Sendung vom 13.06.1996 - Hildebrandt, Dieter

Günter Gaus im Gespräch mit Dieter Hildebrandt

Aus Notwehr bin ich Optimist

Dieter Hildebrandt, Jahrgang 1927, ein in ganz Deutschland bekannter Kabarettist. Denn auch in der DDR hat man ihn gesehen, weil er unzählige Male im Fernsehen aufgetreten ist mit der Münchener Lach- und Schieß-Gesellschaft, mit dem „Scheibenwischer“.

Gaus: Die berühmten Soloauftritte Dieter Hildebrandts in der Münchener Lach- und Schieß-Gesellschaft, die ‚Notizen aus der Provinz’, ‚Scheibenwischer’ – sie wurden im Fernsehen übertragen. Bei Ihren Stakkato-Texten, Herr Hildebrandt, wie viel ist daran ausformuliert? Sozusagen als Rahmen, als Netz unterm Seil, auf dem Sie Akrobat sind, und wie viel ist der Improvisation überlassen?

Hildebrandt: Das können Sie in Prozentzahlen nicht ausdrücken. Das hängt immer ab vom Publikum, es hängt ab von Gesichtern in der ersten, zweiten, dritten bis fünften Reihe, das hängt ab von den Anlässen. Wenn um 16 Uhr irgendetwas passierte, ist um 20 Uhr das Solo anders. Muss es sein, das empfinde ich als Pflicht. Ich habe einen Horror vor Momenten, wo das Publikum uninteressiert ist, es mich nicht mag, niemand einen Zwischenruf macht, so dass ich nicht antworten kann, wo nichts passiert ist – absolutes Sommerloch, Saure-Gurken-Zeit. In der Zeit habe ich ein festes Solo und versuche das an den Mann zu bringen. Sehr selten, dass so etwas passiert. Zu zwanzig Prozent ist was dazugekommen.

Gaus: Tut es Ihnen leid, wenn Sie das Ausformulierte dann nicht verwendet haben?

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Verwenden Sie es beim nächsten Mal?

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Sie sind ein sparsamer Mensch mit Geistesblitzen?

Hildebrandt: Ich versuche schon auszukommen mit dem, was mir einfällt. So viel ist es ja auch nicht.

Gaus: Schreiben Sie schwer?

Hildebrandt: Ich fange schwer an. Wenn ich angefangen habe, schreibe ich leicht.

Gaus: Woran merken Sie, wie schnell das Publikum ist? Ist es geneigt, ist es nicht geneigt, ist es müde, will es mitgehen? Wie lange braucht es, bis Sie das merken?

Hildebrandt: Ab dem zehnten Satz. Das ist ein Gefühl. Es gibt zwei, drei Testpointen. Danach bemisst sich der ganze Abend. Ich muss dazu sagen, zu 60 Prozent täusche ich mich.

Gaus: Ach ja? Was passiert dann?

Hildebrandt: Dann kommt es anders. Ich mag Überraschungen. Nach dem Motto eines Menschen, der mal in der ersten Reihe gesessen hat, und das war im Emden...

Gaus: Ist das jetzt eine wahre Geschichte?

Hildebrandt: Das ist eine wahre Geschichte ...der unten gesessen hat, aber nicht bei uns, sondern bei den Amnestierten, das ist Ihnen sicher ein Begriff. Der hat unten gesessen, hat zwei Stunden keinen Mucks gegeben. Ich habe gedacht, dass ist furchtbar, ich kann den nicht anschauen, das ganze Programm ist kaputt. Nachher kam der in die Garderobe und sagte: Ich fand das großartig, ich konnte mir nur mit Mühe das Lachen verkneifen. So etwas habe ich sehr gern, wenn es passiert.

Gaus: Das ist eine unglaubwürdige Geschichte, die Sie eben erzählt haben.
Sie sagen aber, sie stimmt.

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Oder ist es so, wenn einer sein Leben lang Kabarettist gewesen ist wie Sie, der sucht auch bei einem Interview wie diesem nach der Möglichkeit, möglichst schnell eine Pointe zu machen?

Hildebrandt: Das hasse ich eigentlich. Wenn es bei mir festgestellt werden sollte, würde ich sagen: Das habe ich nicht geahnt. Schade. Ich dachte immer, ich bin ein Mensch, der auch ernsthaft antworten kann. Ich glaube, ich kann das. Ich hasse Kollegen, die mich begrüßen und schon einen Witz machen wollen, wenn sie mich noch gar nicht richtig erkannt haben.

