Sendung vom 02.10.1963 - Dehler, Thomas

Günter Gaus im Gespräch mit Thomas Dehler

Ich bin kein ungläubiger Thomas

Thomas Dehler, geboren am 14. Dezember 1897 in Lichtenfels/Franken, gestorben am 21. Juli 1967 in Streitberg/Oberfranken.
Jurastudium in Würzburg, Freiburg und München. Erste politische Tätigkeit im Republikanischen Studentenbund, dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Demokratischen Partei. 1933 bis 1945 Verbindung zu einer Oppositionsgruppe, zweimal vorübergehend in Haft. 1946 Mitbegründer der FDP in Bayern und bis 1956 bayerischer Landesvorsitzender. Mitglied des Parlamentarischen Rates und ab 1949 des Bundestages, dessen Vizepräsident er 1960 wurde. Justizminister im ersten Kabinett Adenauer 1949; 1953 Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, 1954 bis 1957 Vorsitzender der FDP.
Das Gespräch wurde gesendet am 2. Oktober 1963.

Gaus: Herr Dr. Dehler, in der nächsten Zeit wird Bundeskanzler Adenauer zurücktreten, und es geht damit eine Epoche zu Ende, eine erste vierzehn Jahre währende Periode der Bundesrepublik Deutschland, in der Sie – immer in der ersten Reihe stehend – von Anfang an dabei gewesen sind. Sie gehören also zu einer Gruppe von Politikern, die immer kleiner wird. Sie haben diese ersten vierzehn Jahre zunächst als Bundesminister in Adenauers Kabinett erlebt, später auf der Oppositionsbank und jetzt wieder als Abgeordneter der Freien Demokraten in der Koalition. Als Sie auf der Oppositionsseite des Hohen Hauses saßen, gehörten Sie oft zu den schärfsten Kritikern Adenauers, und das bringt mich auf meine erste Frage zur Person: Sie haben von sich selbst manchmal gesagt, daß man Sie verstehen müsse als einen Mann, der aus dem barocken Geist und Lebensgefühl seiner oberfränkischen Heimat, wo Sie 1897 in der Kleinstadt Lichtenfels geboren sind, daß Sie aus diesem barocken Lebensgefühl der oberfränkischen Heimat zu verstehen seien. Was meinen Sie damit? Bedeutet dieser Hinweis auf das Barocke in Ihrer Selbsteinschätzung das Eingeständnis einer gelegentlich uferlosen Phantasie, einer manchmal geradezu ungezügelten und überquellenden Rhetorik auch im Angriff auf politische Gegner?

Dehler: Das Barocke hat bestimmt in meiner menschlichen Entwicklung eine große Rolle gespielt. Ich bin immerhin aufgewachsen zwischen dem barocken Vierzehnheiligen von Balthasar Neumann und dem barocken Kloster Banz von Dietzenhofer. Aber es wäre doch falsch, das Barocke als ausschließlich bestimmend für mich ansehen zu wollen. Zwar die Pfarrkirche, die Kirche meiner Jugend, in der ich doch fast Tag für Tag gekniet habe, war im Innern barock, die Ausstattung aus dem 17. Jahrhundert, mit einem barocken Kruzifix, aber die Kirche war eine gotische Kirche aus dem 14. Jahrhundert. Lebensmittelpunkt für mich, da wir von Oberfranken sprechen, war die Bischofsstadt Bamberg, war der romanische Dom Heinrichs des Zweiten, der Reiter, die ergreifenden Figuren an den Chorschranken. Und das Eigenartige meiner Heimat Lichtenfels ist es und war es für mich in meiner Jugend, daß dieses Städtchen Schnittpunkt ist zwischen zwei fast ganz gegensätzlichen Lebensströmen – das katholische Fürstbistum Bamberg, zu dem Lichtenfels gehörte und immer noch gehört, und auf der anderen Seite die nahe Residenzstadt Coburg, die Residenzstadt Sachsen-Coburg ...

Gaus: ... eine protestantische Residenzstadt ...

Dehler: ... eine protestantische Residenzstadt, evangelisch bestimmte, ganz anders geartete Stadt. Also es waren zwei Komponenten und noch unterstützt durch das nahe Bayreuth, die Markgrafenstadt, die Richard-Wagner-Stadt. Es kamen schon viele Faktoren zusammen. Ich möchte diese gelegentliche Bezeichnung des Barocken doch nicht als bestimmend für mich hinnehmen, fast im Gegenteil. Je älter ich wurde, desto mehr galt meine Neigung dem Romanischen. Ich weiß auch nicht, ob es richtig ist, gelegentliche temperamentvolle Äußerungen, die oft in der Wiedergabe leidenschaftlicher erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren, als wesensbestimmend für mich hinzunehmen. Ich glaub', ich bin ein wenig schwierig.

Gaus: Herr Dr. Dehler, wir werden versuchen herauszubekommen, wie schwierig Sie sind. Ihr Elternhaus in Lichtenfels, wo die Dehlers seit Generationen als Metzger, als Gastwirte und Bierbrauer sitzen: Ihr Elternhaus war streng katholisch, und es schien vorübergehend nicht ausgeschlossen, daß Sie, als einer von vier Buben, Priester werden würden. Sie sind es nicht geworden, und ganz im Gegenteil ist später der Kampf gegen den politischen Katholizismus ein Kern Ihres politischen Lebens gewesen. Das ist ein Bruch, den ich mir nicht von ungefähr vorstellen kann. Können Sie ihn mir erläutern?

Dehler: Der Hintergrund ist viel differenzierter, als er zunächst erscheinen mag. Meine Vorfahren waren Chirurgen. Mein Urgroßvater – Ferdinand Dehler – war Wundarzt, nahm teil an den Feldzügen der napoleonischen Zeit, wir haben von ihm noch Briefe, er nahm teil an Seeschlachten auf dem Mittelmeer, war lange Zeit in Wien. Mein Großvater war Chirurg, mein Vater war Chirurg und Bader. Also das Hinüberschwenken zu den Berufen des Bierbrauers, des Gastwirtes, des Metzgers war eigentlich erst eine spätere Folge. Es ist übrigens – vielleicht ganz charakteristisch – ein sehr komplexer Zustand, eine kleine, wirtschaftlich selbstgenügsame Landwirtschaft. Wir buken unser Brot selbst, wir brauten unser Bier selbst, wir schlachteten selbst, und von meinem Großvater wurde erzählt, wenn ein Gebräu besonders gut gelungen war, dann schenkte er es ungern aus, sondern trank es am liebsten selbst. Es war doch so ein gewisses Patriziertum, mein Großvater war Magistratsrat, mein Vater war Gemeindebevollmächtigter, wie man es damals in Bayern hieß. Mein Elternhaus war sehr betont katholisch, der Katholizismus war das Lebensgefühl, es war ein liberaler Katholizismus, ein weitherziger, kein muffiger.

