Walter Linse und Partenerin (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Walter Linse – Umstrittener Namensgeber

Als im Sommer der Förderverein der Gedenkstätte Hohenschönhausen den „Dr. Walter Linse Preis“ für Persönlichkeiten auslobte, die sich in besonderer Weise um die Aufarbeitung der SED-Diktatur verdient gemacht haben, brach nach wenigen Tagen ein Sturm der Entrüstung aus. Während Linse, der Anfang der 50er Jahre aus West-Berlin verschleppt und später durch die Sowjets als Agent hingerichtet wurde, lange Zeit als Widerstandkämpfer galt, hieß es nun, er sei als aktiver Nazi für die so genannten Arisierungen in der Industrie- und Handelskammer Chemnitz verantwortlich gewesen. Wer war Walter Linse, welches Leben führte er in zwei deutschen Diktaturen?

Szenen wie aus einem Krimi: Ein Taschentuch getränkt mit Narkose-Mittel wird ins Gesicht gedrückt. Das Opfer verliert das Bewusstsein und wird entführt. Kein Kinofilm, sondern Realität, im Berlin der 50er Jahre. Menschenraub - organisiert vom Ministerium für Staatssicherheit in Ost-Berlin. Die Opfer: etwa 600 Menschen aus West-Berlin. Sie wurden in den Osten entführt, kamen ins Gefängnis, viele wurden hingerichtet. Das prominenteste Opfer war Walter Linse. Seine Verschleppung machte im Sommer 1952 Schlagzeilen:
„Überfallen und in die Zone entführt!“

Jetzt macht seine Geschichte wieder Schlagzeilen. Ein politischer Streit ist um ihn entbrannt. Wer war Walter Linse? Ein Spurensuche von Benedict Maria Mülder.


West-Berlin, achter Juli 1952, frühmorgens. Eine Kommandogruppe im Auftrag der Stasi entführt Rechtsanwalt Dr. Walter Linse vor seinem Haus in Lichterfelde. Die Szene wurde nachgestellt. Der Entführte wehrt sich, wird angeschossen und nach Ost-Berlin verschleppt.

Archiv
„An dieser Stelle passierte das Auto mit dem um Hilfe rufenden Doktor Linse die Grenze.“

Der gewaltsame Coup sorgt weltweit für Protest. Der Europarat und die UNO sind alarmiert. Doch seine Familie, West-Berlin, das Haus in Lichterfelde, wird Walter Linse nie wieder sehen.

Wer war Dr. Walter Linse? Der 48-jährige beobachtete damals die politische und wirtschaftliche Entwicklung der DDR, die Verletzung der Menschenrechte. Linse war ein wichtiger Mitarbeiter des UFJ, des von Amerika unterstützten Untersuchungsausschusses freiheitlicher Juristen - für die Stasi eine feindliche Agentenzentrale.

Linse kommt ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, wird nächtelang verhört. Im Westen der Stadt weiß niemand genaues über sein Schicksal, aber er wird er zu einer Symbolfigur des kalten Krieges.

Zehntausende Berliner führt die Empörung über das Kidnapping von Linse vor dem Rathaus Schöneberg zusammen. Ohnmächtiger Zorn richtet sich gegen SED und Stasi. Am Rande kommt es zu Handgreiflichkeiten mit kommunistischen Störern.

Ernst Reuter (SPD), 1952
„Jetzt muss unsere Geduld ein Ende haben.“

Doch der Protest bleibt wirkungslos. Wie sich erst in den 90er Jahren herausstellt, wird Linse in Berlin-Karlshorst wegen Spionage und Feindpropaganda von einem russischen Militärtribunal zum Tode verurteilt, nach Moskau gebracht und dort am 15. Dezember 1953 erschossen.

Die Ost-Berliner Presse, in solchen Fällen sonst in Schweigen gehüllt, ergeht sich in Zynismus. In Westberlin erinnert seit 1962 ein Straßenschild an die Gewalttat.

Hohenschönhausen heute: Die Gedenkstätte zu Erinnerung an die Opfer des SED-Regimes wollte einen Preis für die Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen stiften und nach Walter Linse benennen. Doch damit löste man einen heftigen Streit aus.