Gaus: Wovor haben Sie mehr Angst: im ausformulierten Text hängenzubleiben oder es in der Improvisation zu keinem Lacher zu bringen?

Hildebrandt: Vor dem zweiten Fall. Das ist das sportliche Moment. Wenn ich mich in dieses Risiko begebe, mir etwas wirklich einfallen zu lassen, einfallen lassen zu müssen, und ich habe mich dafür entschieden – weil zurückentscheiden kann man sich nicht –, und in dem Moment, wo ich versage, habe ich lange ganz schwere Bedenken gegen mich.

Gaus: Sie sagen, wenn ich Sie richtig verstanden habe: Ich kann dann eigentlich nicht in meinen vorher ausformulierten Text zurück.

Hildebrandt: Das merkt man.

Gaus: Sie müssen dann in der Improvisation bleiben?

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Während dieses Auftritts?

Hildebrandt: Ja. Wenn Sie sagen: Ich habe 1956 Konrad Adenauer gelesen, als er behauptete, er hätte seine eigene Kanonenkugel, die auf ihn gerichtet war, gesehen – dann ist das ein wirklich formulierter Satz. Wenn ich aber sage: Ich habe heute Nachmittag Konrad Adenauer im Fernsehen gehört – ist das der falsche Ansatz, ich kann das nicht zusammenbringen. Das geht nicht.

Gaus: Es gibt pessimistische Äußerungen Dieter Hildebrandts über die Gegenwart und das gegenwärtige Publikum. Ich zitiere Sie: „Unsere Arbeit ist leichter geworden, denn es achtet ja kaum noch einer darauf. Wir haben heute nur noch einen Bruchteil des Publikums, das wir früher einmal hatten.“ Ist das Bitterkeit?

Hildebrandt: Nein, das ist einfach eine leichtfertige Aussage, die ich hiermit zurücknehmen möchte. Da hat mich jemand gefragt, der mich geärgert hat – ganz offensichtlich. Es ärgern mich in der letzten Zeit ein paar Menschen, die behaupten, das Kabarett – das es in dieser Weise überhaupt nie gegeben hat, es gab nur Kabarettisten. Das Kabarett ist nicht wie die Allgemeine Ortskrankenkasse – werde weggefegt werden von der Comedy. Das ist natürlich Unsinn. In dem Moment, wo mir das jemand vorhält, gebe ich solche blödsinnigen Antworten.

Gaus: Also keine wachsende Distanz zum Publikum mit wachsendem Alter des Kabarettisten Hildebrandt?

Hildebrandt: Man schleppt ja etwas mit. Ich schleppte zum Beispiel mein Publikum mit, das mit mir alt geworden ist.

Gaus: Aber es wächst ja was nach.

Hildebrandt: Es wächst was nach. Diese versuche ich zu bekommen. Und ich würde sie nie gehen lassen, ich würde sie nie freiwillig gehen lassen. Ich glaube immer: Ich habe ihnen noch etwas mitzuteilen. Und wenn es nur das ist, wovon ich weiß, das genügt vielleicht nicht, das ist vielleicht nicht komisch genug für die jungen Leute, dann versuche ich es komischer zu machen. Ich glaube, ein Teil der jüngeren Leute ist den älteren gefolgt auch bei uns in den Vorstellungen. Das Fernsehen ist nicht mein Metier. Es war immer die Bühne. An dem Inhalt der Säle kann ich ermessen, ob junge Leute kommen oder nicht.

Gaus: Und es passiert nicht mal, dass der älter gewordene Dieter Hildebrandt – nächstes Jahr werden Sie 70 – sich mit dem mit ihm alt gewordenen Publikum verbündet gegen die Jungen, weil die älter gewordenen Herrschaften – Hildebrandt und sein älter gewordenes Publikum – manches einfach besser verstehen als die Jungen? Ist die Versuchung nicht groß?

Hildebrandt: Wenn ich nicht aufpasse, passiert das. Wenn ich matt bin, passiert es. Dieses stille Bündnis des Wissens, der Kenntnisvorgabe – eine Pointe kann nur mit einem Wissenszusammenhang funktionieren. In der letzten Zeit, ungefähr seit fünf, sechs Jahren, achte ich darauf und nehme die Jungen in Schutz vor den Alten. Da ist auch eine Pointe drin. Die Alten können es nicht wissen, aber wir wissen das hier.