Gaus: Von diesem Katholizismus zum ausgesprochenen Kampf gegen den Katholizismus in der Politik ist es natürlich trotz allem ein weiter Schritt. Wie ist es dazu gekommen?

Dehler: Also zunächst einmal: Wie kam ich eigentlich zu dem Entschluß, als junger Mensch Priester werden zu wollen? Nicht immer beeinflußt von den Eltern, nicht stimuliert, sondern ich war ein besonders frommer Bub und fand im Katholizismus wirklich eine bergende Kraft, gute Beziehungen zu den Kaplänen, die eine große Rolle in der Bildung, im Schulwesen einer kleinen Stadt darstellen. Dann gab es natürlich die Krisen, wie sie in der menschlichen Entwicklung beinahe selbstverständlich sind. Ich kam aufs Gymnasium nach Bamberg. Ich galt immer als ein braver, ordentlicher Schüler, und ein Hauptlehrerssohn, der etwas gefährdet war, wurde mir beigegeben, damit ich ihn positiv beeinflusse. Da erlebte ich dann, wie der Religionslehrer ihn systematisch ausschaltete, weil er nichts von ihm hielt. Vielleicht hat er sogar eine Gefahr in ihm für mich gesehen, möglich. In einer Religionsstunde begann er ein Gespräch mit dem Schüler über die göttliche Natur und hat ihn, ich muß schon sagen, dialektisch zu der Schlußfolgerung geführt, daß er das Gottestum Christi leugnete mit der Folge, daß er der Schule verwiesen wurde. Ein Erlebnis, das ich nicht verwunden habe. Aber die eigentlichen, entscheidenderen Erlebnisse lagen etwas später. Daß ich den politischen Katholizismus als gefährlich empfand: Wenn ich es zeitlich mal fixieren will, war es wohl der Fechenbach-Prozeß, den ich als junger Jurist 1919 in München erlebt habe ...

Gaus: ... das Landesverratsverfahren ...

Dehler: ... der Landesverratsprozeß gegen Fechenbach, der angeklagt wurde vor allem, weil er ein Telegramm des bayerischen Gesandten am Vatikan, Ritter, vom Juli 1914 veröffentlicht hat, in dem Ritter damals darstellte, daß Papst Pius X. und sein Kardinalsekretär den Krieg nicht ablehnten, sondern in dem Krieg gewisse Möglichkeiten für die Kirche sahen ...

Gaus: ... im Ersten Weltkrieg ...

Dehler: ... Ersten Weltkrieg, 1914, und aus dieser Einstellung heraus Wien zur Härte gegenüber Serbien ermahnten. Der Gegenstand des Prozesses und die Art des Prozesses haben mich tief beeindruckt, ein Erlebnis, das ich nicht verwunden habe.

Gaus: In der Zeit waren Sie als Unteroffizier der Feldartillerie aus eben diesem Ersten Weltkrieg zurückgekommen und hatten zunächst in Würzburg und später in Freiburg und München ein Jurastudium begonnen. Gleichzeitig begann Ihr politisches Leben, das seither nie mehr aufgehört hat. Sie waren Mitbegründer eines antifaschistischen Schutzbundes »Der Reichsadler«, der später in München im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold aufging, und Sie gehörten der Deutschen Demokratischen Partei, der liberalen Partei – später Staatspartei – an. Was hat diese Hinwendung zum Politischen bei Ihnen bewirkt?

Dehler: Die Eindrücke des Ersten Weltkrieges waren für mich doch sehr bedeutsam. Ich hatte eine starke Bindung an das Vaterländische. Dazu trugen Jugendeindrücke ganz wesentlich bei. Der Bruder meiner Mutter war nach Bremen verschlagen worden. Als ganz junger Mensch kam ich dort hinauf ins Reich und erfuhr so die Weite des deutschen Vaterlandes. Die Bindung, sicherlich tief begründet, hat sich bis heute nach meiner Meinung auch nicht verändert. Für mich war bedeutsam eine Begegnung, die ich im Jahre 1916 mit Edgar Jung hatte. Edgar Jung, der später der Berater des Reichskanzlers Papen war, der klar gestanden hat und 1934 ums Leben kam. Ein sehr kluger, ein sehr selbständiger Mann.

Gaus: Ein prononcierter Katholik.

Dehler: Ja. Seine Skepsis gegenüber der politischen Weisheit der damals Verantwortlichen, auch gegenüber der politischen Einsicht Hindenburgs, besonders Ludendorffs, der doch die politische Macht an sich gezogen hatte, hat mich tief beeindruckt. Und dann ein ganz konkretes Erlebnis. Ich war schon vor dem Ende des Weltkriegs wegen einer schweren Erkrankung zurückgekommen und erlebte in München die Revolution am 7. November 1918, den Zug der Arbeiter, der Arbeiterinnen von der Theresienwiese durch die Straßen der Stadt, war Zeuge, wie die Posten an der Residenz – teils unwillig, teils hingezogen von dem Strom dieses Zuges – die Gewehre wegwarfen und mitgingen. Das hat mich sehr stark erschüttert, besonders die Ohnmacht des Staates, daß mit einem Male nichts mehr vorhanden war, was bestimmend war.

Gaus: Empfanden Sie als Monarchist in diesem Augenblick?

Dehler: Sehr, ja. Ich war wirklich ein Wittelsbacher-Anhänger. Die Gestalt des Prinzregenten Luitpold war in meiner Jugend wirklich ein Vater-Imago. Das hatte sich auf seinen Sohn, auf Ludwig III. übertragen. Das sind Eindrücke, die ich nicht verwunden habe. Zurück zu diesen erregenden Erlebnissen in München bis 1919 – Räterepublik und all diese unglaubliche Dramatik. Ich bin noch kurz vor der Belagerung Münchens mit einem Zug, der bis Lichtenfels ging, rausgekommen. Ich habe die eigentliche Katastrophe des Rätekommunismus nicht mehr miterlebt. Aber diese Dinge haben mich politisch sehr aufgewühlt und waren bestimmend für meine weitere Entwicklung.

