Sendung vom 12.11.2003 - Böttcher, Jürgen

Günter Gaus im Gespräch mit Jürgen Böttcher

Gaus:
Mein heutiger Interviewpartner, Jürgen Böttcher, genannt Strawalde - geboren 1931 in Sachsen - ist sowohl als Dokumentarfilmer, wie als moderner Maler der DDR zu internationalem Ruhm gelangt. Strawalde war zweimal verheiratet. Er hat einen Sohn, zwei Enkelkinder. Er lebt und arbeitet heute nur noch als Maler in Berlin. Sehen Sie „Zur Person – Strawalde“.
Wie soll ich Sie nennen - Herr Böttcher oder Strawalde? Als Böttcher sind Sie zur Welt gekommen, als Jürgen Böttcher sind Sie bekannt geworden als Dokumentarfilmer in der DDR. Strawalde ist Ihr Künstlername als Maler und Graphiker, dessen Ruhm immer noch wächst. Also, was nun – Herr Böttcher oder Strawalde?

Strawalde:
Strawalde.

Gaus:
Sie sagen Strawalde. Wenn ich jetzt gesagt hätte: „Herr Strawalde“ - hätten Sie sich gewehrt und gesagt: „Ich will mit dem Künstlernamen Strawalde nur Strawalde heißen, ohne Herr“?

Strawalde:
Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen gesagt hätte, aber auf jeden Fall ist es besser. Das ‚Herr’ passt nicht zu Strawalde.

Gaus:
Warum nicht?

Strawalde:
Tja, beinahe hätte ich gesagt: „Raten Sie mal“. Es wird zu konventionell - Strawalde ist Strawalde - und es passt nicht. Manche merken das, manche sagen trotzdem ‚Herr Strawalde’. Die meisten berichtige ich nicht, aber mir selber passt es nicht.

Gaus:
Ich hätte nicht ‚Herr Strawalde’ gesagt, weil ich nach der Vorbereitung den Eindruck hatte, ‚Herr Böttcher’ wird er akzeptieren, ‚Herr Strawalde’ wird er vielleicht hinnehmen...

Strawalde:
Ja, das hätte ich.

Gaus:
Ja, aber dann erst mal erklärt: Strawalde. Strahwalde heißt das Dorf in der Oberlausitz, in der Sie aufgewachsen sind. Wir werden darauf im Einzelnen kommen. Strawalde als Künstlername – ist Ihnen nichts anderes eingefallen, oder sollte das was besagen? Sie sind – auch darauf werden wir kommen – ganz gewiss kein Heimatmaler. Aber sollte dieses sich Strawalde nennen, irgendein Signal setzen? Verbundenheit mit irgendwas? Können Sie es erklären?

Strawalde:
Zuerst mal enttäuscht mich, dass Sie mich fragen, ob ich mir dabei was gedacht habe. Also, das wäre ja noch schöner, wenn ich mir nichts gedacht hätte. Es ist so, ich habe in diesem Dorf - da bin ich aufgewachsen so von sechs Jahren an, bis 18, bis ich auf die Akademie ging. Und dort habe ich alles erlebt: die Kindheit – ich könnte Romane schreiben über diese Zeit – die Nazi-Zeit, den Krieg, den Tod, die schweren Nachkriegsjahre und dann den Gang zur Akademie. Und dann ist es auch eine Landschaft, die enorm ist. Es heißt nicht nur Strahwalde, es sind enorme Wälder, in denen wir herumgestreift sind. Und es spielt - wie jeder weiß - die Kindheit eine Riesenrolle. Und dann kommt es aber darauf an – also ich sage auch nicht gern, dass es ein Künstlername ist. Es ist einfach ein Pseudonym, das nur, das hauptsächlich für meine Malerei gilt. Und ich habe bemerkt, ich habe es nur deshalb gemacht - in der DDR-Zeit war ich ja bis Ende der DDR, ’85, ’86 war ich ja gar nicht existent als Maler, ich war ja wirklich total unterdrückt...

Gaus:
Ich habe Sie gekannt.

Strawalde:
Ja, aber es war fast nix. Aber als ich dann doch langsam auftrat, habe ich gemerkt: Um Gottes willen, in der kleinen DDR, wo es so viele Meier, Schulze, Müller gibt, gibt es höchstens zwei Maler, die Müller heißen - aber acht die Böttcher heißen. Und dann gab es noch einen Jürgen Böttcher in der BRD, der am ZDF Filme machte.

Gaus:
Ja.

Strawalde:
Und alle Welt dachte immer, ich reise heimlich im Westen rum und nehme die Nachtbummler auf und so. Das war sehr peinlich. Und da dachte ich, ich muss einen anderen Namen nehmen. Und Strawalde - habe ich dann gemerkt, dass das fantastisch ist. Erstens bedeutet dieser Klang mir was. Zweitens ist es so, ich behaupte immer, dass darin Stradivari und Vivaldi steckt als Klang und das ist mir sehr, sehr lieb.

Gaus:
Was steckt in Baselitz?

Strawalde:
In Baselitz steckt eben – das müsste eigentlich er beantworten, ich kommentiere nicht, was nun eigentlich in dem Namen... Aber dort ist die Authentizität seines Deutsch-Baselitz - das Deutsch hat er weggelassen, das hätte ich auch gemacht. Aber ich glaube, dass er wirklich auch diesen Ort einfach anstatt nahm.

Gaus:
Und jetzt Herr Strawalde - oder nicht Herr - bedeutet Ihnen das Betonen des Nichtkonventionellen als Person - nicht in der Kunst – als Person viel? Gehört es zusammen mit der Kunst?

Strawalde:
Aber natürlich auch in der Kunst, natürlich.

Gaus:
Sie haben zunächst gemalt und gezeichnet. Dabei lagen Sie nicht auf der Linie der offiziellen DDR-Kunst, kann man sagen. Wir kommen darauf. Dann haben Sie auf der Filmhochschule der DDR in Potsdam-Babelsberg studiert und wurden Filmemacher, Regisseur. War das zunächst ein Ausweg, vor allem ein Ausweg aus den Schwierigkeiten als Bildender Künstler? Oder war es auch oder vielleicht sogar vor allem die Empfindung: Da gibt es etwas, wo ich auch kreativ sein kann und was eigentlich auf der selben Linie meiner Kreativbedürfnisse liegt? War es Ausweg oder war es Hinwendung zu einer weiteren Kreativität?