Gaus: Das heißt, Sie versuchen sich mit den Jungen gegen die Alten zu verbünden?

Hildebrandt: Richtig, und ich versuche, die Jungen darauf aufmerksam zu machen: Sie sollten mal die Alten fragen, dann könnten wir besser miteinander reden.

Gaus: Haben Sie Schwierigkeiten mit dem Altwerden?

Hildebrandt: Ich glaube ja. Diese alte Geschichte: Ich sehe mich im Spiegel, es ist furchtbar, aber ich rasier’ mich doch ... Die wollen wir mal weglassen. Man fängt an, Namen zu vergessen, man fängt an, nicht mehr so frisch zu sein. Man fängt an, bedenklich zu werden, man fängt an, gemütlich zu werden. Alles das versuche ich zu bekämpfen.

Gaus: Sie nehmen sich solches übel?

Hildebrandt: Ich nehme es mir übel. Aber nicht so schlimm, denn ich gebe auch zu: Es ist ja soweit. Ich bin ja bald 70. Ich muss ja nachgeben.

Gaus: Aber es fällt Ihnen schwer.

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Werden Sie einsam?

Hildebrandt: Ich habe eine wunderbare Frau. Diese Frau ist sehr jung, sie ist neun Jahre jünger als ich. Sie lässt es nicht zu, lässt Einsamkeiten nicht zu.

Gaus: Weil sie Angst hat, dass Ihnen, Dieter Hildebrandt, die Einsamkeit nicht bekommen wird?

Hildebrandt: So ist es. Sie treibt mich auch mal wieder unter die Menschen.

Gaus: Sind Sie menschenscheu?

Hildebrandt: Im Prinzip bin ich menschenscheu. Immer schon gewesen. Ich bin schüchtern mit einem Hang zur Selbstverteidigung, nach vorne zu gehen, um mich meiner Schüchternheit zu entledigen. Ich setze mich grundsätzlich – und das sagt meine Frau Renate natürlich auch, das beobachtet sie –, wenn ich in ein Lokal komme, mit dem Rücken zu den Menschen. Und sie sagt, das würde zwar so etwas wie Bescheidenheit darstellen, aber sie glaubt das nicht. Sie glaubt, ich ziehe mich zurück. Auf der anderen Seite gehe ich aber auch wieder gern auf Menschen zu und fange an, sie mehr zu mögen als früher.

Gaus: Journalisten, hat Bismarck gesagt, haben ihren Beruf verfehlt, und sind deswegen Journalisten geworden. Herr Hildebrandt, haben Kabarettisten auch ihren Beruf verfehlt?

Hildebrandt: Sie wollten alle was anderes werden, ja.

Gaus: Was wollten Sie werden?

Hildebrandt: Ich wollte mal als Handelsschiffskapitän über die Weltmeere fahren. Aber das habe ich nicht geschafft, weil es sich herausgestellt hatte, dass ich kurzsichtig bin. Und zwar schwer kurzsichtig. Wissen Sie, dass ich jetzt wieder sehe wie ein Falke?

Gaus: Jetzt, wo Sie die Brille abgesetzt haben?

Hildebrandt: Das ist Fensterglas. Ich habe zwei neue Augen. Mir hat ein Professor, der die Methode erfunden hat, die zwei Linsen zertrümmert, weil ich grauen Star hatte, und sie mir ausgewechselt. Deswegen habe ich jetzt manchmal so einen Hans-Albers-Blick. Wenn das Licht drauffällt, glitzern sie so.

Gaus: Aber Sie wollen jetzt nicht mehr Kapitän werden?

Hildebrandt: Es ist zu spät.

Gaus: Mit dem Kabarett hat es angefangen in der ersten Hälfte der 50er Jahre, als Sie in München in einem Studentenkabarett mitwirkten. Dann sind Sie Ende 1956 als Ensemblemitglied und als Texter bei der Münchener Lach- und Schießgesellschaft professioneller Kabarettist geworden. Haben Sie es je bereut?

Hildebrandt: Nein.

Gaus: Nun wollten Sie ja nicht nur Schiff-Fahrtskapitän werden, sondern auch Schauspieler. Oder ist das falsch?

Hildebrandt: Ich wollte ab 1943 Schauspieler werden, bis 1942 Kapitän. Ab ’43 wurde ich geholt von einem Freund in der Spielschar der Hitlerjugend.