Gaus: Herr Dr. Dehler, Sie haben sich stets dem Liberalismus – den Ideen wie auch Ihrer Parteizugehörigkeit nach – verpflichtet gefühlt. Ich würde gern wissen, was einen so temperamentvollen und phantasiebegabten und auch gefühlsbetonten jungen Mann, wie Sie es gewesen sind, vor den Versuchungen und Verlockungen der anderen politischen Ideologien dieser zwanziger Jahre bewahrt hat und was Sie so konsequent zum Liberalismus hinführte, der doch seinerzeit bereits eine Art von Honoratiorenpartei gewesen ist, die viele junge Leute nicht sonderlich anzog.

Dehler: Ja, warum mich der politische Katholizismus, man kann schon sagen, abgestoßen hat, habe ich ja schon zu begründen versucht. Ich habe zuviel in Bayern erlebt, was mir nicht positiv erschien. Die weitgehende Bestimmung der staatlichen, der gesellschaftlichen Dinge unter religiösem Gesichtswinkel, das hat der Entwicklung nach meiner Überzeugung nur geschadet. Es wäre nun aber falsch, anzunehmen, ich sei zunächst nicht vom Sozialismus angezogen gewesen. Sozialismus lag ja, auch nach 1918, in der Luft, war gewissermaßen die erlösende politische Macht. Vielleicht hat mich schon das Erlebnis der Räterepublik mit ihren Exzessen in München geheilt.

Gaus: Kann es sein, daß vornehmlich also Ihre Abneigung gegenüber den Erscheinungsformen des politischen Katholizismus, wie Sie sie gesehen haben, Sie zum Liberalismus führte? Wenn Sie so wollen, also ein negativer Grund.

Dehler: Für mich waren die angelsächsischen Grundrechte das Bestimmende, das ist die Grundlage des Staates, und das verstaubt nicht, und das ist nichts Überholtes, die Grund- und Freiheitsrechte, wie sie nicht nur in England, auch in der Schweiz und besonders drüben in der freien Welt gewachsen sind, das waren meine politischen Ideale.

Gaus: Welche Begegnungen haben Sie im Auge gehabt, von denen Sie eben angedeutet haben, noch sprechen zu wollen? Sie haben seinerzeit noch ein paar der großen liberalen deutschen Männer kennen gelernt, Naumann zum Beispiel, auch der junge Theodor Heuss gehörte in den zwanziger Jahren bereits zu Ihrem Bekanntenkreis. Wer hat den stärksten Eindruck auf Sie gemacht, nicht von diesen beiden allein, sondern von politischen Vorbildern überhaupt?

Dehler: Für mich war sehr wichtig die Begegnung mit dem Münchner Staats- und Kirchenrechtler Karl Rothenbücher, eine sehr geprägte Gestalt. Ich habe ihn für einen ausgezeichneten Mann gehalten, der leider viel zu früh gestorben ist. Dann auch die Begegnung mit Vossler, dem Romanisten, Pius Dirr, einem anderen bayerischen Liberalen hoher Qualität, Archivdirektor in München, aber dann besonders der junge Theodor Heuss, der häufig zu uns gekommen ist. Die junge demokratische Bewegung darf ich nicht vergessen; ich war sehr bald führendes Mitglied bei den Jungdemokraten in Bayern, schon in den frühen zwanziger Jahren.

Gaus: Sie ließen sich dann im Bamberg, in Ihrer engeren Heimat, als Rechtsanwalt nieder in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Sie waren da schon verheiratet, und in Bamberg waren Sie Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei. Wie lange haben Sie geglaubt – Sie als ein Mann, von dem man zuweilen sagt, daß er nicht immer ganz nüchtern urteile, dafür aber gelegentlich den Mut des Idealisten habe –, wie lange haben Sie geglaubt, daß die Weimarer Republik zu retten sei? Bis wann?

Dehler: Ich habe mich mit ganzer Kraft eigentlich dem Aufbau der Weimarer Demokratie hingegeben. Ich habe schon 1924 in Bayern kandidiert ...

Gaus: ... ohne Erfolg ...

Dehler: Natürlich ohne Erfolg. In Mainburg in der Hallertau. Es war ein tollkühner Versuch. Ich habe trotzdem meine politische Arbeit unverzagt fortgesetzt – nicht nur auf der bayerischen Ebene, sondern auch auf der Reichsebene. Wir hatten eine ausgezeichnete jungdemokratische Organisation, aus der noch mehr Leute in verschiedenen Parteien später hervorgegangen sind – Lemmer, Ernst Lemmer war einer meiner guten Freunde, und der Hamburger Landahl. Wir sind unverzagt – trotz aller Rückschläge – unseren Weg weitergegangen. Es gibt eigentlich keine Periode, in der ich kleinmütig gewesen wäre. Es war unsere Überzeugung: Nur wenn wir Erfolg haben, wenn unsere Vorstellung vom Staat, wenn unser rechtsstaatliches Wollen Wirklichkeit wird, wird diese Demokratie bestehen. Und dieses Bewußtsein ist eigentlich immer härter geworden, je schlimmer die Gegenkräfte waren. Ich habe den Nationalsozialismus von 1919 an entstehen sehen. Ich habe das erste Tätigwerden Hitlers und seiner Gruppe miterlebt. Ich habe noch den Übergang der Deutschen Demokratischen Partei zur Staatspartei mitgemacht, wir haben uns dann noch mit dem Jungdeutschen Orden verbunden in dem Glauben, wir könnten von dort aus wertvolle junge Kräfte bekommen – ich habe eigentlich nie verzagt.

Gaus: Neigen Sie nicht zum Kleinmut? Wissen Sie sich frei davon, gelegentlich zu resignieren, haben Sie immer genügend Kraft, weiterzumachen?

Dehler: Gewiß, es gibt oft schwere Stunden. Ich habe einmal den Ernst Lemmer gefragt, warum er eigentlich zur CDU gegangen ist. Dieser überzeugte liberale Mann hat mir gesagt, etwas habe er einfach nicht mehr hinnehmen können: diese Stunden nach einer Wahl, wenn man sich eingesetzt hatte mit allem, was einem zur Verfügung stand, mit der ganzen Gläubigkeit, daß man doch das Gute, das Rechte will; und dann einen Mißerfolg, in der Weimarer Zeit immer größere Mißerfolge, hinnehmen müssen, das mochte er nicht mehr. Ich kann's verstehen, ich verzeihe es ihm auch, daß er diesen Weg gegangen ist. Er ist trotzdem ein ausgezeichneter Mann geblieben. Natürlich gab es auch bei mir Bitternisse, Verrat von Freunden, auf die man gezählt hatte, aber im Kern war ich eigentlich nie davon berührt.

