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Wo heute Neue Nationalgalerie, Kulturforum und Philharmonie stehen, gab es Anfang des 20. Jahrhunderts prächtige Häuser, Salons und private Kunstsammlungen. Das Geheimratsviertel in Tiergarten war Zentrum für Kunsthandel, Mode, Fotografie, Design und wurde geprägt von jüdischen Familien. Die Mitarbeiter:innen der Kunstbibliothek bringen die Geschichte dieses Ortes wieder ans Licht.
Berlin vor hundert Jahren. Nicht weit vom Potsdamer Platz und der Leipziger Straße das sogenannte Geheimratsviertel und die St. Matthaikirche. Herrschaftliche Villen und großbürgerliche Häuser, in denen Maler und ihre Mäzene, prominente jüdische Kunstförderer lebten.
Der bekannteste von ihnen ist der Verleger und Galerist Paul Cassirer, der in seiner Gemäldegalerie betuchten Damen die neuesten Monets aus Paris präsentiert.
Joachim Brand, Stellvertretender Direktor Kunstbibliothek
"Es war ein großbürgerliches Wohnviertel, man kann sagen dass ein Großteil der wirtschaftlichen kulturellen und auch politischen Elite des Kaiserreichs hier lebte. Und es gab eine große Schicht reicher Sammler, die kann man sich so vorstellen, wie die heutigen Internetmilliardäre, die auch nicht wussten, wohin mit ihrem Geld. Und so begann hier eine ungeheure Sammelleidenschaft, die sich wirklich auf dieses Viertel konzentrierte."
Heute steht hier das Kulturforum. Vor ein paar Tagen, beim Sommerfest: Joachim Brand, der stellvertretende Direktor der Kunstbibliothek und die Historikerin Gesa Kessemeier rühren die Trommel für ihr Forschungsprojekt "Kunstgeschichten des Tiergartenviertels".
Es geht um ein frühes Zentrum der Moderne - und eine glanzvolle Epoche Berliner Kulturgeschichte. Warum ist diese Blütezeit heute ein weißer Fleck in der Erinnerungskultur?
Wo heute die Piazzetta des Kulturforums ist, befand sich damals das Zentrum des Matthäikirchviertels. Nach den Nationalsozialisten unc den Bomben des Kriegs machte die Nachkriegsstadtplanung hier tabula rasa. Es entstand das bahnbrechende Architekur-Ensemble um Scharouns Philharmonie. Und sonst nur Leere.
Weit muss man laufen, um hinter dem neuen Kulturforum eine Spur jenes untergegangenen "Atlantis der Moderne" zu finden. Nur eine Info-Stele erinnert an das Tiergartenviertel. Integriert in die heutige Gemäldegalerie: Die Villa Parey, das einzige erhalten gebliebene Haus.
Gesa Kessemeier, Historikerin
"Historische Detektivarbeit ist meine Leidenschaft. Und als wir angefangen haben hier in der Straße, wussten wir nichts, weil die Matthäikirchstraße ist bislang wirklich überhaupt nicht erforscht worden. Auch den Museen war oder ist nicht klar, was unter ihnen für eine Geschichte verborgen war. Das ganze ist eben ein großes historisches Puzzle. Wir versuchen jetzt, Teile zusammenzusetzen. Das sind eben alles völlig vergessene Menschen, völlig vergessene Biografien, und deshalb muss man dann wirklich richtig in die Archive hier in Berlin gehen."
Seite für Seite durchkämmt Gesa Kessemeier die Berliner Telefonbücher von damals, findet Namen, kombiniert sie mit anderen, bruchstückhaften Informationen.
Gesa Kessemeier, Historikerin
"Diese historische Detektivarbeit beruht wirklich darauf, dass eigentlich zu Beginn so gut wie gar nichts gibt und das man von da, wo man garnichts hat, dann zu einer vollständigen Biografie kommt."
An vergessene Menschen erinnern: Schon bisher gut dokumentiert ist das Leben und Wirken des Galeristen Paul Cassirer. Mitten im Geheimratsviertel – genau da, wo heute die Philharmonie steht – unterhält er damals mit seiner Frau, der Schauspielerin Tilla Durieux seinen glamourösen Kunstsalon. Regelmäßiger Gast: Max Liebermann - deutscher Impressionist, jüdischer Berliner.