Gaus: Das war in Bunzlau in Schlesien, wo Sie zuhause waren.

Hildebrandt: Und da fing ich an, Spaß zu finden an der Schauspielerei. Wir spielten dort Laienspiele und dergleichen. Von dem Moment an hatte ich das stille Bedürfnis, irgendwann mal Schauspieler zu werden. Später, nach ’45, habe ich versucht, das an der Münchener Universität wahr zu machen, indem ich falsch gelegen hatte und dachte, wenn ich Theaterwissenschaft studiere, komme ich dem Theater näher.

Gaus: Das ist eine Vorstellung, mit der Sie nicht alleine sind.
Das hat es mehrmals gegeben, glaube ich.

Hildebrandt: Ja?

Gaus: Zur Person Dieter Hildebrandt. Geboren am 23. Mai 1927 in Bunzlau in Schlesien. Gutbürgerliches national gesinntes Elternhaus. Der Vater hatte den Titel eines Landwirtschaftsrats. Er war Lehrer an einer Landwirtschaftsschule, bewirtschaftete zeitweilig auch selber einen Hof. Auf dem sind Sie großgeworden. Dieter Hildebrandt wurde Flakhelfer, gegen Kriegsende noch Soldat, war auch im Arbeitsdienst, kam kurz in britische Gefangenschaft, traf die Eltern wieder als Vertriebene in der Oberpfalz. Von 1950 bis 1955 Studium der Literatur und der Theaterwissenschaft ohne Abschluss an der Münchener Universität. 1956 zum ersten Mal geheiratet. Es war – nach allem, was man hören und lesen kann, Herr Hildebrandt –, eine gute und glückliche Ehe. Fast dreißig Jahre lang, bis Ihre Frau 1985 starb. Zwei Töchter. Seit 1992 mit der Kabarettistin Renate Küster verheiratet. Dieter Hildebrandt, Jahrgang 1927, Sie verkörpern, denke ich, eine bestimmte Spezies der alten Bundesrepublik – so links und liberal, links-liberal, manche sagen dann auch scheiß-liberal, das war aber später. Diese eigentliche Nachkriegsgeneration, in der Sie eine prominente Spezies verkörpert haben oder Spezies prominent verkörpert haben, die tritt jetzt allmählich ab, so wie die alte Bundesrepublik seit der Aufhebung der staatlichen Teilung allmählich entschwindet. Also, Mr. Bundesrepublik gefragt: Erinnern Sie sich an Ihr Lebensgefühl nach dem Krieg oder 1955/56, als das Kabarett anfing? Was hatten sie für ein Lebensgefühl?

Hildebrandt: Der Vorlauf war schon gegeben. Das, was Erich Kästner so schön beschrieben hat: Wir waren alle hungrig, aber wir hatten alle gute Laune. Das war bei uns so. Wir wussten, wie das mit dem Hungern ist, nahmen es aber gar nicht so wahr. Weil: Wir hatten das Gefühl, was Architekten auch haben, wenn sie eine völlig zerstörte Stadt sehen: Wir können etwas Neues bauen. Das hatten wir auch. Wir haben gesagt: Wir haben das alles erlebt, wir waren in der Hitlerjugend, wir haben den Krieg miterlebt, hatten den Stahlhelm auf, auf uns hat man noch geschossen – jetzt ist alles anders. Jetzt passiert etwas ganz Anderes. Ich habe mich sehr früh auf die Sozialdemokraten festgelegt. Ich fing an zu lesen, alles, was ich zuvor nicht lesen konnte. Und aus dem vielen, vielen Lesen ergab sich so etwas wie eine Meinung über die Zukunft der Bundesrepublik. Ich sah vor mir einen wirklich demokratischen Staat. Bis ich studierte. So gegen 1951/52 merkte ich, dass es sich um eine Rückwärtsrolle handelte. Ich sah zum Beispiel Studentenverbindungen, von denen ich gelesen, dass sie die ersten waren, die in die NS-Studentenbünde eingetreten waren. Sie wurden die ersten Nazis. Es waren die ersten Juristen, die Nazis wurden, es waren die Akademiker, die Nazis wurden.

Gaus: War das der Grund, warum Sie die Universität ohne Abschluss verlassen haben, warum Sie wegwollten?