Gaus: Herr Dr. Dehler, Sie haben dann unter der nationalsozialistischen Herrschaft als Rechtsanwalt in Bamberg einer Oppositionsgruppe angehört, die zu loser Verbindung mit dem Kreis um Goerdeler stand, und Sie sind 1938 vorübergehend verhaftet und 1944 in ein Zwangslager nach Thüringen eingewiesen worden. Sie haben vor allem Ihre Ehe mit einer Jüdin aufrechterhalten, trotz aller Einschüchterungsversuche, trotz aller Beeinflussungen, die seinerzeit an der Tagesordnung waren. Ich würde gern wissen: Das Verhalten, das die Mehrheit der Deutschen seinerzeit an den Tag legte, das hätte doch einen Mann, der erlebt hat, was Sie erleben mußten, sehr leicht zur Skepsis oder sogar zur Verachtung gegenüber gewissen Eigenheiten des deutschen Volkscharakters bringen können – trotzdem hat es von Ihnen nach dem Kriege kein einziges, soweit mir bekannt ist, pauschales Verdammungsurteil über Ihre deutschen Landsleute gegeben. Im Gegenteil, Thomas Dehler hat manchmal sogar sehr prononcierte nationale Töne angeschlagen. Bitte, sagen Sie mir, wie erklären Sie sich selbst die Ungebrochenheit Ihres Nationalgefühls? Aus welchen Wurzeln wird dieses Gefühl gespeist?

Dehler: Ist die Prämisse richtig, daß die Mehrheit des deutschen Volkes diese unselige Entwicklung gewollt oder auch nur gebilligt hat? Ich glaube es nicht. Das habe ich alles zu sehr aus der Nähe erlebt. Der Weg zum Nationalsozialismus war eine Folge des politischen Versagens der Verantwortlichen ...

Gaus: ... vor 1933 ...

Dehler: ... vor 1933, natürlich, und am Ende möchte ich meinen, wir haben nicht genügend gekämpft, man kann vielleicht den Vorwurf erheben, wir haben nicht genügend »geglaubt«, wir haben unsere Sache nicht stark genug vertreten. Auf jeden Fall, diese Fragen haben mich immer stärker bewegt als Anklagen gegen andere. Daß andere politisch uneinsichtig waren, daß sie die Gefahren nicht erkannten, daß sie die kleinen Sorgen des Tages, die Mühseligkeiten, die Schwierigkeiten eines Standes zu groß nahmen und die staatspolitische Verantwortung nicht empfanden, kann man ihnen das zum Vorwurf machen? Nein, die politisch Verantwortlichen, die in der Partei Führenden, die waren nicht überzeugend, nicht willensstark genug. Darum kam ich eigentlich niemals zu der Fragestellung: Will ich anklagen? Fast möchte ich sagen: daß ich noch vorhanden bin – mit meiner Frau, mit meiner Tochter –, ist doch auch ein Beweis, daß es viele Kräfte gab, die eben dem Nationalsozialismus nicht verfallen waren.

Gaus: Solche Kräfte haben Ihnen in dieser Zeit in Bamberg geholfen?

Dehler: Sonst wäre es gar nicht denkbar gewesen, daß ich diese Zeit überdauert hätte. Rückblickend ist es doch ein Wunder. Zum Beispiel: Leute aus dem Widerstandskreis, dem ich angehörte, sind verhaftet worden, der führende Mann lag jahrelang im Gefängnis des Volksgerichtshofes, nahe Freunde sind von der Polizei vernommen worden und gewarnt worden, überhaupt noch mit mir in Verbindung zu treten. Ein Wunder, daß ich diese Gefahren überdauert habe.

Gaus: Gut, Sie haben sie überdauert, Sie haben aber auch all die Bitternis, die dabei war, erlebt – es hätte ja sein können, daß diese starke Hinwendung zum Nationalen, die Sie offensichtlich auszeichnet, unter diesen Gefahren zerbrochen wäre. Sie ist es nicht. Warum nicht?

Dehler: Für mich ist die Bindung an das Volk etwas Gegebenes, etwas naturrechtlich Gültiges. Meiner Überzeugung nach sind die Nationen die Protagonisten auf der Bühne der Weltpolitik. Also ein Volk muß als solches bestehen. Das bestimmt auch meine Haltung zur europäischen Frage, ich neige da sehr zur Auffassung des französischen Staatspräsidenten de Gaulle.

Gaus: ... vom Europa der Vaterländer.

Dehler: Gewiß, Europa muß sich finden, muß seine Kräfte sammeln, aber nicht in der Form des Aufgehens in konzentrierten Instanzen, in Bürokratien, sondern im organischen Zusammenwirken der Völker. Die Völker müssen die Grundlage sein. Das Vaterland muß zunächst einmal in Ordnung sein. Sie können mir sagen: Da ist ein Stück Romantik dabei. Die Wandervogelbewegung war für mich auch bedeutsam in meiner Jugend. Ihr Geist, der hat mich auch geprägt. Das ist mir bisher geblieben. Und mir haben die schlimmen Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit den Sinn für den Wert des deutschen Volkes nicht nehmen können.

Gaus: Wie sehen Sie dieses deutsche Volk – nach Ihren Erfahrungen und nach Ihrem Leben? Was sind seine Vorzüge, was sind seine Mängel?

Dehler: Jetzt bei meinem Besuch in der Sowjetunion ist mir das wieder bewußt geworden, was doch positiv ist. Merkwürdig, ich habe dort drüben niemals einen Vorwurf gehört. Wenn mir Zerstörungen aus der Kriegszeit gezeigt wurden, wie der Petershof, dieses Versailles Peter I., des Großen, so eigentlich nicht, um anzuklagen, sondern eigentlich nur, um die eigene Leistung darzustellen. Überall Respekt vor den Deutschen, Freude über meinen Besuch, weil ein deutscher unabhängiger Politiker kommt, der Glaube, die Deutschen bedeuten etwas. Das war wieder eine Bestärkung meiner Überzeugung, daß doch im deutschen Volk, in seiner Geschichte soviel Wertvolles liegt. Wir haben es immer schwer gehabt. Alle Spannungen in der Welt, kann man sagen, haben sich hier in dem Raume getroffen, in dem wir leben; und haben sieh auch getroffen in unserer Brust – wir mußten sie austragen, auch geistig austragen. Aber ist nicht die Geschichte des deutschen Volkes, trotz allen politischen Versagens, geistig eine positive? Ich bejahe es. Ich bekenne mich zu diesem Volk in seinen Werten.

Gaus: Halten Sie es für möglich, daß diese Deutung jener Nüchternheit entbehrt, die man gerade gegenüber Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt, an den Tag legen sollte?

