Sendung vom 29.12.1985 - Albertz, Heinrich

Günter Gaus im Gespräch mit Heinrich Albertz

Man wälzt den Stein immer wieder nach oben

Heinrich Albertz, geboren am 22. Januar 1915 in Breslau, gestorben am 18. Mai 1993 in Bremen.
Theologiestudium in Breslau, Halle und Berlin. Ab 1939 als Vikar und Pfarrer der Bekennenden Kirche in Breslau und im Kreis Kreutzburg/O.S. tätig. Er wurde von den Nazis mehrmals verhaftet und verhört.
1941 an die Front geschickt, erhielt er 1943 wegen eines Fürbitte-Gottesdienstes für Pastor Martin Niemöller eine längere Freiheitsstrafe. 1947 als erster Flüchtlingsabgeordneter in den niedersächsischen Landtag gewählt, ab 1948 Flüchtlingsminister der Regierung. 1955 Senatsdirektor beim Senator für Volksbildung in Westberlin und Bundesvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt.
1966, als Willy Brandt nach Bonn wechselte, war Albertz dessen Nachfolger als Regierender Bürgermeister von Berlin. In seine Amtszeit fielen der Besuch des Schahs von Persien in Berlin, die Protestdemonstrationen und der Tod des Studenten Benno Ohnesorg, der am 2. Juni 1967 von einem Polizisten erschossen wurde.
Dies war Anlaß für Albertz, am 26. September 1967 zurückzutreten.
Im Herbst 1970 verließ er die Berliner SPD und wurde Mitglied des SPD-Bezirksverbandes Rheinland-Hessen-Nassau. Im August 1971 übernahm er im Kirchenkreis Berlin-Neukölln eine Kreispfarrstelle, und ab 1974 war er Pfarrer der evangelischen Gemeinde von Berlin-Schlachtensee. Im März 1979 trat er auf eigenen Wunsch mit 64 Jahren vorzeitig in den Ruhestand.
Als "Vermittler zwischen Politik und Gegenkultur" ("Der Spiegel") flog er 1975, als die anarchistische "Gruppe 2. Juni" den Berliner CDU-Vorsitzenden Lorenz entführt hatte, mit den freigepreßten fünf Terroristen nach Aden.
Veröffentlichungen u. a.: "Dagegen gelebt", "Warum ich ein Christ bin","Störung erwünscht – meine Worte zum Sonntag", "Blumen für Stukenbrock. Biographisches", "Die Reise … Bericht über eine Fahrt nach Breslau 1984", "Am Ende des Weges".
Das Gespräch wurde gesendet am 29. Dezember 1985.

Gaus: Mein heutiger Partner ist ein Mensch, der durch sein Handeln und Reden und Schreiben die anderen, die übrigen Zeitgenossen polarisieren kann. Entweder ist er Vorbild oder erklärter Feind: Heinrich Albertz, im Januar 1915 in Breslau geboren, evangelischer Theologe, sozialdemokratischer Politiker und Rücktritt vom Regierenden Bürgermeisteramt von Berlin nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg, jemand, der mit den Terroristen nach Aden geflogen ist, als Peter Lorenz entführt war, jemand, der hoch unbequeme Meinungen über uns, unsere Gesellschaft, den Zustand unseres Staates fällt – der Deutsche Heinrich Albertz. – Sie haben, Herr Pastor Albertz, vor einigen Tagen noch einmal mit einigen Freunden vor einer amerikanischen Raketeneinrichtung bei Heilbronn gegen weitere Aufrüstung demonstriert. Es ist darüber in unserer Öffentlichkeit kaum noch berichtet worden. Es wirkte auf uns wie ein letztes Aufflackern der vor zwei Jahren, 1983, so großen westdeutschen Friedensbewegung. War es für Sie, was nicht wenig wäre, nur noch das persönliche Bekennen einer Überzeugung, ohne daß man noch an politische Wirkung glaubt?

Albertz: Nein, das war mehr. Also, natürlich ist es ein bißchen wie die Geschichte – jetzt fang ich gleich mit einer biblischen Geschichte an, es ist schlimm ...

Gaus: Bitte, Herr Pastor.

Albertz: Also nach der Auferstehung gibt es noch eine solche Geschichte. Wie am See Genezareth die Fischer, die fischen wieder nichts ... Da ist ein Mann und sagt, fahrt nochmal hin ... Also, das "Trotzdem" spielt eine gewisse Rolle. Aber letztes Aufbäumen? Das stimmt doch gar nicht! Wir sind dort völlig eingebettet gewesen in ganz aktive Friedensgruppen. Richtig ist, daß es sehr viel schwieriger war als vor zwei Jahren, Öffentlichkeit dafür zu gewinnen. Ich habe heute, zwei Tage später, Gott sei Dank in einigen Zeitungen was darüber gelesen.

Gaus: Sie haben, Herr Albertz, vielen Menschen helfen können, als evangelischer Flüchtlingspfarrer gleich nach dem Krieg in der Lüneburger Heide, als sozialdemokratischer Flüchtlings- und Sozialminister in Niedersachsen in der Gründerzeit der Bundesrepublik Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre. Aber fürchten Sie nicht manchmal, es sei geradezu das Grundmuster Ihres politischen Lebens, zwar im Einzelnen sinnvoll, hilfreich tätig gewesen zu sein, auch als Person Farbe bekannt zu haben und damit für manche ein Vorbild zu werden, aber gleichzeitig aufs Ganze gesehen nicht haben verhindern zu können, daß die Dinge, jedenfalls nach Ihrer Meinung, einen bösen Verlauf nehmen. Ist das ein Grundmuster Ihres politischen Lebens, im einzelnen zufriedenstellend, im Ganzen gescheitert?