Strawalde:
Es ist viel verrückter oder viel tiefgehender. Es hängt zusammen mit meinem Aufwachsen, mit meinem Kriegserlebnis, mit dieser Erschütterung und es klingt vielleicht merkwürdig, aber auch mit schlechtem Gewissen, obwohl ich dreizehneinhalb Jahre alt war, als der Krieg zu Ende war. Aber ich habe diese Jungvolk-Uniform getragen, bin jeden Sonntag nach Herrnhut. Da mussten wir wie zur Kirchweihe in die Filmstunde und sahen also am Anfang des Krieges wie die deutsche Armee die ganze Welt überfällt und am Schluss sahen wir wie die Armee immer weiter zurück kam und dann kamen die Russen. Und dann war der Tod. Und dieses Erlebnis, das kann ich nicht so kurz, so schnell schildern – war so eine Erschütterung - ich glaube für alle - aber wenn man...

Gaus:
Wir sind eine Generation, ich weiß wovon Sie sprechen.

Strawalde:
Aber wenn man nun so eine Veranlagung hat - der sogenannte Künstler ist eben geprägt durch ein Hypersensibilität. Und als Halbwüchsiger – ich wollte dann nach einiger kurzer Zeit, ich wollte wiedergutmachen. Ich wollte, dass nie wieder so ein Krieg wird. Als erstes hat sich das Talent der Malerei gezeigt - um ein Haar wäre ich auch bald Sänger geworden. Und aber...

Gaus:
Das heißt Kunst, sollte etwas bewirken.

Strawalde:
Ja. Und jetzt komme ich... Lassen Sie mich...

Gaus:
Natürlich.

Strawalde:
Und jetzt – aber dann höre ich schon auf...

Gaus:
Bitte nicht!

Strawalde:
Aber das ist ganz wichtig. Jetzt habe ich aber gemerkt, ich bin ja auch ganz früh an die Seite der sozialistischen - sehr früh, mit 17 Jahren...

Gaus:
Wir kommen darauf.

Strawalde:
Und ich wollte helfen. Ich wollte, dass nie wieder so etwas Grauenhaftes passiert. Aber nicht weil ich ein guter Mensch bin, sondern aus Ängsten.

Gaus:
Ich komme darauf.

Strawalde:
Und jetzt habe ich – um die Frage zu beantworten – an der Hochschule dann schon gemerkt, dass das, was die jetzt wollen, dass ich das gar nicht kann. Obwohl ich in dieser Partei war. Aber es war da doppelt sträflich, dann das nicht zu befolgen. Aber ich habe zur gleichen Zeit enorme Filme gesehen und habe gemerkt, so sehe ich die Welt auch, so ähnlich. Und dann habe ich gedacht, dann male ich für mich und kann mit Filmen wirken. Das war der Witz.

Gaus:
Und Sie haben großartige Filme gemacht. Wir kommen auch darauf. Haben Sie je empfunden, dass in einer Doppelbegabung auch ein Risiko stecken kann?

Strawalde:
Ach Gott, das ganze Leben ist enorm risikoreich.

Gaus:
Ah, das ist jetzt kokett.

Strawalde:
Nein.

Gaus:
Die Frage ist: Wenn einer ein so bedeutender Maler ist, wie Strawalde und ein so beachtlicher Dokumentarfilmer wie Jürgen Böttcher - selbe Person. Ich habe bei manchen Menschen, deren Entwicklung ich beobachten konnte, gesehen, dass sie wegen Mehrfachbegabung sich immer im Ungewissen bewegt haben: Wo liegt eigentlich meine Begabung? Was ist mein Talent? Haben Sie je ein solches Risiko in der Doppelbegabung empfunden oder ist das etwas wo sie sagen: Ich bin so und das nehme ich so?

Strawalde:
Ich habe das nie empfunden. Es ist ja auch so, ich habe die Malerei auch nie aufgegeben, ich habe ja nicht etwa Filme gemacht. Ich habe nur, ich nenne das, auf Sparflamme gemalt: Wenn man nicht auftritt, wenn man keine Ausstellungen hat, wenn keiner was kauft und wenn man auch die Mittel nicht hat - wenn man nicht im Verband bildender Künstler war, bekam man auch die Mittel schwer, dann, wenn man auch keine gute Arbeitswohnung bekommt. Weil ich war ja auch schon frühzeitig, wurde ich doch auch ziemlich niedergehalten, als Freund von Biermanns von 1964 und als Freund von Penck und so weiter. Und schon ein paar Verbote und da ist man natürlich gerade so auf der... Da konnte man natürlich nicht sehr viel ausrichten. Aber ich habe immer so gezeichnet und gemalt, dass das am Leben blieb. Aber die Genugtuung Filme zu machen, die ist so groß. Diese beiden – alles hat mit Bildern zu tun, mit einer Bilderwelt und die Authentizität, diese Huldigung an ganz bestimmte Menschen. Wenn ich irgendwo rumfahre – ich hatte in Wien auf der Viennale eine große Retrospektive und habe erfahren, dass die Wiener, die da waren in dem Kino, meine Rangierer, meine Küchenfrauen, meine Wäscherinnen ja geradezu lieben. Und mein Herz schlägt, ich merke – verstehen Sie, eines sind meine Bilder, die sind radikal persönlich. Meine Filme sind eine enorm soziale politische Huldigung...

Gaus:
Verstehe.

Strawalde:
... an bestimmte Menschen. Und das ist fantastisch, wenn man das... Und dadurch bin ich nie ins Straucheln gekommen. Sondern beides hat sich gegenseitig aufgebaut und mir Kräfte gegeben.

Gaus:
Zur Person Jürgen Böttcher. Geboren am 8. Juli 1931 in Frankenberg in Sachsen, aufgewachsen im schon erwähnten Dorf Strahwalde, in der Oberlausitz. Jürgen Böttcher hat zwei Geschwister. Der Vater ist Studienrat, den die Nazis 1936 aus dem Schuldienst entlassen. Die Mutter ist aus Norddeutschland.

Strawalde:
Greifswald.

Gaus:
Aus Greifswald, wo Caspar David Friedrich schöne Bilder gemalt hat. Bedeutet Ihnen das landsmannschaftlich etwas? Die Mutter Greifswald, der Vater...