Dehler: Bin ich weniger nüchtern als ein Engländer, der sich zu der Geschichte seines Volkes und zu seinem Volke bekennt? Weniger nüchtern als – ich will gar nicht von de Gaulle sprechen –, ein Franzose, der sein Volk bejaht und sich zu ihm bekennt? Es liegt ja auch etwas Schicksalhaftes in einer solchen Haltung.

Gaus: Glauben Sie, daß die Mehrheit der Westdeutschen diese Ihre Grundhaltung teilt?

Dehler: Man kann es ja nur aus gewissen Reaktionen schließen. Eigenartig, wie zum Beispiel meine Reise nach der Sowjetunion von den Menschen, besonders von einfachen Menschen, bejaht worden ist. Warum eigentlich? Es ist auch ein Bekenntnis zum Volk und das Empfinden, es muß etwas für die deutsche Einheit, für diese deutsche Gemeinschaft geschehen. Ich mache der Geschichte der letzten vierzehn Jahre den Vorwurf, daß sie das nationale Leitbild nicht genügend herausgestellt hat. Ein Volk richtet sich halt immer nach dem, was die verantwortlichen Menschen, die im Vordergrunde stehen, empfinden wollen, im Bewußten und noch öfter vielleicht sogar im Unbewußten.

Gaus: Herr Dehler, diese letzten vierzehn Jahre, von denen Sie jetzt sprechen und die jetzt mit einer Zäsur, dem Rücktritt Adenauers, enden, diese letzten vierzehn Jahre haben Sie am Anfang in der allerersten Linie der Regierungskoalition gesehen. Sie waren nach dem Kriege als ganz und gar unbelasteter Mann einer der führenden Köpfe der wiederbegründeten liberalen Partei, der FDP, und zunächst in Bayern in hoher öffentlicher Position tätig, als Generalstaatsanwalt in Bamberg und Oberlandesgerichtspräsident in Bamberg; dann waren Sie Mitglied des Parlamentarischen Rats, der die westdeutsche Verfassung verabschiedet hat, Abgeordneter im ersten Bundestag für die Freien Demokraten und Bundesjustizminister in Adenauers erstem Kabinett. Sie haben seither oft sehr Kritisches über diese Zeit, die letzten vierzehn Jahre, gesagt. In den ersten Jahren der Adenauerschen Regierung aber sind aus Ihrem Munde viele bewundernde Zeugnisse für Adenauer abgelegt worden. Ich würde gerne wissen: Als Sie Bundesjustizminister in Adenauers Kabinett von 1949 bis 1953 waren, was hat Sie veranlaßt, diesen Kanzler so sehr zu bewundern, wie Sie es damals taten, so daß man manchmal fast meinte, Sie hätten das Verhältnis eines dankbaren respektvollen Sohnes und Zöglings zu ihm?

Dehler: Ich glaube, es war auch etwas Ähnliches. Ich bin Adenauer näher begegnet im Parlamentarischen Rat. Es war damals doch schon eine politische Vorentscheidung. Es hing von uns, von den Freien Demokraten ab, wer Präsident des Parlamentarischen Rates wird, ob Konrad Adenauer, ob der geistvolle Carlo Schmid. Wir hatten uns für Adenauer entschieden. Das war schon ein Ausfluß seiner Persönlichkeit. Nicht zu leugnen, wo er erschien, wuchs ihm ohne weiteres eine Führung zu. Er hat es gelernt. Er, der durch Jahrzehnte als Oberbürgermeister schwierige Situationen beherrschen mußte, widerspenstige Parteimitglieder und Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung auf seine Linie bringen mußte, ist ein hervorragender Führer. Das Wort ist vielleicht ein bißchen anrüchig – er ist ein Mann, der es versteht, die Leitung der Dinge an sieh zu nehmen, an sich zu ziehen.

Gaus: Sind Sie ein Mann, Herr Dr. Dehler, der von einem solchen Manne leicht angezogen wird? Neigen Sie dazu, jemandem zu dienen, ihm ein Gefolgsmann zu sein?

Dehler: Ich diene eigentlich nicht gerne Menschen, Persönlichkeiten, sondern ich bin ein Mann, der loyal einem Kreis dient. Wenn ich ein Amt bekam – eigentlich nie so, wie Adenauer ein Amt gesucht und übernommen hat –, habe ich mich immer als Treuhänder einer Gemeinschaft gefühlt, ob als Parteivorsitzender in Bayern oder im Bunde, ob als Fraktionsvorsitzender. Ich habe nie in dieser Art zu führen versucht. Ich habe da eine andere Grundart. Aber um noch ein Wort darüber zu sagen, wie dieses respektvolle Verhältnis zu Adenauer, das zweifellos lange Jahre bestand, zustande kam. Auch die Art, wie er, doch zunächst mit einer Stimme Mehrheit gewählt, die politische Führung in dem chaotischen Raum, der damals die Bundesrepublik war, aufnahm, war eindrucksvoll. Das hat nicht nur mich beeindruckt. Ich denke daran, wie mein Parteifreund, der sehr ritterliche und sehr geprägte Eberhard Wildermut, eines Tages in einer Kabinettssitzung sagte: »Der Alte ist doch ein Kerl.« So wie er die Dinge in dem Problem darstellte, wie er einfach, klar, sicher Lösungen suchte, das war eindrucksvoll. Ich habe diese historische Vorstellung eines Teils des Kabinetts bei den Hohen Kommissaren oben auf dem Petersberg miterlebt. Wir waren ja ein bißchen hinaufzitiert, um Weisungen entgegenzunehmen, Besatzungsstatut in Empfang zu nehmen.

Gaus: Das war 1949?

Dehler: Das war im September/Oktober 1949. Francois-Poncet hatte sich das so vorgestellt, daß wir so ein bißchen als Angeklagte vor dem Teppich stehenbleiben zur Rechten Adenauers. Aber Adenauer hat es so eingerichtet, daß er nicht nur als Gleicher gegenüber Gleichen dastand, sondern als der Vertreter dieser nun stark gewordenen Bundesrepublik den Hohen Kommissaren gegenüber. Er verließ als – nun, man muß schon sagen, als Sieger diese Szene.

Gaus: Haben Sie also seine Souveränität bewundert?

Dehler: Sehr. Seine Kühle, seine Unbekümmertheit und seine Klarheit, mit der er dieser Bundesrepublik Wirksamkeit zu verschaffen suchte und verstand.

Gaus: Herr Dr. Dehler, Sie haben einmal im Bundestag gesagt, wenn in diesem Hohen Hause, eben dem westdeutschen Parlament, jemand das Recht habe, sich einen Politiker zu nennen, dann gäbe es wohl nur einen, nämlich Konrad Adenauer. Was wahrhaftig eine große Bewunderung verrät.