Albertz: 50 Jahre ... Ich weiß nicht, ob das richtig ist, die Einschätzung. Sicher, man hat viel helfen können. Richtig ist, daß alle Vorstellungen, um nicht zu sagen Utopien oder Träume, die man 1945 hatte – noch bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes –, daß davon ganz wenig Realität geworden ist und daß es mir immer gefährdeter erscheint, auch was im Grundgesetz steht. Und die berühmte Geschichte, die uns die Studenten 1967/68 ja bis zum Überdruß gesagt haben, man müsse die Strukturen ändern – das war ja damals das Schlagwort –, das ist ja nur sehr zögernd, wenn nicht gar nicht passiert. Es ist ja Restauration überall.

Gaus: Also: Im Ganzen gescheitert.

Albertz: Gescheitert würde ich nicht sagen. Es ist wieder dieselbe Frage, ich kann Ihnen jedes mal mit Sisyphos kommen: Man wälzt den Stein immer wieder nach oben. Bloß: Es ist mir völlig bewußt, daß Caritas, das Helfen im einzelnen, nicht ausreicht.

Gaus: Ich werde darauf noch kommen. Diese Fähigkeit, den Stein immer wieder nach oben rollen zu wollen und auch streckenweise zu rollen, zäh und unverdrossen zu sein, das kann viele Wurzeln haben, Herr Albertz. Die Zähigkeit und Unverdrossenheit, mit der Sie sich, bei aller Skepsis, immer wieder engagieren, wurzeln diese Zähigkeit, diese Unverdrossenheit bei Ihnen in Ihrem christlichen Glauben?

Albertz: Sicher auch. Aber da spielt ja vieles mit, also auch ein sehr altmodisches Pflichtbewußtsein, das nicht Aufgeben sollen oder dürfen. Ich weiß es nicht. Aber sicher die Grundwurzel ist es. Der Staeck hatte jetzt so ein herrliches Karikaturenbuch rausgegeben, wo wir alle ganz häßlich abgebildet sind. Er nennt das Staeck-Brief, und da steht bei mir drunter: Gefährlicher Wiederholungstäter.

Gaus: Glauben, den eigenen persönlichen Glauben, Herr Pastor, kann man ja wohl nicht erklären. Aber kann man vielleicht die Art, in der jemand glaubt, charakterisieren? Wenn man Predigten von Ihnen oder Fernsehworte zum Sonntag nachliest, da kann man meinen, ich jedenfalls meine es, Ihr Glaube an Jesus Christus sei ebenso naiv wie in einem Kinderkatechismus geradezu, als auch konkret handfest, ohne komplizierten theologischen Überbau. Würden Sie eine solche Charakterisierung für Ihren Glauben akzeptieren?

Albertz: Ja, und ich glaube, das ist nicht das Schlechteste. Also meine theologischen Kollegen sind immer ein bißchen ärgerlich, wenn ich öffentlich sage, daß ich von dem theologischen Überbau nicht so sehr viel halte. Er kann helfen, sogar beim Predigen. Aber der, von dem wir hier sprechen, hat ja selber gesagt, man solle werden wie die Kinder. Und was Sie Naivität nennen und was man ruhig so nennen kann, es schreckt mich nicht, es ist für mich einfach Ausdruck eines Grundvertrauens. Glauben ist für mich ein Stück Grundvertrauen, und da ich nicht weiß, wie Gott aussieht und seinen Namen nicht kenne und das alles ja in allen Religionen unsichtbar ist, halte ich mich also an den, dessen Namen, den wir, glaube ich, schon drei Mal im Gespräch genannt haben.

Gaus: Ist diese Naivität mit dem Alter stärker geworden?

Albertz: Ja. Das sagt man ja auch abgesehen vom christlichen Glauben: daß man, wenn man älter wird, ein bißchen näher wieder an die Kindheit rückt.

Gaus: Für viele Leute, für viele Zeitungen rechts von der Politikmitte der Bundesrepublik sind Sie, Herr Albertz, in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren immer wieder einmal der erklärte Feind gewesen, der Protestant Albertz, ähnlich wie der jüngst verstorbene Katholik Böll. Gelten dann und wann als Verfassungsfeind, als Sympathisant von Terroristen – was immerhin einiges heißen will, denn Sie waren ja doch mal auch Regierender Bürgermeister von Berlin, also Ministerpräsident des Quasi-Bundeslandes Berlin-West. Wie erklären Sie sich die Feindseligkeit, die Ihnen von manchen entgegenschlägt.

Albertz: Ja, das ist sehr schwer zu erklären. Erstens schmerzt es. Ich habe ja gar nichts gegen politische Kritik, aber es ist weitgehend böswillig gewesen, gerade auch Böll gegenüber, und so sinnlos. Also woher es kommt, ich weiß es nicht. Vielleicht, weil man einer von wenigen ist, um bei der folgenden Frage noch mal fortzusetzen, die auf der einen Seite ziemlich naiv bestimmte Dinge sagen, von denen andere nicht reden, und die sich eine gewisse Unabhängigkeit haben bewahren können. Einer, von dem man weiß, daß er jedenfalls versucht, dieser deutsch-nationalen Welle immer gegenzuhalten. Am meisten haben sich die Leute ja aufgeregt – das hat ja was auch mit dieser Terrorismussache zu tun –, als ich unmittelbar danach gesagt habe, nun regt euch mal nicht so furchtbar auf: Jeder von uns Älteren muß sich selber sagen, es könnten unsere Söhne und Töchter sein. Das wollen die Leute nicht hören.