Strawalde:
Das hat mein ganzes Leben geprägt. In der Kindheit – wir waren so verarmt, weil mein Vater entlassen war und sich aber um nichts bemüht hat, noch weiter was zu bekommen. Wir konnten nie verreisen und als kleiner Junge habe ich immer meiner Mutter gesagt: „Erzähl aus deiner Kindheit, erzähl von Greifswald“. Es war, als ob sie aus Paris erzählte oder aus Indien. Und sie hat dann gesagt, der Wall und die dicke Marie und von den Studenten und von Eldena. Und ich habe das gehört und das war immer, immer so. Und ich war erst zwanzig Jahre alt, als ich das erste Mal in Greifswald sein konnte. Und es hat sich gezeigt, dass sie so wunderbar erzählt hat. Und mein Vater war aus dem Erzgebirge aber mütterlicherseits aus dem Vogtland und war ziemlich so. Und jedes Mal, in jeder Woche, gab es etwas, dass er irgendwas hinhaut. Zumal er frustriert war - was ich als Junger natürlich nicht so begreifen konnte – weil er ja seinen Beruf nicht hatte und weil er im Grunde nur las, in mehreren Sprachen und weil wir eben sehr, sehr beschränkt lebten, eingeschränkt lebten. Und dann sagte meine Mutter: „Hans, ich bin aus Greifswald.“ – „Und ich bin aus dem Erzgebirge, mütterlicherseits aus dem Vogtland, dort heißt es: nur keinen Streit vermeiden“. Also, so sind wir und... Und das hat eine solche Polarität. Und erst viel später habe ich gemerkt, das ist ja eine Art Emigration von meiner Mutter gewesen, nicht? Aber ich merke jetzt, wenn ich nach Greifswald komme, dass es zur Hälfte zu mir gehört, überhaupt diese ganze Gegend da.

Gaus:
Riskieren Sie – ich riskiere die Frage, was wenig ist – riskieren Sie nachträglich, im Rückblick, Sie sind über siebzig, das Verhältnis zur Mutter und das Verhältnis zum Vater in Worte zu fassen?

Strawalde:
Das ist ein Roman. Aber eins ist klar, ich verdanke meinen Eltern alles – abgesehen davon, dass jedes Kind weiß, dass es nicht da wäre, wenn die Eltern nicht irgendwie so etwas Komisches gemacht hätten, was ja die erste Zeit noch im Dunkeln liegt. Aber man bekommt ja nicht nur Veranlagungen gemischt, sondern zum Beispiel, wenn also nicht gewisse Dinge von meinem Vater noch in mir wären, dann wäre ich schon verloren. Also weil meine Mutter dermaßen emotional und dermaßen gefühlsbetont hinwegschwamm und gleichzeitig aber so musikalisch und so zauberhaft erzählerisch war, so voller Fantasie. Und mein Vater hat dieses Korrektive. Also ich hätte, glaube ich, nie Filme machen können, wenn ich nicht noch einen Schuss meines Vaters... Aber das andere ist ihr Zusammenleben in all dieser schweren Zeit, ihre Beispielhaftigkeit, ihr Humor, ihre in der härtesten Zeit durch Fantasie, durch Geschichten, durch - das Auszukorrigieren, aber auch all das Auszutragen, wenn man so aufwächst. Jetzt wo sie nicht mehr da sind - wenn ich eine große Sache erlebe, ob es in Paris ist eine Retrospektive im Centre Pompidou der Filme, oder Bilder – immer dann denke ich an meine Eltern und danke ihnen. Verstehen Sie? Und so - das kann ich nur verkürzt so sagen. Ansonsten muss man das ganz breit, wenn ich die Kraft hätte, beschreiben.

Gaus:
Schreiben Sie irgendetwas auf, oder sagen Sie: Ich male?

Strawalde:
Also ich bin zu f...

Gaus:
Bin zu faul?

Strawalde:
Ich habe zwei gute Aufsätze geschrieben als Junge und habe auch meine Szenarien geschrieben. Und habe bis meine Mutter lebte, jede Woche zwei Briefe an meine Mutter geschrieben. Ich war der Jüngste und der Älteste ist eben...

Gaus:
Darauf komme ich.

Strawalde:
Und als sie dann tot war, habe ich fast nicht mehr geschrieben. Ich habe so viel geschrieben. Und jetzt gibt es aber ein paar Leute, die mich heimsuchen und behaupten, ich müsste nach Bohlen auch.

Gaus:
Würden Sie es tun? Werden Sie was aufschreiben?

Strawalde:
Ich glaube nicht. Also, ich fürchte nicht.

Gaus:
Ihre zeichnerische Begabung wird früh erkannt und von Ihnen, Strawalde, auch früh genutzt. Sie haben nach Passfotos von gefallenen Soldaten Porträtzeichnungen angefertigt und haben dafür Essbares als Lohn erhalten. Da ging die Kunst nach Brot und das waren die Zeitläufe und das war sehr verständlich. Meine Frage ist jetzt: Wann und wodurch haben Sie wahrgenommen, ich kann da etwas, was mehr ist, als das Übliche, was mehr ist, als meine Schulfreunde, ich habe da eine Kunst? Haben Sie es wahrgenommen? Haben Sie es ernst genommen?

Strawalde:
Ja, das ist – ich war 14, 15, 16 und ging in Löbau zur Oberschule. Ab und zu bin ich da wirklich auch hingegangen, hingefahren von Herrnhut mit dem Zug, Strahwalde hatte keinen Bahnhof. Und in der Klasse - also besonders nach dem Krieg eben - zeigte sich das. Ich habe auch die Lehrer gezeichnet, während sie - das waren dann meistens Neulehrer. Wenn die so predigten und ich sah sie an und zeichnete, haben sie den Kopf nicht mehr... Und die ganze Klasse hat das genehmigt, ja? Also ich habe ja auch nicht nur nach Passbildern Gefallener gezeichnet, sondern auch Rosa Luxemburg, Karl Marx. Lenin hing groß. Oder die Schule wurde als Geschwister Scholl Schule eingeweiht. Und wer hat die großen Geschwister Scholl gezeichnet? Ich. Also ich pflege immer zu sagen, ich war nie so berühmt wie dort, wie damals. Und das hat sich einfach so ergeben. Ich habe aber wirklich das hauptsächlich erst mal gemacht, um zu helfen, dass wir überleben. Man hat fünf Pfund Kartoffeln bekommen, zehn Mark, ein Glas Rübensirup und so.

Gaus:
Ihr neun Jahre älterer Bruder kommt 1944 als Soldat im Krieg zu Tode. Dieser Tod und der Krieg allgemein, das was Sie von ihm wahrnehmen - Sie haben das schon erwähnt - wird zum ersten und vielleicht bis heute andauernden Movens für Strawalde, für Jürgen Böttcher, mit dazu beizutragen, dass nie wieder Krieg Wirklichkeit wird. Wenn Sie sich jetzt umschauen – wir sind eine Generation, ich kann das sehr gut verstehen, was Sie da angetrieben hat mit diesem nie wieder Krieg – sind unsere Jahrgänge 31, 29, die das als Lebensinhalt hatten, als einen wesentlichen Teil des Lebensinhalts jedenfalls, sind wir gescheitert?

Strawalde:
Ach, Sie fragen, ob wir gescheitert sind? Ich denke schon, es gibt... Also, wie die Welt - darüber wollen wir uns jetzt nicht verbreiten, oder das geht auch gar nicht.