Hildebrandt: Die Universität war unpolitisch, sie war absichtlich unpolitisch. Die ganze philosophische Fakultät war zum Scheißen unpolitisch, muss ich sagen. Sie war auch apolitisch. Sie hat uns die Politik noch austreiben wollen. Ich bekam eine gewisse Wut, und ich wusste nicht, wie ich sie unterbringen sollte. Ich habe das Studentenkabarett mit drei anderen Studenten aus dieser Fakultät gegründet, und wir haben das dann gemacht. Es war unser Ausweg.

Gaus: Waren das die „Namenlosen“?

Hildebrandt: Die Namenlosen.

Gaus: Waren Sie und Ihresgleichen seinerzeit naiv, haben Sie gedacht, Sie können etwas bewirken und bewegen, zum Beispiel mit Kabarett, und hat sich jetzt gegen Ende des Lebens zu herausgestellt, dass es eine Illusion war?

Hildebrandt: Wir waren gar nicht so naiv, weil wir die Möglichkeiten gesehen haben. Wir hatte diese Adenauer-Regierung vor Augen. Und dieser ungeheuerliche Affront, Herrn Globke ausgerechnet als linke und rechte Hand einzusetzen, erschien uns begradigenswert. Es erschien uns wichtig, diesen Adenauer von seinem Platz wegzuwählen und die Leute zu überzeugen, dass sie das müssten, weil das eine Entwicklung ist, die gar nicht sein kann. Es kann nicht sein, dass diese Adenauer-Regierung diesen Neuaufbau beendet. Es kann nicht sein, dass das schon vorbei ist.

Gaus: Später – und Sie haben sich darüber in einem Ihrer Bücher beklagt – haben die 68er Studenten, die es dann alles anders wissen und haben wollten, als wir alten Leute und sehr viel mehr noch als die wirklich älteren Leute, nämlich ihre Väter und Mütter, Ihnen und Ihresgleichen, Ihnen, Herr Hildebrandt und Ihrem Kabarett, der Lach- und Schieß-Gesellschaft, vorgeworfen, dass Sie systemimmanentes, etabliertes Kabarett seien. Ihnen fehle der wirkliche Durchblick, weil ein Theoriedefizit herrsche. Das hat Sie seinerzeit, wie Sie schreiben, sehr getroffen. Hatten Sie nicht ein bisschen Recht, die 68er?

Hildebrandt: Im Nachhinein natürlich schon.

Gaus: Das heißt: Heute sehen Sie, dass sie recht hatten?

Hildebrandt: Ja. Aber sie hatten nicht ganz Recht. Sie wussten nicht, was wir wirklich wussten. Sie wussten nicht um unseren Beginn der Resignation. Sie wussten nicht, was wir schon nicht mehr für gut hielten. Sie hielten nichts von der Möglichkeit, sich über Kunst, über Theater mitzuteilen, weil sie das alles ablehnten und in Bausch und Bogen abtaten. Sie interpretierten die Gewaltfreiheit philosophisch anders als wir, und wir bestanden auf unserer Gewaltfreiheit. Ganz stur bestanden wir darauf. Ich kann mich noch erinnern, als eine junge Gruppe vom SDS kam und einer zu mir sagte: Ich habe hier eine Birne – ich wusste nicht, ob er eine Obstbirne meinte oder eine Elektrobirne –, wenn ich die fallen lasse, was ist dann kaputt? Daraufhin sagte ich: die Birne. Vielleicht war ich da naiv. Er antwortete: Nein, nur die Form einer Birne. Da wusste ich, dass sie falsch liegen. Ich wusste, dass sie die Gewaltfreiheit philosophisch anders interpretieren und habe mich innerlich von ihnen entfernt.

Gaus: In engerem Zusammenhang gefragt: Hätten Sie Ulrike Meinhoff versteckt, wenn Sie bei Ihnen angeklopft hätte?

Hildebrandt: Sofort. Selbstverständlich, ich hätte alle versteckt, weil ich niemanden denunziere.

Gaus: Ist diese Unlogik, dass Sie das andere Verhältnis zur Gewalt nicht teilten, welches mit Ulrike Meinhoff, mit Andreas Bader in die 68er Bewegung kam, und Sie gleichzeitig Gewalttäter, weil die sich anders nicht mehr zu artikulieren wussten, versteckt hätten, ist diese Unlogik, Herr Hildebrandt, der eigentliche Freiheitsfaktor unseres Lebens unserer Generation? Ist diese Unlogik, die Gewaltvorstellung der Jüngeren nicht zu teilen, aber Ulrike Meinhoff verstecken zu wollen, wenn man kann, ist diese Unlogik unsere Art von Freiheit?