Gaus: Sie entstammen, Herr Albertz, einem konservativ preußischen Pastorenhaus. Ihr Vater war Oberkonsistorialrat in Breslau. Zum Familienhintergrund Ihrer Mutter, einer Lehrerin, gehörten mehrere Generationen pommerscher Geistlicher. Der junge Heinrich Albertz, im Jahre 1915 geboren, hatte gerade Abitur gemacht und schickte sich an, Theologie zu studieren, als Adolf Hitler Anfang 1933 die Macht in Deutschland übernahm. Für eine kurze Dauer, Herr Albertz, für etwa zwei Monate, sind Sie damals in Breslau mitgelaufen mit der SA. Was hat Sie dazu veranlaßt? War das der Versuch einer Selbstfindung in einem nationalen Rausch?

Albertz: Nein, das war zunächst mal äußerlich, ja sogar Zwang. Also jeder, der das erste Semester in Breslau anfing, mußte in die sogenannte Studenten-SA. Aber ich gebe zu ...

Gaus: Sie liefen mit ...

Albertz: Ja, wir liefen mit, und ich war in dieser Welle mit drin. Das war also vor dem Hintergrund dieses deutsch-nationalen Hauses ein Gefühl der Befreiung, ein Gefühl, plötzlich unter vielen Menschen zu sein. Meine Mutter hat das ja auch zunächst gebilligt. Ich war sehr auf meine Mutter fixiert. Sie war eine große Verehrerin von Hindenburg, und sie hat immer gesagt, wenn der alte Herr das für richtig hält, dann muß es doch richtig sein. Sie hat dann auch sehr viel früher als andere gemerkt, worum es sich handelte. Am 30. Juni 1934, von da an war der Hitler für sie ein Mörder.

Gaus: Sie waren erst mal für zwei Monate dabei.

Albertz: Ja, und verdanke es nur einem ...

Gaus: Darauf will ich kommen. Sie verdanken die Abkehr Ihrem sehr viel älteren Bruder, dem um eine ganze Generation älteren Halbbruder. Ihr Mutter war die zweite Frau Ihres Vaters. Die erste Frau war gestorben. Dieser Bruder war Pfarrer in Berlin, und Sie haben auch geschrieben, daß Sie mit ihm im Sommer 1933 ein langes Gespräch geführt haben und daß Sie von Stund an, vom Sommer 1933 an, nach diesen kurzen wenigen Monaten, immun waren gegen die nationalsozialistische Verführung. Das klingt ganz einfach. Es ist aber für mich so noch nicht ausreichend erklärt, wenn ich das nachlese bei Ihnen. Was hat der Bruder Ihnen gesagt? Was hat er Ihnen für Gründe vorgeführt, daß er Ihnen die Augen öffnen konnte und daß Sie nicht wieder in Versuchung geführt wurden?

Albertz: Ja, also so weit ich mich daran erinnere, hat er mir in sehr massiver Weise eigentlich alles vor Augen geführt, was dann eingetreten ist. Er hat mir vorgeführt: Wir kommen hier in eine Zeit von Gewalt und Rechtsbruch und Auflösung von aller Menschlichkeit. Und er hat mir natürlich als ein Christ, als ein Pfarrer und als mein Bruder und in dieser Familie gesagt, das wird eine Sache, die letzten Endes auf das erste Gebot zuläuft. Die werden sich an die Stelle Gottes setzen, und du hast das und das gelernt. Damals spielte nämlich das erste Gebot in allen meinen Predigten zum Lächeln meiner Gemeinde eine zentrale Rolle: Du sollst keinen anderen Gott haben neben mir.

Gaus: Aber ich bin immer noch nicht ganz zufrieden. Sie waren 18 Jahre alt. Sie waren für kurze Zeit mitgelaufen bei der Breslauer SA. Ich kann es mir nur sehr schwer vorstellen, wie ein 18jähriger durch die Ausführungen, die Sie eben skizziert haben, eines um mehr als 30 Jahre älteren Halbbruders zur Besinnung kommen kann. Können Sie sich genauer daran erinnern oder ist das etwas, was Sie einfach inzwischen als ein gütiges Geschick dieses Gespräch im Sommer 1933 hinnehmen und auf sich berufen lassen wollen?

Albertz: Nein, ich will das gar nicht auf sich beruhen lassen. Ich meine, es ist so gewesen. Aber ich sage freimütig, und mein Bruder war ja klug, heute wäre das moderne Psychologie, was er machte: Er hat mich gleich beschäftigt, er hat gesagt, wir brauchen dich jetzt. Er hat mir gesagt, in Breslau gibt es solche kleinen Gruppen, geh’ da mal hin, tu mal was. Das hat mich dann auch sehr schnell fasziniert. Diese ganze Zugehörigkeit eines 18-, 19-, 20-jährigen Studenten zu diesen ersten Schritten der Bekennenden Kirche war ja auch, ganz offen gesagt, ein Stück aufregendes Abenteurertum, nicht ganz ungefährlich. Das hat mich sehr stark gleich in Anspruch genommen. Da ich Gott sei Dank schon im ersten Semester, nein, im zweiten Semester die erste Rüge von der Universität bekam, weil ich Flugblätter der Bekennenden Kirche in der Universität verteilt hatte, hat das auch geholfen.