Gaus:
Selbst in einem so langen Interview würden wir es nicht schaffen.

Strawalde:
Aber es ist ungeheuerlich. Ich finde, es ist einfach ungeheuerlich, was passiert und wie hilflos, wie – ich meine klar, Deutschland hat im Moment...

Gaus:
Wie werden Sie mit dem Scheitern fertig? Oder ist das etwas, worüber Sie sich eigentlich keine Gedanken machen?

Strawalde:
Oh, da macht man sich schon Gedanken.

Gaus:
Also, wie werden Sie mit dem Scheitern fertig?

Strawalde:
Das ist eine Mischung von, ich habe schon gesagt, Hilflosigkeit, von einer Art Ekel, von einer Art - ja, es geht sogar soweit, dass man sich sagt: Gut man macht nicht mehr lange. Aber wenn ich meinen Sohn sehe, meine Enkelkinder und sehe, was eigentlich angerichtet wird, welche Macht, Weichen gestellt werden von Mächten, die sich freiheitlich nennen, wenn ich Berichte sehe, die ich ganz hellhörig sehe, in Arte zum Beispiel über den Friedensnobelpreisträger Kissinger, was der auf dem Gewissen hat, an so vielen Hunderttausenden Morden. Wenn ich an die Berichte über, was uns damals auch tief berührt hat, über Chile und so weiter sehe. Wenn man sieht, dass es aus Gründen des Geschäfts, der Macht völlig legal ist, einfach Länder zu überfallen, dann sind –also ich nehme wirklich Honecker nicht in Schutz - aber dann sind diese traurigen Mauertoten dagegen eine so geringfügige Zahl, nicht? Aber es ist auf der Tagesordnung, aus Machtgründen, aus Gründen des Besitzes, aus Gründen der Vermehrung von Milliarden einfach ganze Völkerschaften fast auszurotten. Und damit leben wir und können fast nichts machen. Das ist grauenhaft.

Gaus:
Strawalde - nie wieder Krieg und was sonst noch? Mit welchen Erwartungen, mit welchen Hoffnungen sind Sie als 17jähriger in die SED gegangen? Und: Wie weit ist es immer noch so, dass Sie - nach allen Erfahrungen, die Sie sehr bitter machen mussten - im Grunde ein sozialistisches Bewusstsein oder mindestens eine sozialistische Einstellung zu einer Ordnung, wie Sie sie haben möchten, behalten haben?

Strawalde:
Diese Frage ist natürlich... Sie verknüpfen jetzt zuviel, finde ich. Ich kann nur soviel sagen zu diesem Entschluss, in so eine Partei zu gehen - was mir heute im Nachherein eigentlich fremd erscheint, dass man das getan hat. Ich habe als Fünfzehn-, Sechzehnjähriger Leute kennen gelernt, wunderbare Menschen, die das KZ überlebt haben, und einer war da im Parteihaus für Kultur, er hieß Clermont (?), und diese Leute hatten, glaube ich, Ausschau gehalten nach Jungen, die früher Nazi-Uniformen trugen. Sie wollten glaube ich Jüngere – ob da überhaupt noch eine Möglichkeit sei und haben Leute wie mich herausgefischt und haben uns tief beeindruckt. Parallel dazu hat man die Gedichte, hat man Brechts großartige Gedichte, man hat die Filme von Eisenstein, von Pudowkin gesehen. Und man wollte mit diesen Leuten zusammenarbeiten. So ist das gekommen.

Gaus:
Was ist davon geblieben?

Strawalde:
Wenn Sie fragen, was heute noch da ist - also soll ich das gleich weiter sagen?

Gaus:
Ja, was ist geblieben?

Strawalde:
Eine Verrücktheit ist geblieben.

Gaus:
Eine Hoffnung?

Strawalde:
Ich glaube, ich würde es – ich denke nicht, dass man es Hoffnung nennen kann. Es ist ein Trotz geblieben. Aber nicht im Sinne, also der sogenannte Sozialismus – wir wollen jetzt nicht erst Stalin, Pol Pot nennen – ist so diskreditiert, mit so viel Ungeheuerlichem, dass man...

Gaus:
Aber Sie haben gerade auch den Kapitalismus diskreditiert.

Strawalde:
Ja eben, ja das sowieso.

Gaus:
Eben. Also?

Strawalde:
Denn sehen Sie, was ist denn passiert.

Gaus:
Worauf setzen Sie Ihre Hoffnungen?

Strawalde:
Was ist denn passiert? Der Sozialismus ist zusammengebrochen und die Alten, die schon analysiert sind und mit Wahr und mit Recht analysiert, die wirklich soviel Dreck am Stecken haben. Ich bin ja zum Beispiel in diese Partei gegangen oder bin nicht nach dem Westen gegangen, weil ich niemals zu Krupp und IG Farben gehen wollte, wo die wieder herrschen. Weil ich genau wusste, was die angerichtet haben. Verstehen Sie?

Gaus:
Ja.

Strawalde:
Und was ist nun? Jetzt bin ich, jetzt ist man zurückgesackt in ein altes System, was zwar aufpoliert als liberal, als freiheitlich und so weiter - aber es sind doch die alten Dinge. Das kann natürlich auf Dauer, glaube ich, niemals so bleiben. Es wird mal irgendwann, wenn Leute... wird es wieder Rebellion geben.

Gaus:
Kurz gefasster Lebenslauf: Jürgen Böttcher, Strawalde, von 1949 bis 1953 Studium an der Hochschule für Bildende Kunst in Dresden. Von 1953 an freischaffend, Zeichenlehrer an der Dresdener Volkshochschule. In Ihrem Kurs sitzt noch halbwüchsig Ralf Winkler, der inzwischen als R. A. Penck weltberühmt geworden ist. Er, Peter Graf, Peter Herrmann, Peter Makulis und andere bilden mit Ihnen – Strawalde – von Ihnen beeinflusst und gefördert, den Dresdener Freundeskreis. Seit 1955, auch schon erwähnt, Filmstudium. Dann von 1960 bis Ende der DDR angestellt als Regisseur im Studio für Dokumentation der DEFA. Ein Spielfilm, „Jahrgang 1945“, kann als missliebig nicht zu Ende produziert werden. Eine Reihe von Dokumentarfilmen entsteht - viele anerkannt und gerühmt, andere unterbunden, im Regal verschwunden. Ein Künstlerleben in der DDR. Seit der Wende nur noch als Maler tätig. Inzwischen Ausstellungen und Filmretrospektiven, auch international wachsende Beachtung, wachsender Ruhm. Stoff für viele Fragen, Strawalde. Ich beginne mit dem Einfachen, das schwer zu beantworten ist: Ist es bei allem Auf und Ab ein gutes Leben gewesen?