Dehler: Ich glaube, es ist ein bißchen anders.

Gaus: Wie definieren Sie denn den Politiker, wenn Sie es so verstehen, wie Sie es in diesem Zitat für Adenauer verstanden haben?

Dehler: Wir wollen Zitate in ihrer Bedeutung natürlich nicht überschätzen. Das war, ich glaube, es war noch 1954, als ich das sagte.

Gaus: Ja, Sie waren bereits aus dem Kabinett raus.

Dehler: Ich hatte es in keiner Weise als einen Grund zur Änderung meiner Haltung empfunden, daß ich damals, 1954, nicht mehr Kabinettsmitglied war. Fast möchte ich sagen, im Gegenteil, denn ich habe diese Aufgabe des Vorsitzenden der Fraktion und der Partei als höher und als bedeutsamer empfunden. Aber ich stand immer noch unter dem Eindruck der Persönlichkeit, wobei ich ein klein bißchen gutgläubig war – ich bin kein ungläubiger Thomas, ich bin an sich ein gläubiger Mann, der gerne Menschen vertraut –, unter dem Eindruck stand ich, daß die Ziele, die wir gemeinsam festgelegt hatten, auch galten, daß auch das Wort galt. Ein Glaube, der später erschüttert worden ist.

Gaus: Herr Dr. Dehler, liegt es an dieser Erschütterung, daß aus dem Bewunderer Adenauers so bald, nachdem Sie nicht wieder ins Kabinett eingerückt waren, einer der schärfsten Kritiker Adenauers wurde? Worüber geriet denn die von Ihnen dann 1954 angeführte Freie Demokratische Partei in Meinungsverschiedenheiten mit der CDU und speziell mit deren Vorsitzendem Adenauer?

Dehler: So bald war das ja nicht, wie ich eben sagte. Ich habe zunächst durchaus auch als Parteivorsitzender und als Fraktionsvorsitzender der FDP die gemeinsame Linie durchgehalten. Die Erschütterung dann kann man ganz genau datieren.

Gaus: Datieren Sie sie.

Dehler: Das war der Februar 1955. Das war der Streit über das Saarstatut, also über das damals zustande gekommene Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Frankreich, die Saar von Deutschland getrennt zu halten, zu europäisieren, sie in Wirklichkeit dem politischen, dem militärischen, dem wirtschaftlichen und finanziellen Einfluß Frankreichs zu überlassen. Das stand in Widerspruch zu dem, was wir damals im Koalitionsabkommen festgelegt hatten. Es war festgelegt, daß wir niemals zustimmen, daß die deutsche Saar von Deutschland getrennt wird. Das hat mich erschüttert, daß der erste Versuch scheiterte, Deutsche wieder mit Deutschen zu vereinigen. Das war die große Erschütterung, daß das, was uns zusammengeführt hatte, das, was wir im Grundgesetz festgelegt hatten, daß die Bundesrepublik ja nur etwas Vorübergehendes sein soll – eine Zwischenstufe zur deutschen Einheit sein soll –, von mir und meinen Freunden ganz anders verstanden wurde als von Konrad Adenauer. Dazu kamen menschliche Erschütterungen. Ich darf hier einen Augenblick noch dabei verbleiben. Die Art, wie mein Freund Max Becker damals von Adenauer im Bundestag angegriffen wurde; diese verletzenden Angriffe gegen einen Mann, den ich hoch schätze, einen Mann, der wirklich sein Vaterland liebte, auch ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Frankreich, zur französischen Kultur hatte und unseren Standpunkt vertrat; diese Vorwürfe gegen ihn, sie haben der deutschen Sache schwer geschadet. Noch schlimmere Dinge, auch in der Form verletzend, haben mich tief gekränkt. Und es gab ja dann meine harte Reaktion, meinen Versuch, mich für Max Becker einzusetzen, mich schützend vor ihn zu stellen und für die deutsche Sache zu zeugen.

Gaus: Herr Dr. Dehler, die Meinung in Westdeutschland ist allgemein, daß Ihre Vorwürfe gegen Adenauer zu den bittersten und absolut schärfsten gehören. Nach dem, was Sie eben gesagt haben, verstärkt sich bei mir der Eindruck, daß in der Tat ein Teil dieser Kritik an Adenauer zurückgeführt werden muß auf das Gefühl einer enttäuschten Liebe und Verehrung. Würden Sie das bestreiten wollen?

Dehler: Er hat mich tief verletzt. Tief verletzt, weil der Glaube an ihn, der Glaube an seine Politik, der Glaube auch, daß das gesprochene Wort gilt und bindet, in schlimmer Weise erschüttert worden ist. Da war viel, viel Kränkung auch dabei; viel auch, wie Sie sagen, verletzte Liebe.

Gaus: Woraus erklären Sie sieh Adenauers Verhalten, das Sie so scharf kritisieren?

Dehler: Ich habe erkannt, daß sein Leitbild ein ganz anderes ist.

Gaus: Was ist sein Leitbild?

Dehler: Ihm ist diese – ich will wirklich nicht anklagen, es ist nicht die Zeit dazu, und die Ära Adenauers geht zu Ende –, ihm war diese Bundesrepublik eine Form, die er hinnahm, dieser Teil Deutschlands – am Ende doch katholisch bestimmt –, diese Bundesrepublik, eng verbunden mit einem katholischen Teil Europas, mit Frankreich, mit Italien, mit den Benelux-Staaten, das war sein Bild. Ich hab's ihm mal selbst gesagt, als 1956 die Frage der Rückkehr der FDP in die Koalition mit ihm besprochen wurde. Ich habe es so gesagt: »Ich verstehe, Herr Bundeskanzler, daß Sie sich dieses Lebensziel gesetzt haben, daß für Sie dieser Erfolg, eine gesicherte Bundesrepublik, immerhin über 50 Millionen Menschen, die im Wohlstand leben und gebunden sind an einen Teil Europas, daß das Ihr Ziel sein kann. Sie müssen verstehen, daß es nicht mein Ziel sein kann. Ich denke an das größere Deutschland.«

Gaus: Wie war Adenauers Reaktion?

Dehler: Er hat es hingenommen, er hat nicht widersprochen.

Gaus: So wie Sie diese Dinge sehen, Herr Dr. Dehler, wissen Sie sieh frei von dem Selbstvorwurf, jene Züge in Adenauers Politik, die Sie später so verdammenswert gefunden haben, nicht früh genug, nämlich als Sie noch in seinem Kabinett als Minister saßen, erkannt zu haben?