Gaus: Also Bekennende Kirche, jene evangelischen Christen, zu denen Martin Niemöller gehörte, die ihren Widerstand gegen nationalsozialistische Eingriffe und Übergriffe – in das kirchliche Leben, in das kirchliche Regiment – leisteten. Aber es war doch wohl ein thematisch eng begrenzter Widerstand. Sie selber, Herr Pastor Albertz, schreiben in der Erinnerung darüber: "Wir saßen auf den Inseln des Glaubens und des Gebets." Ende des Zitats. Meinen Sie heute, die Opposition der Bekennenden Kirche wäre nicht politisch genug gewesen und leiten Sie daraus Selbstvorwürfe ab?

Albertz: Ja, also nicht direkt politisch ... Sie hat unglaubliche indirekte politische Wirkung gehabt. Das war der einzige akademische Stand – das ist die Ehre, die an diesem Vorgang hing –, der in die Illegalität gegangen ist, einfach dadurch, daß er sich den Behörden entzogen hat, den kirchlichen und den staatlichen. Aber: Der eigentliche Widerstand, und hier gebrauche ich das Wort, es war ja schon ein Stück Widerstand – sonst bin ich sehr vorsichtig bei diesem Wort –, der hatte ja doch angefangen gegenüber einem Eingriff des Staates in die kirchlichen Strukturen und der Zumutung, staatliche Gesetze in der Kirche anzuwenden. Auch sehr ehrenvoll, das war der "Arierparagraph".

Gaus: Gegen den sich die Bekennende Kirche wandte.

Albertz: Nicht gegen den "Arierparagraphen" im Ganzen, das ist ja nun der Punkt, sondern auf den Pfarrer gesetzt, auf die kirchlichen Mitarbeiter.

Gaus: Das ist Ihnen heute ein zu eng begrenzter Widerstand?

Albertz: Das ist ein ganz eng begrenzter Widerstand gewesen, das wird inzwischen auch durch unzählige historische Arbeiten belegt. Es ist eine Legende, zu meinen, daß die Bekennende Kirche nun gegen Konzentrationslager und alle Unrechtshandlungen und Judenverfolgungen massiv und bei Kriegsanfang jedes Mal den Mund aufgemacht hat. Das waren immer nur Einzelne, ein paar tapfere Gruppen. Und der, der der Heilige ist in der Bekennenden Kirche, Dietrich Bonhoeffer, der den Rubikon überschritten hatte zum wirklichen politischen Widerstand mit allen Konsequenzen – der ist immer ein Außenseiter gewesen.

Gaus: Heute wird wieder darüber gestritten, wie weit das öffentliche, das weltliche, das politische Engagement der Kirchen gehen soll oder darf. Seit es in der Bundesrepublik unter den Kanzlern Schmidt und Kohl eine Rückbesinnung aufs Konservative gegeben hat, hört man öfter, die Kirche möge bitte bei ihrer religiösen Verkündigung bleiben und die Politik den Fachleuten, den Politikern, überlassen. Es ist nun bekannt, daß Sie dem nicht zustimmen, Herr Albertz, aber gehen Sie so weit zu argwöhnen, die vielfach geforderte Entpolitisierung sei bewußt oder unbewußt ein Appell an die Kirchen, bequeme, brave Staatsbürger mit heranzuziehen?

Albertz: Ich glaube sogar, das ist bewußt. Die Formeln sind ja so vertraut. Es ist ein bißchen erschreckend, denn es läuft ja letzten Endes auf die Rezepte heraus, die auch die Nazis und die Kommunisten anwenden. In dem Fall sind sie ja sehr ähnlich. Die Kommunisten machten es ein bißchen geschickter: Konzentrierung oder Einschluß der Kirche in ihre eigenen Gebäude – du bist für die Seele oder für das Jenseits da. Das sind alles ganz alte Hüte. Und die wurden wieder vorgeholt, nachdem deutlich war, daß insbesondere in der evangelischen Kirche sich da ein politischer Sinneswandel vollzogen hat, der atemberaubend ist. Es war ja eine deutsch-nationale Pastorenkirche, und es ist heute weitgehend bei den jüngeren Pastoren und Mitarbeitern, jetzt mal politisch gesehen, eine eher nach links, in die liberale Ecke gehörende Gemeinschaft geworden. Das ist unbequem. Das will man nicht hören. Im übrigen kann ich das alles gar nicht mehr hören, es langweilt mich ... daß Sie mich jetzt gefragt haben, daß es immer wieder öffentlich vorkommt ...

Gaus: Aber: Woraus rechtfertigen Sie das weltliche Engagement der Kirche? Verkürzen Sie damit nicht doch einigen Gemeindemitgliedern das, was sie in der Kirche erwarten?

Albertz: Aber lieber Herr Gaus, wenn ... Also, soll ich nochmal das erste Gebot aufsagen?

Gaus: Wann immer Sie wollen!

Albertz: Wenn ich das ernst nehme und wenn ich Leben und Lehre Jesu ernst nehme und wie er geendet ist, dann gibt es doch überhaupt gar keine andere Antwort auf diese Frage, als daß das Himmelreich, ich sage es jetzt mal so altmodisch, nicht eine Sache ist, die irgendwo nach dem Jüngsten Tage beginnt. Und wenn das auch ein bißchen überstrapaziert worden ist mit der Bergpredigt und den Seligpreisungen und allen möglichen rigorosen Forderungen – es gibt ja viele andere Beispiele auch –, dann kann ich doch das trotzdem gar nicht lesen, ohne mich zu fragen: Wie ist das heute hier, jetzt für mich und für die Gemeinde anzuwenden, dort wo ich lebe? Der Stachel ist da, und wenn ich das Alte Testament lese, dann ist das ein wirklich hochpolitisches Buch.