Strawalde:
Doch, doch. Es war teilweise unheimlich beschissen, aber wenn man da durchkommt, wenn man nicht klein beigibt, wenn man - vor allen Dingen, wenn die Werke, die man macht - meine Malerei ist absolut. Da gibt es nicht eine Zeichnung, die in einer blöden Weise ideologisch, dass ich irgendwo angedient hätte. Und im Film musste ich ein paar Kompromisse machen. Aber ich habe ein paar Filme gesetzt, die auch heute noch, auch in westlichen Breiten geachtet werden, wo eben die meine Helden, sage ich mal, wie die „Rangierer“, wie „Martha“, die „Ofenbauer“, die Küchenfrauen...

Gaus:
„Martha“ – die letzte Trümmerfrau.

Strawalde:
Ja. Wo das einfach – selbst der Parteisekretär schlägt einige Leute in Bann, nicht? Wenn man das gemacht hat, ist es eben doch so, dass man eine Genugtuung hat und dass sogar gerade aus dieser Dunkelheit heraus, aus dieser hässlichen, wo man so hässlich bekämpft worden ist und dann trotzdem sich noch einigermaßen hat durchsetzen können. Da wäre es im Grunde sträflich zu sagen, das war kein gutes Leben.

Gaus:
Ihre Bilder – ich will immer Herr Strawalde sagen – also, Ihre Bilder Strawalde haben natürlich eine Entwicklung genommen. Sie sind heute – sie sind zunächst sehr schwarz, in Grautönen gewesen, sie haben sehr an Farbe zugenommen. Die Farbe ist sehr dick, beinahe plastisch aufgetragen, Figürliches und Abstraktes mischen sich, gelegentlich werden es Collagen, weil Sie Steine, Stoff, anderes Gegenständliches hinzufügen. Ich habe jetzt etwas Aberwitziges versucht, ich habe versucht, in einer Sendung wie dieser, Bilder eines berühmten Malers zu skizzieren. Ich bitte um Korrektur oder Verbesserungen - es kann nur verbessert werden. Und ich bitte aber vor allem um die Beantwortung auf die Frage: Wissen Sie, was Sie ausdrücken wollen? Wissen Sie, was die Botschaft von Strawalde ist?

Strawalde:
Ja, Botschaft - da bin ich sowieso ganz skeptisch. Also ich würde nie dazu neigen, zu behaupten, ich hätte eine Botschaft, das ist sehr... Aber im Film weiß ich natürlich, im Film weiß ich, was ich – um es mal salopp zu sagen – rüberbringe.

Gaus:
Ja, was wollen Sie da rüberbringen?

Strawalde:
Dass die Wunder in Ecken sein können, die viele gar nicht vermuten. Dass man nicht etwa große Helden suchen muss, sondern dass man wohin gehen kann... Also, ich habe mich ja immer besonders im Dokumentarfilm - ich wollte ja große Spielfilme machen, das war mir verwehrt. Und das hat ja auch wieder die Gründe meiner Kindheit und Jugend, dass ich schwer arbeitende Leute vor allen Dingen im Film - es gibt keinen, der so verrückt war wie ich, so hartnäckig an dem Thema zu bleiben. Ich habe versucht, diesen Staat der Arbeiter und Bauern, wie er sich nannte, beim Wort zu nehmen und das Ideologische, möglichst viel zur Seite zu räumen und trotzdem zu zeigen, dass da ein paar enorme Menschen sind, die einmalig leben, die einfach in diese Zeit hineingeboren sind. Wie die sich mühen und wie sie das Leben überhaupt weiter leben können, bei soviel Beleidigung, das habe ich in meinen Filmen ausgedrückt. Und das sind – ich nenne das Huldigungen. Und das ist klar im Film. Wie gesagt, der Traum große Spielfilme zu machen, war mir verwehrt bis jetzt. In der Malerei ist es einfach, es ist ganz anders. Die Malerei ist ein Wundergebilde, ist voller Geheimnisse, das ist... Und man malt etwas, das sind die ganz tief abgelagerten Dinge, sogar sehr viel aus der Kindheit, aus der frühesten Kindheit. Also ich nehme mir nicht – meine Mutter hat immer gesagt: „Nimm dir nichts för, dann sleiht nichts fehl“ – Nimm dir nichts vor, dann schlägt nichts fehl.

Gaus:
Oh ja, ich bin Norddeutscher.

Strawalde:
Und dieser Slogan hat mich mehr beeinflusst, als die Slogans der Partei, nicht? Und ich habe dann gemerkt... Also ich kann zum Beispiel – ich habe Hunderte Zeichnungen, ich würde nie eine Zeichnung nehmen und dann danach ein Bild malen. Sondern ich muss jedes Bild so malen, dass ich noch nichts weiß. Und dann merke ich aber in dem Bild, dass ich etwas weiter arbeite, dass ich das präge, und dass ich dann später herauslese, dass es aus sehr tiefen Schichten des Erlebens kommt, der sinnlichen Welt. Mir gefällt so gut, dass der Begriff Sinn und sinnlich verbunden ist. Also es muss sinnenhaft sein, es muss sinnlich sein und der Sinn liegt verborgen in all dem, was man gelebt, was man gesehen, was man geträumt, was man unentwegt beobachtet, aber auch schon aus frühester Kindheit.

Gaus:
R. A. Penck aus dem Dresdener Freundeskreis, den Sie um sich geschart haben, der mit seinen Werken inzwischen in New York im Museum of Modern Art vertreten ist, hat Sie einmal einen Hexenmeister genannt. Was hat er damit gemeint? Was kann er damit gemeint haben?

Strawalde:
Ich kann Ihnen folgendes sagen: Ich bin, glaube ich, ich nenne mich verrückt - also natürlich nicht so direkt klinisch, wie das manche Leute verstehen. Auch nicht ganz so großartig verrückt wie van Gogh. Aber die Besessenheit, die kindische...

Gaus:
Sie werden sich nicht ein Ohr abschneiden? Und wenn, dann in der Sendung.

Strawalde:
Ja, so. - Nein, diesen Gefallen werde ich Ihnen nicht tun. Aber ich habe von frühester Jugend, also schon mit 20 Jahren - mit 22 hatte ich ja das Studium fertig in Dresden. Ich hatte keinerlei Geld. Sie müssen überlegen, diese Ruinenstadt, was das für eine Existenz war. Und ich habe auch durch Zufall diesen Zeichenzirkel gegeben. Da scharten sich Leute – der jüngste war Penck mit 14 und es waren aber auch 80jährige dabei, Frauen und Männer. Und später habe ich auch junge Filmleute, junge Maler immer angeregt, wie ein Verrückter...

Gaus:
Sie mögen junge Leute.