Dehler: Die Frage ist nicht unbegründet. Ich möchte sogar noch ein bißchen weiter zurückgehen. Ich mache mir Vorwürfe, daß wir vor fünfzehn Jahren uns zu leicht, zu widerstandslos dem Verlangen der Westalliierten gebeugt haben, die Bundesrepublik zu schaffen, mit eine Teilung Deutschlands zu vertiefen. Wenn ich alles gewußt hätte, was damals in der Welt darüber an Vorstellungen vorhanden war; wenn ich nur ein Wort von Walter Lippmann zitieren darf, dann wird das klar, warum die starken Bedenken bei mir gekommen sind. Walter Lippmann hat 1948, als damals dieses Londoner Protokoll, die Grundlage für den Parlamentarischen Rat und für die Bundesrepublik, geschaffen wurde, gesagt, er hält das für ausgeschlossen, daß die Deutschen sich mit diesem Plan der Westalliierten einverstanden erklären, es sei denn, einige Separatisten am Rhein oder an der Isar. Ein Wort, das mir schmerzhaft in die Brust drang. Ich bin wahrlich nicht schuldlos an der Entwicklung, auch solange ich Kabinettsmitglied war. Nun, ich hatte ja eine große Aufgabe als Justizminister, noch nebenbei Parteivorsitzender in Bayern, ich habe die Aufgabe auch wichtig genommen. Ich bin immer in den politischen Kampf gegangen, um das Meine zu tun. Der Vorwurf, daß wir die Situation 1952/1953 nicht klar genug erkannt haben, daß das Kabinett eigentlich ohne eigene Aktivität der Haltung Adenauers zugestimmt hat, ist dennoch kaum zurückzuweisen.

Gaus: Machen Sie sich schwere Selbstvorwürfe, oder haben Sie das Bestreben, sich Selbstvorwürfe zu ersparen?

Dehler: Nein, ich mache mir Vorwürfe, aber mit dem Willen, aus Fehlern zu lernen und meine Aktivität dadurch nicht beeinträchtigen zu lassen.

Gaus: Herr Dehler, die Liste jener Personen, Institutionen und Gruppen, die Sie in Ihrem politischen Leben sehr, sehr scharf angegriffen haben, ist sehr lang; und neben Adenauer, neben der katholischen Kirche, von der wir schon gesprochen haben, neben dem Bundesverfassungsgericht, das Sie einmal 1952 sehr scharf attackierten, sind die Sozialdemokraten, die Gewerkschaften, die Rentner und fast jeder einmal drangekommen. Sie haben sich damals den Ruf erworben, daß Sie im Kern sehr oft sehr richtige, in der Form all zu oft maßlose Angriffe führten und daß Sie ein Amokredner seien, der, wenn er auf ein Rednerpult gestiegen ist, nicht mehr weiß, was er sagt; und es wird behauptet, daß Ihre Tochter – Ihr einziges Kind – Sie einmal in einer Versammlung gesehen und gesagt habe, das ist nicht mein Vati, den Mann kenne ich nicht. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen?

Dehler: Ich habe niemals Institutionen angegriffen, sondern habe immer für meine grundsätzliche Haltung und gegen politische Richtungen und Haltungen, die ich für falsch hielt, gekämpft. Der Vorwurf Amokläufer ist mir einmal von links und einmal von rechts gemacht worden, aber das nahm ich nicht ernst. Zuerst hat ihn Arndt gebraucht, mit dem ich nach meiner Meinung jetzt in beinahe freundschaftlichem Verhältnis stehe. Wenn er heute zurückdenkt, wird er bedauern, daß er es getan hat. Er versichert mir auf jeden Fall, daß er mir nähersteht, als ich meine. Nehmen wir die Gewerkschaften. Noch heute, wenn ich mit irgendwelchen Gewerkschaftlern zusammenkomme, werfen sie mir vor, ich sei ein Gegner der Gewerkschaften, und ich hätte behauptet, sie seien zuchthausreif. Der Anlaß war konkret folgender: 1952 wurde im Bundestag das Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte in der Montanindustrie behandelt, und die Gewerkschaften hatten gedroht, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt werden, würden sie in den Generalstreik eintreten. Also die Gewerkschaften wollten das Parlament unter den Druck eines Generalstreiks stellen, um ihre Forderungen durchzusetzen. Da habe ich als Bundesjustizminister, nach meiner Meinung dazu legitimiert, erklärt, das ist ein schwerer strafbarer Tatbestand. Wer das Parlament zu nötigen versucht, wird mit Zuchthausstrafe bedroht. Aber geblieben ist der Vorwurf, ich sei Gewerkschaftsfeind. In Wirklichkeit sind die Gewerkschaften ja nicht aus sozialistischem Geiste, sondern aus liberalem Geiste erwachsen.
Dann bin ich mit dem Bundesverfassungsgericht in eine harte Auseinandersetzung gekommen, wobei ich nicht die Öffentlichkeit gesucht habe. Das Bundesverfassungsgericht hatte in der Krisis über die Verfassungsmäßigkeit der Verträge mit den Westmächten, als der Bundespräsident ein Gutachten erbat; einen Beschluß gefaßt, wonach ein Gutachten die Rechtsprechung der Senate binde: ein tiefer Eingriff in die Struktur des Gerichtes. Nach meiner Meinung gab es niemand anders als den Bundesjustizminister, der hier sagen konnte, es geht nicht, hier wird der Weg des Rechtes verlassen. Es war ein schwerer Konflikt. Aber habe ich da unrecht gehabt? Dann schockierte ich oft, wenn ich auf den Mißbrauch der Renten hinwies, aus ganz konkreten Anlässen. Heute teilen alle meine Überzeugung, daß die Entwicklung, die Rentenentwicklung, höchste Gefahren für unsere wirtschaftliche Stabilität bedeutet. Also ich habe hie und da den Mut gehabt, bestimmte Fragen anzuführen, die angerührt, die besprochen werden mußten, Tabus zu durchbrechen.

Gaus: Herr Dr. Dehler, Sie verteidigen sich gegen einen Vorwurf, der nicht erhoben wurde. Ich wollte nicht mit Ihnen darüber reden, welche Ihrer Vorwürfe korrekt gewesen sind, sondern ich würde gerne wissen, ob Sie, der Sie oft ohne Manuskript sprechen, gelegentlich wenigstens den Rausch der freien Rede kennen, der Sie über die Grenzen hinausträgt in der Formulierung, nicht in der Sache. Über die Grenze, die Sie selbst sich gesetzt haben.