Gaus: Was ist Ihr Urteil politisch wie kirchenpolitisch, Herr Albertz, über Johannes Paul II., den Papst Wojtyla aus Polen?

Albertz: Also, als er gewählt wurde, an dem Abend, als die Nachricht kam – ich bin ja ein sentimentaler Ostdeutscher mit vielleicht etwas slawischem Blut ...

Gaus: Wenn man Ihre Bücher liest, Ihre Erinnerungen, hat man den Eindruck, Sie haben nahe am Wasser gebaut.

Albertz: Das wollte ich jetzt sagen: Da haben meine Frau und ich geheult. Ein Pole ist Papst! Dann habe ich ihn bei seiner ersten Karfreitag-Liturgie in St. Peter erlebt, als er Papst geworden war, und er hat mir einen unglaublichen Eindruck gemacht, als Mensch, wie er dort am Altar stand. Dann gab der deutsche Botschafter beim Vatikan ein kleines Frühstück für mich, das war ein höflicher Mann, ich war ja ohne jedes Amt, und da kamen Leute aus der Kurie und haben mir gesagt, Herr Albertz, wir verstehen ja, daß Sie so berührt sind, aber Sie wissen doch, da kommt einer, der wird es uns ganz schwer machen, das, was Johannes XXIII. wollte, fortzusetzen und zu entfalten. Die haben Recht behalten. Und seitdem bin ich oft sehr traurig und bedrückt über vieles, was nun dieser polnische Papst da tut.

Gaus: Herr Albertz, als Sie Mitte der 50er Jahre von Hannover nach Berlin-West gingen, war Ihre weitere politische Karriere eng mit Willy Brandt verbunden. Und es gibt dazu viele Fragen, eine nach der anderen. Sie wurden, als Brandt Ende 1966 als Außenminister der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD in die Bundesregierung in Bonn eintrat, der Nachfolger als Regierender Bürgermeister von Berlin. Viele Fragen, die dramatischste, die mit tragischem Hintergrund zuerst gestellt: Am 2. Juni 1967, als Sie Regierungschef von Westberlin waren, wurde bei Demonstrationen gegen Ihren Staatsgast, den Schah von Persien, der Student Benno Ohnesorg von einem Westberliner Polizisten erschossen. Wenige Monate danach, Ende September 1967, traten Sie als Regierender Bürgermeister zurück und kehrten in der Folge in den Pastorenberuf zurück, freilich stets mit einem sehr politischen Engagement. Vor dem Rücktritt hatten Sie bereits massive Schwierigkeiten mit dem rechten Flügel Ihrer Partei, der SPD, in Berlin bekommen. Die dramatische Frage nun also: Können Sie selber aufrichtig auseinander halten, ob Sie damals aus einer Mischung aus eigenen Schwierigkeiten resignierten oder ob der entscheidende Grund der Tod des jungen Menschen war, vor dessen Hintergrund Ihnen die politischen Sachzwänge, die dauernde Suche nach Kompromissen, um Mehrheiten zu finden, als allzu nichtig und unwichtig erschienen?

Albertz: Ja, das könnte eine mögliche Beschreibung der damaligen Situation sein. Natürlich ist durch den Tod dieses Studenten, der formal mit mir ja nichts zu tun hatte … übrigens frage ich mich, wie lange wir noch bei diesem 2. Juni sind, nachdem so viele andere durch Staatsgewalt ums Leben gekommen sind – kein Hahn kräht danach … Also: Das war damals für mich eine furchtbare Belastung und eine im engen und weiten Sinne zugleich politische Verantwortung – obwohl ich direkt damit nichts zu tun hatte. Der Rücktritt ist allerdings dann auf einer doppelten Ebene eigentlich zu Stande gekommen. Erstens dieser Hintergrund, diese Wunde, die damals noch furchtbar schmerzte, und daß man der eigenen Fraktion nicht klar machen konnte: Dieses alles ist jetzt nicht weiter mit Polizeigewalt zu erledigen. Aber andererseits waren natürlich auch die ganzen Proteste, die innere Lage der Westberliner SPD, die ja immer mehr eine Laufbahnpartei des öffentlichen Dienstes geworden war, und die Kleinkarierten, im bösen Sinne, die mir dann ja auch Personalien aufzwingen wollten, die ich nicht verantworten konnte. Das war dann wirklich so zweitrangig und drittrangig, daß ich nicht mehr konnte und nicht mehr wollte.

Gaus: Diese skeptisch traurige Sicht auf die Berliner SPD, haben Sie die immer noch?

Albertz: Ja, die habe ich immer noch, und zwar bin ich sehr traurig darüber, daß alles nichts geholfen hat, die Zeit mit Jochen Vogel und jetzt nach den großen Niederlagen schon gar nicht. Ich weiß nicht, wie in Berlin eine ernsthaftere Opposition zustande kommen kann. Ich rede jetzt bewußt nur von Opposition für die nächsten Jahre. Von der Regierung ganz zu schweigen.

Gaus: Wie erklären Sie die weit verbreitete Parteienverdrossenheit im Land, allgemein, nicht nur auf die Berliner SPD beschränkt?