Strawalde:
Na ja, ich will Ihnen jetzt sagen - ich war fast 60 Jahre alt. Also ich bin zum Beispiel aus Parteikreisen, Stasikreisen, die haben über mich also herumgerätselt und haben... - also dass ich immer Plattformen bilde. Dass ich - wie Jesus - gewissermaßen Jünger um mich schare, dass ich die alle beeinflusse. Das habe ich auch wirklich getan – nicht wie Jesus aber. Manche haben das auch wirklich schon fast ein bisschen absonderlich gefunden. Ich habe alles immer wieder mitgeteilt, was ich herausgefunden hatte und habe eine Riesenfreude gehabt, anderen... Und das war schon fast irre. Ich war über sechzig Jahre alt, da habe ich es kapiert, dass es nicht mit Gut und Böse zusammenhängt, weil ich so ein wunderbarer Mensch bin, sondern weil ich meinen einzigen geliebten großen Bruder mit zwölf Jahren verloren habe und ihn in das Grab habe senken sehen. Und weil ich das nie begriff, ja, dass mein Bruder nicht – habe ich dann immer den großen Bruder gesucht. Den habe ich viel später in Chris Marker gefunden, in so wunderbaren Leuten, die ungefähr der Jahrgang sind, die sich mir zuwendeten. Aber ich habe umgedreht unentwegt den großen Bruder gespielt und wie ein Verrückter gewissermaßen den Jüngeren alles gegeben.

Gaus:
Verstehe.

Strawalde:
Und da war ich wie gesagt um die 60 Jahre alt, als ich erst kapierte, warum ich so übermäßig stark auf andere ein... Und ich glaube, diese Intensität, diese radikale... Zum Beispiel ist auch für mich der Begriff Brüderlichkeit einer der wunderbarsten. Wir müssten natürlich eigentlich auch über die Liebe reden. Also wo es dann nicht um Brüderlichkeit geht...

Gaus:
Reden Sie über die Liebe.

Strawalde:
Aber verstehen Sie, der Begriff der Brüderlichkeit, damit bin ich behaftet durch dieses Schicksal - was viele haben, viele, viele natürlich. Ich glaube, das ist der Urgrund, warum ich so... Und damit mag dieses ‚Hexenmeister’ gemeint sein. Ich habe Sie verführt.

Gaus:
Wie ist Ihr Verhältnis zu R. A. Penck heute?

Strawalde:
Ja, die große westliche Welt – es war ein großer Unterschied wenn man als... Ich weiß es zum Beispiel noch, wir haben also bis Ende, bis in die späten 80er Jahre korrespondiert. Er hat mir wunderbare Dinge aus aller Welt geschickt und Skizzen. Und wenn auf der Berlinale von mir zu DDR-Zeiten ein paar Filme im Forum des jungen Films liefen, wenn er irgend konnte, war er dabei – und es war schön. Er hatte dann mehr Geld und hat dann ein schönes Essen danach gegeben und Wein ausgegeben. Und da war dann Peter Herrmann da und es war wunderbar. Aber eben durch die Härten dieses Marktes und - ich glaube, es liegt nicht mal an ihnen, es liegt, glaube ich, an diesen...

Gaus:
An den Marktverhältnissen?

Strawalde:
Es liegt an den Galeristen, die die Dinge... Der Strawalde war gut als ein Filmemacher und er war auch als Maler nicht unbegabt.

Gaus:
Er soll bei seinem Leisten bleiben...

Strawalde:
Aber so, nicht? Und das würde die Sendung sprengen, was ich nun in dieser neuen Marktgesellschaft erlebe.

Gaus:
Dazu will ich etwas fragen. Ich zitiere Strawalde über die Zustände im vereinigten Deutschland als bildender Künstler: (Zitat) „Ohne die verrottete sozialistische Gesellschaft posthum entschuldigen zu wollen, doch die heutige Dreistigkeit und Frechheit des Oktruierens von Bedürfnissen damit die Geschäfte laufen, das hat Vergewaltigungscharakter.“ (Ende des Zitats.)

Strawalde:
Habe ich das gesagt?

Gaus:
Ja.

Strawalde:
Ach ja?

Gaus:
Ja. Das haben Sie gesagt.

Strawalde:
Gar nicht so doof.

Gaus:
Sagen Sie was dazu.

Strawalde:
Ja, da müsste man auch eigentlich so viel erklären. Meine Mutter sagte auch immer, das war auch sehr frech: „Da muss man hineingetreten sein“. Also, man muss es im Grunde erlebt haben, meinte sie. Gewisse Dinge, die man für unglaubhaft hält.

Gaus:
Was haben Sie erlebt...

Strawalde:
Und ich habe eben erlebt, was ich... Ich war so blöd und vermessen, dass ich dachte: Jetzt, in dieser neuen Zeit, wird man im Grunde gewissermaßen akzeptieren und staunen, was ich für Filme gemacht habe und dass ich auch noch ein toller Maler bin. Also ich dachte, das würde man nun...

Gaus:
Das Leben fängt richtig neu an...

Strawalde:
Und ich habe aber dann erlebt, dass eben Mitte der 90er Jahre, wurde ich dann nur noch von kleineren Galeristen genommen - leider nicht von einem großen einflussreichen - ich konnte das ja auch nicht managen, das war eben so. Und die kamen dann durch mich auf die Messen - Frankfurt, Köln. Und dort habe ich dann immer One-man-show Strawalde – und ich hatte Erfolg, es wurde auch gekauft. Und es gab viele, viele, die begeistert waren und so weiter. Und vor ein paar Jahren – so ’97 oder so, hat man sich wieder bemüht und da haben die dann gesagt: „Dieser Strawalde kommt nicht rein“. Und da haben die einen Rechtsanwalt genommen. Das ist eben der Ausschuss, der Zulassungsausschuss der Kölner Messe Art Cologne. Und dann haben die mit dem Rechtsanwalt erstritten und ein Schreiben geschickt und gesagt, dieser Strawalde, der ist zwar der Lehrer von Penck, aber Penck sieht das anders. Penck meint, er hat ihn von Anfang an geistig bestohlen, dieser Strawalde. Also, als Penck 14 war hat der Strawalde ihn schon bestohlen, steht da. Der Maler, dieser Strawalde, hat erst nach dem Fall der Mauer begonnen zu malen und vorher hat er so komische, hat er Filme gemacht für die DDR. Und alles, was er danach gemalt hat, ist alles von Penck gestohlen und deshalb haben wir schon früher...

Gaus:
Was hat Penck dazu gesagt?

Strawalde:
Warten Sie mal...

Gaus:
Ja, natürlich.