Denn jetzt haben Historiker das Leben Linses genauer untersucht, und zwar in der Zeit vor 1945. Der Jurist Walter Linse war während der Nazi-Zeit Referent der Industrie- und Handelskammer in Chemnitz. Zuständig für den erzwungenen Verkauf jüdischer Betriebe, beschönigend „Arisierung“ genannt.

Für den Experten für NS-Justiz Klaus Bästlein steht fest:

Klaus Bästlein, Historiker
„Der hat so gearbeitet wie heute eine gute Bürokratie arbeitet und wie sie auch in der NS-Zeit gearbeitet hat, still, effektiv, schnell und gut. Eine Protokollabteilung im Auswärtigen Amt oder bei der Senatskanzlei muss genauso arbeiten. Tut sie das nicht, gibt’s dauernd Ärger. Linse hat so funktioniert. Er war Teil des Systems. Deswegen sage ich auch im Ergebnis, dass ich sagen muss, Linse ist Täter. Das heißt aber nicht, dass ich seine Person deswegen absolut verdamme.“

Auch der Politologe Benno Kirsch hat lange über Linse geforscht.

Benno Kirsch, Politikwissenschaftler
„Man kommt um die Erkenntnis nicht herum, dass Linse mitgemacht hat und auf seine Weise das System gestützt hat. Er war kein großer Täter, kein Verbrecher, sondern eher ein kleines Rädchen. Das muss man festhalten. Auf der anderen Seite gibt es Indizien, die darauf hindeuten, dass Linse versucht hat, Juden zu helfen.“

Welche Rolle spielte Walter Linse wirklich in der NS-Zeit? Eine Spurensuche: Die Industrie- und Handelskammer in Chemnitz. Ab Mai 1938 arbeitet Linse hier als Referent und übernimmt im Herbst die Abteilung IIIe, zuständig auch für Arisierungen.

Chemnitz, Stadt des Maschinenbaus und der Textilindustrie. Hier hat Linse mit Hunderten von Arisierungsverfahren zu tun. Es gibt Anzeichen, dass Linse jedoch seinen Handlungsspielraum zugunsten der jüdischen Eigentümer nutzte, die von den Nazis enteignet werden sollten. Der Historiker Michael Rudloff hat als erster die Akten im Chemnitzer Staatsarchiv erschlossen.

Michael Rudloff, Historiker
„Alles was ich von Linse kenne, deutet darauf hin, dass er auf keinen Fall Antisemit war. Aber, dass ist das Problem, er hat natürlich im Sinne dieses Systems eine Tätigkeit vollzogen, die verheerende Auswirkungen auf die Betroffenen hatte.“

Buchenwald 1938: Hier werden nach der Reichskristallnacht am 9. November zahlreiche Juden interniert. Die Chemnitzer Juden Alfred Ascher und Gilel Reiter kommen Wochen später frei. Auch Dank des Einsatzes von Walter Linse. Als 1952 seine Entführung überall auf Empörung stößt, weist ein Brief aus Amerika die Bundesregierung darauf hin, dass Linse Alfred Ascher unter Aufopferung seiner Existenz das Leben gerettet habe.

Alfred Ascher war nach Amerika emigriert. Linse also ein Menschenretter und kein Nazi-Täter? Immerhin: Ascher kann 1939 Walter Linse noch aus Brüssel, wohin er zunächst geflüchtet war, bitten, in Deutschland verbliebenes Geld an seine Eltern auszahlen zu lassen.

Michael Rudloff, Historiker
„Linse reagiert tatsächlich, klärt die Situation ab, einerseits in der Industrie- und Handelskammer, ob es hier Einwände gibt, fragt auch beim Regierungspräsidenten nach und bescheidet so etwa nach vierzehn Tagen Ascher, dass von seiner Seite und von der staatlichen Seite keine Vorbehalte für die Auszahlung bestehen.“

Für einen unter den Bedingungen der NS-Diktatur menschlichen Walter Linse spricht auch das Schicksal des Ende November 1938 aus dem KZ-Buchenwald entlassenen Gilel Reiter.

Reiter ist als Maschinenbau-Experte für Präzision und Feinmechanik, Inhaber mehrerer Patente, ein gefragter Mann, auch für die Rüstungsindustrie. Linse sorgt für Reiters Reisegenehmigungen, regt sogar an, dass er keinen „Judenstern“ mehr tragen muss und schlägt ihn als Dolmetscher vor. Beides wird von oben abgelehnt.