Albertz: Ich meine, das ist doch wohl einfach so zu erklären, daß für viele, insbesondere für die Jüngeren, Gesagtes und Getanes, Geschriebenes und dann Wirklichkeit Gewordenes so weit auseinander klafft, daß man nicht mehr – jetzt sage ich das mal in einem anderen Zusammenhang, dies Wort „Glauben“ – daß man nicht mehr glauben kann, was da passiert. Die Ansprüche sind Gott sei Dank doch bei vielen höher, als sie dann erfüllt werden können. Ich habe das Gefühl, daß sich das politische Handeln bei uns im Lande – ich weiß nicht, wie es anderswo ist, wir reden ja von uns – immer mehr entfernt von dem, was wirklich geschieht.

Gaus: Das heißt, die Politik lebt in einer Art Ghetto, weit weg vom real existierenden Leben?

Albertz: Das ist sehr viel schlimmer geworden als zu den Zeiten, da ich noch dabei war. Wobei ich auch ehrlich zugebe, das hat auch einen ganz äußeren Grund: Wenn ich mir vorstelle, ich würde Tag und Nacht von Sicherheitskräften bewacht bis ins eigene Haus hinein, könnte keinen Schritt mehr gehen ... Es gibt ja gar keinen normalen Kontakt mehr.

Gaus: Nach dem Tod Benno Ohnesorgs, nach Ihrem Rücktritt, hatten Sie da auch für sich eben den Eindruck: Ich, Heinrich Albertz, wenn ich im politischen Amt bleibe, kann die Kluft zwischen meinem selbst erhobenen Anspruch und dem, was ich als Politiker leisten kann, nicht mehr schließen?

Albertz: Ja. Also ich habe wirklich das empfunden, was man ja heute auch mit einem inzwischen mißbrauchten Wort "Identitätskrise" nennt. Das war es damals. Oder um es deutsch zu sagen: Ich hatte wirklich die Angst – jetzt verlierst du endgültig dein Gesicht. Es hingen da 20 Jahre dran, wir reden jetzt immerzu nur von dem Regierenden Bürgermeister.

Gaus: Ja, natürlich. Sie waren Minister gewesen. Sie waren Chef der Senatskanzlei unter Brandt gewesen. Sie waren Innensenator gewesen.

Albertz: All diese Ämter meine ich jetzt gar nicht so sehr. Es war einfach die Länge der Zeit, und es lagen unendlich viele Geschichten schon hinter einem. Von 1947 bis 1967 waren es 20 Jahre. Da muß man dann mal wieder raus aus der Politik.

Gaus: Würden Sie es gut finden, wenn es für Politiker sozusagen eine gesetzlich begrenzte Zeit gebe, in der sie Politik machen?

Albertz: Ja, ja. Die Grünen haben es ja nun überzogen mit der Rotation. Das halte ich für unmöglich. Aber daß es immer mehr diesen Typ – wo gibt es denn noch was anderes? – des Berufspolitikers gibt und daß sich das dann so festläuft und daß es immer mehr sind, die wissen, wenn sie aus dem politischen Geschäft herauskommen, dann fallen sie ins Leere, weil sie oft nichts anderes gelernt haben, im Höchstfalle Politologie – das ist schlimm. Ich weiß nicht, was man da machen kann. Man kann das sicher nicht verhindern.

Gaus: Natürlich nicht. – Ich komme auf einen Punkt zurück, den Sie ziemlich am Anfang unseres Interviews berührt haben. Nach Kriegsende 1945 gab es manchen guten politischen Vorsatz unter den Deutschen. Wenn diese nicht in seinerzeit erhofftem, beschworenem Umfang verwirklicht worden sind, um es zurückhaltend auszudrücken – liegt das etwa vor allem daran, daß die Menschen inzwischen zusammen mit den wirtschaftlichen Verhältnissen sozusagen wieder normal geworden sind? Ist mehr, als sie jetzt mehrheitlich an Engagement, an Nachdenklichkeit, an Skrupeln aufbringen, ist mehr normalerweise eben nicht von ihnen zu erwarten?

Albertz: Meine These ist ja: Die Schwierigkeiten, nach denen Sie jetzt noch mal fragen, die haben ihren Grund wohl darin, daß es uns zu schnell so gut gegangen ist, daß also das Ganze so gut gehen konnte. Das Wechselbad, in dem wir damals waren, vom diffamierten, völlig an den Rand gestellten, mit Recht mit aller Schuld belasteten Volk innerhalb von drei Jahren plötzlich auf die Seite der Sieger zu rutschen – das ging alles so schnell, daß von Besinnung schon gar keine Rede sein konnte. Durch alle die bekannten Vorgänge des Wirtschaftswunders hat die erreichte Normalität eben dazu geführt, daß neue Anfänge ganz schwierig waren. Ich habe überhaupt keinen Vorwurf gegen die Mehrheit dieses Volkes. Daß das so gelaufen ist, das wäre vermutlich in jedem anderen Volk genauso gelaufen. Aber es ist tief traurig, weil die große Chance, die diese entsetzliche Niederlage uns eigentlich hätte bringen können, eben nicht die Befreiung hin zu einem wirklichen Anfang wurde.

Gaus: Wenn Sie so barmherzig sind in Ihrem Verständnis für die Menschen, hadern Sie manchmal mit dem lieben Gott, Herr Pastor, daß er den alten Adam und wohl auch die alte Eva so manipulierbar, so beschränkt geschaffen hat, als wie sie sich immer wieder erweisen.

Albertz: Ja, ich hadere oft mit ihm, von dem ich nicht weiß, wie er heißt und wie er aussieht.

Gaus: Hadern Sie aber auch deswegen mit ihm?

Albertz: Auch deswegen.

Gaus: Würden Sie sagen, weswegen Sie gelegentlich noch mit ihm hadern?