Strawalde:
Und deshalb haben wir schon vor Jahren gesagt, der darf nicht auf die Messe. Und das als fast 70jähriger zu erfahren, das ist für mich die größte Brutalität. Ich bin in der DDR Leuten gegenüber gewesen - Kurella, Abusch, Sindermann – also den größten Spitzen dieser Polit... Und die waren böse zu mir, sie haben mich verboten. Aber wissen Sie, was sie gemacht haben? Sie haben immer gesagt: Sie sind ein genialer... Sie waren wütend, dass ich meine Kraft nicht Ihnen gab. Sie haben mich im Grunde bestraft und es war hart. Aber sie haben mich als sogenannter Künstler gewissermaßen trotzdem so... Und was passiert mir als fast 70jährigem? Dass diese Leute behaupten, ich sei ein Plagiator, ich sei ein Nichts, ja? Und nur aus Geschäftsgründen oder aus Gründen weil sie denken, einer der in der DDR Filme gemacht hat, der darf jetzt nicht auftreten als Maler. Und wissen Sie, da habe ich auch paar Wochen gelegen und hatte Herzkrämpfe und es stand schlecht um mich. Ich habe diese anderen Dinge ertragen und schwer - wenn die Filme verboten, wenn die Malerei... Aber das war der härteste Schlag. Und das vergesse ich dieser Art von Kapitalismus niemals. Damit sage ich aber nicht, der Sozialismus ist besser.

Gaus:
Warum hat die Obrigkeit in der DDR, im real existierenden Sozialismus, die Kunst im weitesten Sinne - auch die Schriftstellerei, die Dichtung – warum hat sie die Kunst so wichtig genommen? Wenn man sie hätte gewähren lassen, was hätte passieren können? Bei der Malerei meine ich jetzt, das kann bei Schriftstellern noch anders sein. Malerei teilt sich nicht nach Auflage mit, sondern dem Einzelnen. Warum haben die die Kunst so wichtig genommen?

Strawalde:
Man darf nicht vergessen, dass – ich sage das nicht entschuldigend – es war natürlich wirklich eine Kampfsituation. Wir wissen, dass auch die frühe Sowjetunion... Also, es war ein irrsinniger Versuch, wir wissen, dass eigentlich in dem ärmsten Land man das nicht machen darf, dass da schlimme Dinge passieren. Aber nun, wenn Sie Isaak Babel lesen, die „Reiterarmee“, wenn Sie die Grüne Filme sehen...

Gaus:
Das ist ein sehr frühes Leseerlebnis für Sie.

Strawalde:
Das ist für mich ganz, ganz groß.

Gaus:
Ja, ich weiß.

Strawalde:
Majakowski – all dieser Aufbruch... Und wenn Sie wissen wie die Entente, wie sich die Völker zusammen, die reichen – und probiert haben, das nieder zu machen - wie man dann später Chile niedergemacht hat, wie man Nicaragua, wie man... Und wenn diese Kampfsituation ist, dann ist kein Gleichmut da. Also es mag auch sonst so sein, dass das Ideologische zu heftig geworden wäre. Und das war aber auch mit, dieser ungeheuer reiche Westen, der hat diese Funktionäre, die dann nun immer, der hat die in einen Zustand versetzt, der war krank. Sie haben also probiert - wie Männer, die eine junge hübsche Frau haben und eine solche Angst haben, dass die auch nur spazieren geht und mit einer Eifersucht und dass sie nur Ihr Zeug machen soll - so haben sie probiert, die Künstler, in ihrer Angst es zu schaffen und in ihrem Wahn der Macht also damit das endlich... Manche, die ja selber in Zuchthäusern und KZs waren, sind dann so degeneriert. Ich entschuldige das nicht, aber diese ungeheure Macht des Westens, wo sie glaubten, das sei nun langsam... Und dadurch haben sie das Ideologische, dieses Eifersüchtige, nur ihr Zeug machen und diesen Hyperwahn, dass jedes kleine Gedicht, jedes kleine Bild schon, wenn es nicht genau ihr Zeug verfolgt, ihnen nicht nur nicht hilft, sondern vielleicht sogar schadet. Das war Wahnsinn, völlig idiotisch. Aber ich probiere zu erklären - ich weiß es auch deshalb, weil ich diesen Herrn ja leider sehr nahe gekommen bin. Also Gespräche hat ja Hager mit mir geführt, nicht? Kurella, Abusch - die wollten mich ja umbiegen. Die wollten mir erklären, warum sie meinen Film verbieten. Und dadurch habe ich gemerkt, wie armselig das war. Die haben mir auch wirklich ein paar... Stories aus ihrem Leben erzählt, warum sie das so machen müssen.

Gaus:
Das heißt, sie haben um sie gerungen.

Strawalde:
Ja. Und wenn ich dann später auf der Dokfilm-Woche, das muss ich noch sagen, wenn da ein Film von mir lief, und wir saßen dann nachts um drei im Bahnhof - der leider nicht mehr so schön ist, der Leipziger Hauptbahnhof - weil dort noch ausgeschenkt wurde, mit Wildenhahn, mit großartigen Regisseuren. Und ich habe etwas aus dem Leben geplaudert und habe dann solche Stories - da saßen sie da... Mein Gott, die haben mich beneidet, die haben gesagt: Man, bei uns der Abteilungsleiter würde sich nicht einmal so und hier diese Spitzen der Gesellschaft haben mit dir so... Das hat ihnen irgendwie so exotisch angemutet, und die haben fast gedacht, ich haue auf den Putz und gebe an und das kann ja fast gar nicht stimmen.

Gaus:
Vermissen Sie es?

Strawalde:
Nee.

Gaus:
Überhaupt nicht?

Strawalde:
Nein, das vermisse ich nicht, ach nein. Gott hab sie selig, nein. Ach Quatsch, das wäre ja nun albern, das wäre ja total albern.

Gaus:
Aber das, was Sie vorher gesagt haben über den Kunstmarkt heute und Ihre, die Beleidigung, die er Ihnen zugefügt hat, nach Ihrer Vorstellung, der Kunstmarkt heute, der „Vergewaltigungscharakter“...

Strawalde:
Das ist nicht eine Beleidigung, das ist ja Rufmord, das ist Arbeits...

Gaus:
Nein, nein natürlich. Wie gesagt das Zitat „Vergewaltigungscharakter“, das ich da von Ihnen gefunden habe. Ich zitiere mal etwas, das zu einer Ausstellung Ihrer Bilder Ende 1990 im Alten Museum in Berlin geschrieben worden ist, Zitat: „Strawalde war kein innerer Emigrant, kein entwurzelter Baum. Er hatte naiv gehofft und geirrt wie viele. Sonst wären nicht diese Bilder. Sonst hätte er resigniert oder wäre Zyniker geworden.“ Ende des Zitats. Wollen Sie das ergänzen? Wollen sie es korrigieren? Wollen Sie es bestreiten? Sagen Sie, das ist wahr?