Zu Besuch bei Joachim und Benaja Reiter, den jüngsten Söhnen Gilel Reiters. Die Zeit der Angst, der Schikane, der ständigen Bedrohungen, können sie nicht vergessen. Das Schulverbot für jüdische Kinder, die Hänseleien auf der Straße. Der Vater, der sich wöchentlich bei der Polizei melden musste, die Gestapo, die ihn im Visier hatte.

Die Mutter, eine so genannte „Arierin“, bietet zunächst Schutz für die ganze Familie. 1944 stirbt der Vater an den Folgen der im KZ Buchenwald erlittenen Misshandlungen. Bis heute können sich seine Söhne kaum erklären, warum die Familie solange zusammen bleiben konnte, während andere deportiert wurden.

Joachim Reiter, Ingenieur
„Es grenzte an ein Wunder, dass wir noch da waren. Aber wodurch dieses Wunder zustande gekommen ist, darüber sind wir als Kinder nicht mit unseren Eltern ins Gespräch gekommen. Das stand nicht an.“

War Walter Linse für das Wunder verantwortlich oder konnte Gilel Reiter dank der Mischehe, also nur dank seiner nicht jüdischen Frau solange überleben? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

Klaus Bästlein, Historiker
„Der Ehepartner war nicht jüdisch und hat zu seinem jüdischen Ehepartner gestanden. Dann wurden nämlich die jüdischen Menschen nicht deportiert, und das ist genau der Fall Reiter.“

Benno Kirsch, Politikwissenschaftler
„Linse hat sich über die vielen Jahre, in denen er mit dem Fall Reiter befasst war, alle drei Monate für Reiter eingesetzt. Alle drei Monate hat er nämlich ein Gutachten geschrieben, auf Grund dessen Reiter weiterhin in Freiheit geblieben ist und nicht wieder in ein KZ musste.“

Chemnitz 1945. Auch Walter Linse erlebt das Ende des Krieges, den Einmarsch der Russen, wird entnazifiziert und macht Karriere, wird sogar Geschäftsführer der IHK. Seine Vergangenheit, für die Russen – ihre Siegeszeichen im ehemaligen IHK-Gebäude sind noch nicht verblasst, offenbar kein Problem.

Ein Papier über eine bislang unbekannte Chemnitzer Widerstandsgruppe in der NS-Zeit, „Ciphero“, könnte den Ausschlag gegeben haben. Linse wird als Mitglied Nr. 16 geführt. Nach einem Bericht des Sonderausschusses des antifaschistisch-demokratischen Blocks von 1946 …
Zitat:
„… ist Dr. Linse ein Gegner der Nazis gewesen und hat sich deswegen auch der Ciphero-Bewegung zur Verfügung gestellt“.

Linse ein Widerstandskämpfer oder nur ein erfundener Persilschein? Die Meinungen gehen auseinander:

Klaus Bästlein, Historiker
„Das was da geschrieben wird bei Ciphero, ist typisch für die Zeit Mitte 1945. Solche Widerstandsgruppen sprießen überall im Deutschen Reich aus dem Boden, massenweise.“

Benno Kirsch, Politikwissenschaftler
„Für die Existenz von Ciphero spricht in jedem Fall der Zeugenbericht, der nach dem Krieg erstellt wurde und die Nachprüfungen einer Entnazifizierungskommission, die sich mit den als Mitgliedern aufgeführten Menschen sicherlich unterhalten haben.“

Ein Leben in zwei Diktaturen, eine Biographie mit Brüchen. Linse wurde 1953 irgendwo auf dem Moskauer Donskoj Friedhof vergraben. Man muss ihm zubilligen, aus seiner Geschichte in der ersten deutschen Diktatur gelernt zu haben. Er träumte, wie wir heute wissen, von rechtsstaatlichen Idealen. Dafür hat er sich nach 1945 offensiv eingesetzt und Folter in Kauf genommen. Das gilt es immer in Erinnerung zu behalten.

Walter Linse – ein Leben, das nicht so einfach in Schwarz und Weiß einzuordnen ist. Jetzt soll das Münchner Institut für Zeitgeschichte diese Biografie gründlich untersuchen.