Hildebrandt: Das ist unsere Idee der Demokratie gewesen. Wir wollten es so. Wir wollten die Polizeigewalt nicht. Wir wollten schon die Freiheit, wir wollten aber die Denunziation nicht. Wir wollten, dass zum Beispiel jemand verstanden werden muss, der Zorn hat auf eine Gesellschaft, die sich falsch entwickelt. Wir wollten, dass die Leute das verstehen. Das wollte auch Heinrich Böll.

Gaus: Waren Sie und Ihresgleichen in einer anderen Weise Traumtänzer als Ulrike Meinhoff? War es so, dass die eigentlichen Machthaber, sowohl Dieter Hildebrandt als auch Ulrike Meinhoff, gut abwettern konnten und mit beiden fertiggeworden sind?

Hildebrandt: Das hat mich aber damals schon nicht mehr überrascht.

Gaus: Aber Sie haben immer weitergemacht?

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Wie weit sind Sie rückblickend ein Schmuckstück gewesen, das sich die, die wirklich das Sagen im Lande hatten, leisteten, weil es wie jedes Schmuckstück schmückt, und weil ein Staat, der sich ein solch freches Kabarett leistet, doch ein sehr viel freiheitlicherer ist als der nebenan, der andere deutsche Staat? Wieweit haben Sie eine Alibifunktion im Leben gehabt?

Hildebrandt: Das war sicherlich so, dass man sich uns gehalten hat und sagte: Lass sie machen, viel anrichten können sie sowieso nicht. Und dass wir im Fernsehbild erscheinen durften und dürfen, ist von dieser Denkungsart ausgegangen. Es geht noch heute davon aus. Auf der anderen Seite würde ich dieses Forum nie aufgeben, weil in der Zwischenzeit natürlich auch Irritationen zu erreichen sind, Irritationen zu gewissen politischen Entwicklungen. Man kann auf etwas aufmerksam machen. Ich wäre unbescheiden, wenn ich meinte, ich könnte eine solche Alibifunktion ablehnen, dieses Forum vergeben, einfach weggeben. Das würden mir eine ganze Reihe von Menschen übel nehmen, die darauf hoffen, dass ich wenigstens ihre Gedanken irgendwann mal formuliere.

Gaus: Wann hat sich diese Überzeugung bei Ihnen durchgesetzt: Grundlegendes kann ich nicht ändern, in allen grundlegenden Fragen leistet sich das System nur mich als Alibi, aber ich will trotzdem weitermachen? Wann hat diese Form von Resignation begonnen?

Hildebrandt: Bei den Notstandsgesetzen. Ich kann mich erinnern, wir hatten den genauen Wortlaut der Notstandsgesetze vorher schon bekommen (ich will nicht sagen vom wem). Mein Kollege und Freund Klaus-Peter Schreiner hatte nach genauen Vorgaben und Protokollen den Text gemacht. Das war zwei Jahre vor der ersten, zweiten und dritten Lesung

Gaus: Das war dann 1966.

Hildebrandt: Wir haben ein ganzes Programm daraus gemacht.

Gaus: Ich habe es gesehen.

Hildebrandt: Und wir haben dann große Vorwürfe bekommen, dass wir dieses Thema 1968 nicht mehr voll im Griff hatten. Da hatten wir schon resigniert. Wir wussten, es wird sich durchsetzen. Quer durch alle Parteien wird sich diese Regelung durchsetzen. Noch haben wir sie nicht gebraucht. Aber wenn man sich in Erinnerung ruft, was in diesen Notstandsgesetzen steht, könnte man sich vorstellen, was passiert, wenn sie in Anwendung kommen.

Gaus: Ist also am Ende Bitterkeit und Resignation die Bilanz, die Dieter Hildebrandt zieht?

Hildebrandt: Nein.

Gaus: Warum nicht?

Hildebrandt: Ich bin Schlesier. Die Schlesier nehmen sehr viel auf. Wie Gerhart Hauptmann schon sagte: Ein Schlesier entscheidet nu ja, nu ja, nu nee, nu nee. Ich bin jederzeit bereit, etwas als Niederlage anzunehmen und sie sofort wieder zu verarbeiten, um einen neuen Ansatz zu machen. Ich gebe nicht auf.