Dehler: Merkwürdig, wie manche Dinge dann in die Presse kamen, etwa mein Vorwurf gegen die Gewerkschaften. Das war in einer denkbar friedlichen Rede, es ist mir unvergeßlich, in Uelzen in Niedersachsen. Als ich hinkam, hatte der Vorsitzende mich gebeten, keine politische Rede zu halten, sondern über das Recht im Staate zu sprechen, und ich habe dann als Beispiel der Verletzung des Rechtes das Verhalten der Gewerkschaften erwähnt – akademisch ruhig. Es war ein UP-Vertreter da, der das aufgegriffen hat, und das erschien dann als ein Beispiel von Amoklauf. Ich bin ganz gerne temperamentvoll. Es wäre schlimm, wenn man das nicht wäre, aber daß ich im Rausch der Rede irgendwie das Maß verloren hätte! Bitte, es trete einer auf und erhärte diesen Vorwurf.

Gaus: Also nein, kein rhetorischer Rausch?

Dehler: Fast im Gegenteil. Ich habe immer das Empfinden, meine Reden sind akademisch, sind oft ein bißchen anspruchsvoll auch für die Zuhörer. Die Zuhörer erwarten einen Lautsprecher, und da kommt einer mit ganz leisen Tönen und mit grundsätzlichen Erwägungen.

Gaus: Sie haben nicht das Gefühl, daß von dem Auditorium, das vor Ihnen sitzt, ein Gefühlsüberschwang auf Sie, auf das Podium hinaufspült, der Sie mitreißt. Reißen Sie die Leute mit, wenn Sie reden, oder werden Sie von der Stimmung im Saal mitgerissen?

Dehler: Weder noch. Natürlich rühre ich manchmal Menschen an. Es gibt Reden – in Berlin in diesen kritischen Zeiten, da waren die Menschen oft angetan; die Frauen kamen zu mir, und ich dachte, wir müssen sie wenigstens anrühren. Das sind aber Wirkungen, die ich nicht erstrebt habe. Aber daß ich die durch ein Übermaß an Leidenschaftlichkeit erzielt hätte ...

Gaus: Halten Sie sich für einen leidenschaftlichen Redner?

Dehler: Meine leidenschaftlichsten Reden waren sicher die im Bundestag. Aber auch nicht so sehr von mir aus, sondern als Reaktionen: diese Reden in die CDU/CSU hinein, die voller Widerstand war, voller Gegensätzlichkeit oft.

Gaus: Wissen Sie schon, Herr Dr. Dehler, wenn Sie aufs Podium hinaufgehen, was Sie alles sagen werden?

Dehler: Ja, natürlich. Ich weiß doch das Thema, ich nehme mir einen ganz bestimmten Ablauf der Rede vor, ich disponiere, das ist doch selbstverständlich.

Gaus: Herr Dr. Dehler, wenn nach Ihren gelegentlich scharfen Angriffen Sie selbst angegriffen wurden, wie haben Sie dann nach Ihrer eigenen Vorstellung reagiert? Sind Sie empfindlich?

Dehler: Ich bin empfindsam. Ich verletze ja auch andere ungern. Wenn ich das Empfinden hatte, jemand Unrecht getan zu haben, so ist mir das nahegegangen. Ich glaube, ich habe immer versucht, das auszugleichen. Wenn wirklich mal im Kampfe Härten kamen – zum Beispiel in meiner Auseinandersetzung mit Dr. Arndt gab es Härten, die ich bedaure, wenn ich zurückblicke, aber ich habe das auch ausgeglichen, sehr bewußt. Es gab Prozesse und es gab Auseinandersetzungen, aber ich bin empfindlich eigentlich nicht so sehr meinetwegen, sondern der Sache wegen, die ich vertrete. Weil ich das Gefühl habe, wenn ich einen ungerechtfertigten Vorwurf auf mir sitzenlasse, so schade ich meiner Sache. Das darf ich nicht hinnehmen.

Gaus: Herr Dr. Dehler, haben Sie sich von Ihrer eigenen Partei manchmal im Stich gelassen und verraten gefühlt? Von Ihren eigenen Freunden?

Dehler: Man spricht nicht gern davon. Natürlich, ich habe es oft meinen Freunden schwer gemacht, ich bin vorgestoßen. Taktik ist nicht meine Sache. Ich habe eigentlich selten versucht, taktisch zu handeln. Ich habe immer das Gefühl gehabt – das ist auch eine Erfahrung der Weimarer Zeit –, daß es viel mehr darauf ankommt, daß bestimmte Menschen das, was sie für richtig halten, hart und unerbittlich sagen.

Gaus: Herr Dr. Dehler, heute angeschaut, vierzehn Jahre zurückgeblickt, haben Sie erreicht, was Sie erreichen wollten, oder fühlen Sie sieh manchmal gescheitert?

Dehler: Ich habe manches erreicht. Meine tiefe Überzeugung: Was ich als Vorsitzender meiner Partei und als Fraktionsvorsitzender meiner Partei 1955 in der Saar erreicht habe, ist ein Stück deutscher Geschichte. Ich will mich nicht rühmen. Meine tiefe Überzeugung: Ohne mich wäre die Entwicklung nicht so gegangen, wäre die Abstimmung anders verlaufen.

Gaus: Und das Gefühl, da und dort gescheitert zu sein?

Dehler: Ein Politiker, der zurückblickt, kann diese Frage beantworten. Ich bin noch unglaublich jung, ich habe doch noch alles vor mir.

Gaus: Das bringt mich zu einer letzten Frage. Herr Dr. Dehler, erwarten Sie sich unter dem neuen Bundeskanzler Erhard größere Möglichkeiten für sich und Ihre politischen Überzeugungen, als Sie sie unter dem Bundeskanzler Adenauer gehabt haben?

Dehler: Ich bin zuversichtlich. Ludwig Erhard hat den großen Vorzug, ein Franke zu sein wie ich, und das ist schon wirklich ein Positivum: Man ist dann vom Grunde her ein liberaler Mann. In den wesentlichen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Überzeugungen sind wir eines Sinnes, und ich sehe durchaus die Möglichkeit der Zusammenarbeit. Ich glaube auch, daß er in der Methode anders ist als der alte Kanzler. Ich will keine Vorwürfe erheben. Er wird weniger taktieren, ihm wird es vielmehr auf grundsätzliche Entscheidungen ankommen.
Ich nehme auch an, daß er in den außenpolitischen Dingen – ich habe Anlaß zu dieser Annahme, auf Grund eines Gespräches, das ich nach meiner Sowjetreise mit ihm hatte –, daß er hier versuchen wird, aus der Erstarrung der letzten Jahre herauszukommen, daß er keine Möglichkeit, hier zu lockern, auslassen wird. Ich erwarte von ihm und von unserer Zusammenarbeit mit ihm Gutes für unser Volk.