In seiner Galerie überrascht Cassirer das illustre Publikum mit Niegesehenem - und riskiert dabei einiges: Die Van Gogh-Gemälde, die er als erster nach Berlin brachte, will anfangs niemand haben.
Joachim Brand, Stellvertretender Direktor Kunstbibliothek SPK
"Man sieht hier das sogenannte Lesezimmer des Salons, dort hingen Bilder, die heute zum Kanon der Kunstgeschichte gehören."
"Er hatte einen wahnsinnigen Blick für Qualität, für das was sich durchsetzt am Markt und auch ein wahnsinniges Verkaufstalent. Und der hat, wenn man so will den Van Gogh auch gemacht hier in Deutschland. Das heißt, er hat ihn am Markt durchgesetzt."
Jeder Gang ins Archiv wird zur Zeitreise in ein faszinierendes Milieu. Berlin war damals Zentrum nicht nur des Kunsthandels, sondern – kaum einer weiß es noch - auch von Mode und Design.
Die Journalistin Julie Elias, damals eine Berühmtheit im Tiergartenviertel berichtet aus dieser Glamourwelt, von den Haute-Couture-Schauen im nahegelegenen Hotel Esplanade.
Ihre Reportagen schillerten wie die Silberlamé-Kleider auf dem Laufsteg.
Gesa Kessemeier, Historikerin
"Man sieht eben: Da werden die neuesten Modetendenzen besprochen, Berliner wie Pariser. Sie hat ihre Kunstsinnigkeit da in Wortbilder gepackt und von Kleidern, die wie die Morgenröte glänzen würden und von Paillettenpanzern, die den weiblichen Körper umfließen gesprochen."
Berlins beste Gesellschaft wohnt im Geheimratsviertel: 1912 allein in der Matthäikirchstraße siebzehn Millionäre, die in erlesenem Ambiente ihre Leidenschaft zelebrieren.
Gesa Kessemeier, Historikerin
"Was alle verbindet, ist eben wirklich diese Kunstbegeisterung. Eigentlich alle diese Familien leben in und mit der Kunst, haben wunderbare Gemälde in ihren Wohnungen hängen. Es waren 15-Zimmer-Wohnungen, wo man auf großem Raum leben und präsentieren konnte."
Die Party endet mit der Herrschaft der Nazis. Das monströse "Haus des Fremdenverkehrs" wird da errichtet, wo vorher die nun verfolgten, beraubten, ermordeten jüdischen Anwohner gelebt haben.
Gesa Kessemeier, Historikerin
"Eigentlich alle Bewohner hier in der Matthäikirchstraße 4 sind nach 1933 als Juden verfolgt worden und mussten emigrieren. Ein Beispiel ist Lucy Mannheim, die berühmte Staatsschauspielerin. Sie entschließt sich dann, dauerhaft nach London zu gehen und ist dann dort sehr bewusst im Widerstand gegen Hitler. Es gibt von hier das bis heute wirklich sehr bewegende Video, die Persiflage des Lilli-Marlen-Songs."
Für die Propaganda-Abteilung der britischen BBC textet Lucy Mannheim die Nazischnulze neu.
"Hitler the man of blood and fear: hang him up at the lantern here!"
1963 wird das "Haus des Fremdenverkehrs" gesprengt. Neuanfang, unbelastet von der Vergangenheit lautet die Devise für die Neugestaltung des Areals. Nach dem faszinierenden Ort, dem Geheimratsviertel verschwindet auch jede Spur von denen, die hier gelebt haben.
Joachim Brand, Stellvertretender Direktor Kunstbibliothek SPK
"Es war ja definitives Ziel der Nationalsozialisten, nicht nur die Leute hier zu vertreiben, also die jüdische Bevölkerung, oder sie zu vernichten in den Konzentrationslagern, sondern es sollte auch die ganze Erinnerung ausgelöscht werden. Das ist ja tatsächlich auch gelungen."
Gesa Kessemeier, Historikerin
"Im Forschungsprojekt haben wir dann eben wirklich versucht, diese bewusst dem Vergessen übergebenen Geschichten - durch die Zeit des Nationalsozialismus - wirklich jetzt wiederzuentdecken und ins aktuelle kulturelle Gedächtnis zurückzurufen."
Autor: Andreas Lueg