Albertz: Wenn man es ernst nimmt, was man sagt und als Vertrauen auch vermitteln will: Bei jeder schrecklichen Gewalttat, bei jedem Unglück, bei eben auch so viel Dummheit fragt man, wie kann das kommen, wie ist der Mensch angelegt? Da ich ja sage, er ist ein Geschöpf Gottes und sage, man sollte in jedem Menschen ein Stück dieses Antlitzes wiedererkennen können, ist das oft sehr schwierig. Aber wir wollen jetzt keine Theologie betreiben.

Gaus: Noch eine Frage in diesem Zusammenhang, ganz auf Ihr eigenes Leben bezogen, Herr Albertz: Politisch, protokollarisch, von der Macht her, hatten Sie ein stärkeres Gewicht in Berlin als in Hannover, wo Sie sozusagen in kleinen politischen Verhältnissen 1948 bald nach Berlin kamen. Aber wenn Sie nun als ein alter Mann zurückblicken, wo sehen Sie Ihre tiefere politische Spur und Erfüllung, in Celle oder Hannover oder in Berlin?

Albertz: Nicht in Berlin.

Gaus: Nicht in Berlin, wo Sie Regierender Bürgermeister waren?

Albertz: Nein. So wichtig das alles war, aber für mich ist diese Zeit von 1945 bis ‘55, sind diese zehn Jahre – wenn ich jetzt als alter Mann zurückdenke, ich lasse Krieg und alles vorher weg – die wichtigste Zeit meines Lebens. Gerade auch wegen der politischen Arbeit, weil damals die, Sie sagen "kleinen Verhältnisse" ... was heißt hier übrigens "kleine Verhältnisse"! Für mich sind fast alle wichtigen Dinge vor der Gründung der Bundesrepublik passiert. Da waren ja auch noch Männer da! Die Ministerpräsidenten der Länder waren damals noch gestandene Leute.

Gaus: Es war bei Ihnen Hinrich Wilhelm Kopf.

Albertz: Der großartige Wilhelm Kopf. Ich will sie nicht alle aufzählen, das hat jetzt gar nichts mit den Parteien zu tun, bis hin zu Leo Wohle, den ich sehr geliebt habe, den heute außerhalb der Grenzen bei uns niemand kennt. Daß diese unglaubliche Sache sich vollzog in der Situation, in der wir damals waren, und ich beteiligt sein konnte an den besonderen Problemen der Integration von Millionen Menschen, die zu uns gekommen waren …

Gaus: Als Flüchtlingspfarrer und Flüchtlingsminister ...

Albertz: Ja, das war eine Sache, die schon ganz groß war und die ja auch letzten Endes – wenn man als Mensch so weit zurückblicken kann – gelungen ist. Bis auf die verrückten Hupkas und Czajas und leider ihre Mitredner auch in bestimmten Ecken der Regierungsfraktion ist doch dieses Zusammenwachsen gelungen. Die Flüchtlinge – sie sind da, sie sind Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland geworden und haben eingebracht von drüben, was sie mitbringen konnte und keiner will zurück.

Gaus: Halten Sie dieses, Ihr Mitwirken an dieser Integration, am Ende für Ihre befriedigendste politische Leistung?

Albertz: Ja.

Gaus: Sie haben oft gesagt, ein schlimmes Übel unter uns Deutschen sei, daß wir mit unseren Minderheiten, mit Außenseitern, mit Abweichlern nicht zurecht kämen. In Blick auf die Bundesrepublik führen Sie in solchem Zusammenhang zum Beispiel den Radikalenerlaß an und auch einen geradezu irrationalen Antikommunismus. Haben Sie eine Erklärung für solche deutsche Art?

Albertz: Ja, ich weiß nicht. Ist es deutsche Art?

Gaus: Sie können sagen: "Nein." Sie können sagen: Es ist Menschenart.

Albertz: Es ist wohl weitgehend Menschenart, nach allem, was man so hört, aus England oder ich weiß nicht woher.


Gaus: Ich meine, das entbindet uns ja nicht.

Albertz: Die Sache mit dem Antikommunismus ist ja eine Geschichte, die mich unglaublich aufregt, weil es eben diesen ungebrochenen Boden gibt, vom Antikommunismus der Weimarer Republik über Hitler, dies und das, ohne jede Pause in unsere Zeit hinein. Man kann bestimmte Reden aus den Jahren 1947 und 1948 von einem so verehrungswürdigen Mann wie Ernst Reuter nur mit Erschrecken lesen. Und das hat sich so festgesetzt, daß jeder, der da nur ein bißchen differenziert, dann plötzlich selber zu der Minderheit gehört.

Gaus: Als der Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz 1975 entführt und dann gegen inhaftierte Terroristen ausgetauscht wurde, verlangten die Entführer, daß Sie, Herr Albertz, die Freigepreßten auf dem Fluggelände im Nahen Osten begleiteten, als eine Vertrauensperson, die sicherstellen sollte, daß die Polizei, der Staat kein falsches Spiel treiben. Sie flogen also mit. Peter Lorenz kam danach frei. Dazu zwei Fragen. Zunächst diese: Fanden Sie die damalige Entscheidung der Bonner Regierung richtig, die Forderung der Terroristen zu erfüllen, und hätte man das nach Ihrer Meinung aus humanitären Gründen auch im späteren Fall Schleyer tun sollen?

