die Schaufensterscheibe, pöbeln die Kundschaft an. Die Kunden bleiben irgendwann weg.

Und dann fliegt eines Nachts ein Stein in die Scheibe des Ladens. Die Täter werden nie gefasst.

Tabakwarenhändler
“Vielleicht hat er auch ein bisschen selber dran Schuld. Aber wieso kann ich Ihnen nicht beantworten, weil ich mit dem Mann nichts zu tun habe.“

Fragesteller
“Aber wieso hat er selber Schuld, weil er die Fahne rausgehängt hat, die israelische. Oder warum hat er selber Schuld?“

Tabakwarenhändler
“Na ja, er hat das provoziert. Er hat das provoziert.“

Arie Tam
“Ich bin traurig, dass meine Existenz in Deutschland, meine Existenz, wo ich eigentlich in Tegel was Neues schaffen wollte. Ich wollte in Tegel schaffen, dass jüdische Menschen dort auch einkaufen können und frei atmen können und ohne angegriffen zu werden, habe ich nicht geschafft, aber einen Groll habe ich gegen Deutschland eigentlich nicht.“

Dieter Tam existiert nicht mehr. Er heißt jetzt Arie, was übersetzt soviel heißt wie Löwe. Arie Tam hat in Israel ein neues Leben begonnen. Mit seiner Frau hat er die Vereinbarung getroffen, dass sie von ihrem Gehalt als Kindergärtnerin in Deutschland die Schulden abbezahlt. In zwei Jahren soll sie nachkommen. Die Trennung ist schwer für Arie Tam, im Moment bleibt ihm nur das Telefon, zweimal in der Woche. Und aus Deutschland gibt es nicht immer gute Nachrichten. Seine Frau ist manchmal verzweifelt.

Arie Tam
“Ihr haben sie einen Frauentampon und einen toten Vogel auf den Balkon geschmissen, öfter mal so was. Die wissen, dass wir jüdisch sind und meine Frau ärgern sie nun damit, weil sie wissen, dass sie sich davor ekelt und alleine ist, dass ich gar nicht mehr da bin.“

Jetzt geht Arie Tam regelmäßig in eine orthodoxe Religionsschule. Hier trifft er Rabbiner Tuvia Haussmann, seinen Freund und Lehrer. Ihn kennen gelernt zu haben, sei göttliche Fügung, sagt Herr Tam. So wie sein ganzes Leben. 1943 geboren, überlebt er die Nazizeit versteckt in Deutschland. Ein Wunder oder, wie er sagt, „ha shems“- Gottes Wille.

Arie Tam
“Dieser Laden, der kaputt gemacht worden ist, der hat mir eigentlich den Weg gezeigt, „ha shem“ hat mir eigentlich den Weg gezeigt, du musst nach Israel gehen, du musst…deiner Mutter hast du es versprochen, du musst nach Israel gehen, was suchst du hier überhaupt. Hier spucken sie deinen Laden voll, hier machen sie den kaputt. Was möchtest du in Deutschland? Was möchtest du…geh nach Israel und lerne, damit du weißt, dass du Jude bist.“

60 Jahre nach Kriegsende ist Deutschland kein Ort mehr zum Leben für den Juden aus Berlin. Arie Tam ist angekommen in Israel. Und es gibt Nachbarn in Berlin- Tegel, die ihn vermissen.

Nachbarin
“Ich wünschte, es würde mehr Leute geben, die ihm die Hand reichen. Und auch mehr Leute, die wissen wollen, die hinterfragen. Also Dummheit ist nicht das Schlimme, sondern das nicht wissen wollen, das ist das eigentlich Schlimme und ich kann mich nur entschuldigen, es tut mir Leid.“

Arie Tam
“Mein Zuhause ist hier in Israel. Also ich habe keine Sehnsucht mehr nach Deutschland.“

Ariel Tamm hat eine neue Heimat gefunden. Jeder, der geht, macht unser Land ärmer, wir brauchen Menschen wie Ariel Tam.

Beitrag von Anja Dehne und Esther Schapira