Strawalde:
Ich habe das – steht das da wirklich drin?

Gaus:
Mhm, das steht da wirklich drin in der Berliner Zeitung.

Strawalde:
Ach so in der Berliner Zeitung, ich dachte...

Gaus:
Ja, das ist nicht von Ihnen, sondern - nein. Ich habe gesagt, ich zitiere, was zu einer Ausstellung Ihrer Bilder 1990, Ende 1990 im Alten Museum in Berlin geschrieben worden ist: „Strawalde war kein innerer Emigrant, kein entwurzelter Baum. Er hatte naiv gehofft und geirrt wie viele. Sonst wären nicht diese Bilder. Sonst hätte er resigniert oder wäre Zyniker geworden.“ Ende des Zitats aus der Berliner Zeitung.

Strawalde:
Ja, das ist lieb gemeint, aber das trifft natürlich nur einen Teil. Also, so naiv war ich nicht. Sondern ich war ein Verrückter und war ein... Ich hatte immer einen Zug der grässlich war, eine Art masochistischen Zug. Ich habe aus meinen Erlebnissen geschlossen, dass ich büßen muss - also, dass es besser ist, harte Sachen zu erleben, als im Westen reich zu sein. Da wäre ich gar nicht klar gekommen. Verstehen Sie? Wir haben uns im Verhältnis gesehen zu Russen, zur Sowjetunion, zu Polen – wie wir Deutsche sie massakriert haben. Und dass man in der DDR gejammert hat, weil man nicht so schön lebte wie im Westen, ist verständlich. Aber im Osten, die wir überfallen haben, wo wir Millionen umgebracht haben, wo wir die Städte zerteppert haben - die lebten noch viel schlimmer. Und das konnte ich nicht aus dem Auge lassen. Folglich habe ich dieses völlig idiotische - aber ich stehe dazu, es war für mich nicht möglich, nach dem Westen rüber zu gehen. Jüngeren habe ich das nie verdacht, weil die nicht diese einschneidenden Erlebnisse hatten. Und so habe ich all diese Sachen als relativ gerechte Strafen, als Buße – aber nur, weil ich diese kleine Nazi-Uniform da getragen habe. Also es klingt komisch, nicht? Aber ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, wie wir jede Woche eben diese Nazi-Wochenschau gesehen haben. Und wie man als Junge erst mal mitlebt, ja? Stuka, Prien... ja, wie man – obwohl die Eltern, die haben das natürlich nicht gegen gesteuert. Das haben die nicht gewagt in dem kleinen Dorf, nicht? Die waren abseits. Und dann habe ich aber später gemerkt, auf welch einem Wahnsinnsast wir saßen, nicht? Und ich habe gemerkt, ich bin aus einer Mörderbande, eine ungeheure, gemeine Mörderbande, die die ganze Welt überfällt. Und deshalb bin ich auch so allergisch, wenn ich dann merke – Krupp - ja, wenn ich sehe, wie das alles zusammenhing mit den Waffen. Wie IG Farben mitgeholfen hat, die Gifte zu machen, um Millionen in Auschwitz... Und deshalb war ich fassungslos, dass das dann später wieder völlig okay ist. Und deshalb wollte ich - sehen Sie und das war nicht naiv. Sondern ich blieb auf einer relativen Seite, wo ich auch gelitten habe. Wie idiotisch das war - wie viel Unrecht, wie viel Armseligkeit – von Stalin jetzt will ich mal ganz absehen, da war es ja sowieso... aber ich habe dann gedacht, ich bin da gestartet und damit ende ich mit gewissermaßen. Verstehen Sie? So ist das bei mir passiert. Und das ist noch was anderes als die sagen. Ich war nicht naiv.

Gaus:
Ja. Sie haben es deutlich gesagt. Nun geht das Leben allmählich zu Ende...

Strawalde:
Oh ja.

Gaus:
Ihres wie meines.

Strawalde:
Das ist auch nicht schlecht.

Gaus:
Ja. Steht am Ende – wie ist Ihnen, wenn Sie über den Tod nachdenken? Oder tun Sie es nicht?

Strawalde:
Nachdenken muss man das nicht nennen, ich habe mit ihm Kontakt. Und ich denke schon, das wäre ja albern - also es gibt ja so viele, die so jung ins Gras beißen müssen. Wenn wir die Berichte sehen, fast jeden Tag, nicht? Die Jungs da, die jungen Russen, wieder dort wegen einem Scheißkrieg. Irak – wir wollen gar nicht davon reden, wie viele Kinder unentwegt ermordet werden, nicht? Unentwegt für irgendwelchen Dreck. Dann dürfen wir 70jährige nicht etwa verzweifeln, dass wir eventuell bald nicht mehr da sind.

Gaus:
Nein, verzweifeln nicht.

Strawalde:
Nein, das weiß ich, dass sie das nicht meinen. Und dann gibt es eine Gnade, dass man dann nicht mehr unter solchen Nachrichten... Denn das ist die Frage, dass man trotzdem ist, dass man trotzdem liebt, dass man trotzdem an irgendwelchen - das ist ja ein Vabanque ersten Ranges, ja? Die Frage ist - dieses Wort Mitgefühl, Mitleid, das ist ja ein Riesenbegriff, verstehen Sie? Aber wir werden auf eine Probe gestellt. Wir können fast alle nur leben indem wir es runter regulieren. Sonst werden wir wahnsinnig - was wir unentwegt ins Haus bekommen an... Und deshalb meine ich - ich glaube, der Tod ist so was... Ich quäle mich oft bis in die Nacht - nicht immer arbeitend, aber so. Und dann brauche ich eine Stunde, ehe ich schlafen kann. Und dieser Moment, wenn dann der Schlaf kommt, der ist groß und zauberhaft. Und ich glaube, letztlich ist der Tod so was.

Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage: Gibt es ein Bild, das sie noch malen möchten, oder einen Film, den sie noch drehen möchten?

Strawalde:
Na, Herr Gaus, Sie sind gut: ‚Gibt es ein Bild?’. Ich mache noch ein bisschen und dann mache ich noch viele Wahnsinnsbilder, die ich aber nicht bezeichnen werde. Und ich mache wahrscheinlich - vielleicht mit 80 oder mit 90 - einen der irrsinnigsten Spielfilme noch. Das ist doch ganz klar. Und das wird ein Liebesfilm par excellence und mit einer anderen Lesart als die meisten Filme, die heute produziert werden. Und der wird dann vielleicht nicht verboten, aber unheimlich befremdet aufgenommen. Aber er wird dann in der Welt sein.
Wollen Sie noch was wissen?