Albertz: Ich fand das damals natürlich richtig. Es hat mir großen Respekt abgenötigt, daß die politisch Verantwortlichen im Falle Lorenz so entschieden, denn das konnte sich ja jeder ausrechnen: Wenn das einmal passiert, hat das bestimmte Konsequenzen. Ich kritisiere niemanden, das war ja Ihre Fortsetzungsfrage, so schrecklich das war, daß im Fall Schleyer anders entschieden wurde. Es war ja nicht nur der Fall Schleyer. Es ging ja schon in der Deutschen Botschaft in Stockholm los. Aus diesen Gründen ..., aber ich sehe natürlich mit Entsetzen, wohin wir inzwischen gekommen sind ... das ist nun kein deutscher Vorgang, aber das hängt ja alles zusammen. Bei der letzten terroristischen Entführung eines Flugzeugs sind ja wieder über 50 Menschen ...

Gaus: Haben Sie eine andere Antwort?

Albertz: Ich habe auch keine andere Antwort. Ich bin überhaupt nicht klüger als die, die das zu entscheiden haben. Aber ich bin umgekehrt nicht ganz sicher: Wenn man den Mut gehabt hätte, die Entscheidung im Falle Lorenz so oder ein wenig differenziert nochmal anzuwenden, und – das gehört allerdings dazu – wenn man denen, die sich lösen aus der terroristischen Szene, dann faire Prozesse machen würde – wer weiß ... Und nicht wie im Fall Peter Boock: diese unmöglichen Urteile. Der Mann hat nicht einmal geschossen. Jedem SS-Mörder muß nachgewiesen werden, daß er selber mit der Pistole jemand erschossen hat, sonst wird er nicht wegen Mord verurteilt, weil die SS keine kriminelle Vereinigung ist ... Dort aber passiert das ... Aber ich bin da sehr zurückhaltend. Es ist sehr viel leichter, von außen darüber zu urteilen. Ich bin nur glücklich, daß ich bei dem einzigen Mal, wo man anderes versucht hat, meinen Beitrag habe leisten können.

Gaus: Die zweite Frage dazu: Sie haben immer sich gegen Gewalt ausgesprochen. Dies vorweg geschickt, frage ich: Wie viel begreifen Sie, Herr Pastor Albertz, welches Verständnis haben Sie für die jungen Menschen, die, beginnend etwa mit Ulrike Meinhof, sich ins terroristische Abseits begeben haben?

Albertz: Ich habe ein gewisses Verständnis. Aber wenn ich das sage, gelte ich ja schon wieder als ein Gewalttäter. Ich sage es trotzdem: Es hat Situationen gegeben, in denen aus Verzweiflung diese irrsinnigen Reaktionen kamen. Mir haben ja die Leute im Flugzeug die Abfolge gesagt, wie sie sich das vorstellten, diese irrationale Geschichte: daß sie die Systeme verändern wollen, und weil sich nichts ändert, wenden sie Gewalt an – dann wird aus diesem Staat ein Polizeistaat. Gewisse Züge dieses Polizeistaates sind ja durch Gesetzesänderungen und Praktiken auch unübersehbar. Aber nun kommt eben der Irrsinn, die Hoffnung, dann würde sich das deutsche Volk erheben ...

Gaus: Was haben Sie den Freigepreßten in dem Flugzeug nach Aden gesagt?

Albertz: Ich habe mit denen keine großen politischen Diskussionen geführt. Dazu hatten wir ja keine Zeit. Ich habe da, glaube ich, ganz schlicht gesagt, ihr seid verrückt.

Gaus: Sie sind in Breslau geboren, Ihre Frau ist wie Sie aus Schlesien, die beiden ersten ihrer drei Kinder sind in Schlesien zur Welt gekommen. Es gibt einen Bericht von Ihnen, Herrn Albertz, über eine Reise in das, wie Ihr Text verrät, tief geliebte, verlorene Land, die Sie unlängst als 70jähriger noch einmal gemacht haben. Was bedeutete in Ihrem Leben der Verlust der Heimat?

Albertz: Ein ganz, ganz schmerzlicher und immer weiter schmerzlicher Vorgang. Es ist wirklich ein bißchen, wie wenn die Mutter stirbt. Ich habe das dort auch sehr offen beschrieben. Kein Lächeln über die, die darüber heute noch traurig sind. Sie sterben ja nun. Die Generation stirbt jetzt. Auf der anderen Seite der Unsinn, daraus nun solche irrsinnigen Formeln abzuleiten: Schlesien ist unser! Oder: Recht auf Heimat! – das ist genau die falsche Reaktion. Abgesehen davon, daß die, die da hingekommen sind, wo andere vertrieben wurden, ja auch ihre Heimat verloren hatten. Aber: Wenn wir nicht diese irrsinnige Spaltung in Europa hätten, dann würde ich gerne – das ist ja aber faktisch einfach unmöglich – meine letzten Jahre in Breslau verbringen.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Was heißt es für Sie, ein Deutscher zu sein?

Albertz: Ja, ich bin es. Ich habe auch gar keine Angst, das zu sagen in allem, was das bedeutet. Das sind meine Kinder und meine Enkel, und das waren Väter und Mütter, und in diesem Zusammenhang lebt man. Ich werde immer zurückhaltender, wenn ich manchmal merke, wie schnell man darüber weggeht, indem man sagt, nun sei doch ein Europäer oder einfach nur ein Mensch, das spielt doch alles keine Rolle. Nein, du kannst nur in deinem Volk und in deiner Nation – auch wenn sie gespalten ist oder gerade dann – das andere auch sein. Und dem lieben Gott, von dem wir nun so viel geredet haben, ist es ja so eingefallen, uns ein bißchen unterschiedlich auf die Welt zu bringen.