Gaus: Ist das nicht Selbstbetrug? Wenn Sie aufgeben, würden Sie auch sich aufgeben, würden Sie auch Ihr Leben nachträglich verwerfen, so dass Sie dran festhalten müssen. Sind Sie je soweit gegangen, dass Sie sich das gefragt haben?

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Und was war die Antwort?

Hildebrandt: Ich bin zu dem festen Entschluss gekommen, auf gar keinen Fall zuzugeben, dass ich resigniere. Ich will das nicht. Vielleicht ist das töricht, ich weiß es nicht. Aber ein bisschen töricht muss jemand sein, der auf eine Bühne geht.

Gaus: Was hätten Sie Ulrike Meinhoff gesagt, wenn sie zu Ihnen gekommen wäre, bevor sie in den Untergrund abtauchte und gewalttätig wurde?

Hildebrandt: Ich hätte gesagt: Um Gottes willen, bleib. Ich hätte gesagt: Mache es nicht, tue es nicht. Wenn sie mich so gefragt hätte, was sie damals schon nicht mehr getan hat: Ich hätte gesagt: Um Gottes willen, nicht untertauchen.

Gaus: Wenn Sie zur Generation von Ulrike Meinhoff gehörten, hätte es sein können, dass Sie sich auf ihre Seite geschlagen hätten?

Nein.

Gaus: Sie hätten ja dann bestimmte Erfahrungsvorgaben nicht gehabt, die aus dem Alter resultieren.

Hildebrandt: Das muss ich mir genau überlegen.

Gaus: Ich glaube, dass für Ihre Generation, für meine Generation die Erfahrung des Krieges, die Erfahrung der allerersten Nachkriegszeit natürlich auch sehr prägend gewesen ist bei der Sozialisation. Und diese Erfahrung hat sie nicht gehabt – und hätten Sie nicht gehabt. Was macht Sie sicher, dass Sie unter diesen Umständen nicht doch bei Ulrike Meinhoff gelandet wären?

Hildebrandt: Es macht mich eines nachdenklich: das Untertauchen. Das Untertauchen bedeutet, andere Wege zu gehen. Das bedeutet, ich brauche eine Waffe, das heißt: Ich schieße! Dieses macht mich sicher, das hätte ich nicht getan.

Gaus: Gewinnen die Deutschen seit einiger Zeit – wie es heißt – ein gesundes Nationalgefühl zurück? Oder bleiben Sie, Herr Hildebrandt, misstrauisch gegenüber diesem neuen Ton, der da sagt: Das ist doch nur gut und gesund?

Hildebrandt: Da bleibe ich misstrauisch. Wir waren nie eine Nation, und ich weiß auch nicht, aus welchem Grunde wir eine werden sollen. Wir waren immer so wie die ARD – aufgeteilt in mehrere Volksstämme. Jeder Volksstamm hat seine Geschichte, die ist sehr lustig und sehr tragisch. Und alles ist bindend auf die Schwaben, auf die Franken, auf die Bayern, auf die Preußen ... Die deutsche Geschichte ist eine geklitterte, sie hat nie richtig stattgefunden. Die Zeit zwischen 1870 und dem Zerschlagen langt nicht aus für die Tradition eines deutschen Reiches oder einer deutschen Nation.

Gaus: Hätten Sie mit der Teilung weiterleben können?

Hildebrandt: Selbstverständlich. Es wäre vielleicht sogar ganz gut gewesen. Das ist nun wiederum naiv zu glauben, es könnte sich ein Staat, es könnte sich ein Land, das sich verschrieben hat der Diktatur eines Proletariats, irgendeiner Partei, eines Politbüros auf ein menschliches Maß zurückschrauben. Das heißt: vermenschlichen. Dies ist von Hause aus nicht möglich. Das wusste ich immer. Trotzdem war es mir immer sympathisch, eine Alternative zu haben zu diesen etwas verkorksten Nachkriegsdeutschland, der Bundesrepublik.

Gaus: Sie haben jetzt gesagt: Reformfähigkeit des Sozialismus schließen Sie völlig aus.

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Warum muss das so sein?

Hildebrandt: Ich weiß nicht, warum das so sein muss. Das liegt daran, dass der Mensch nicht zu ändern ist. Ich glaube, dass der Mensch verändert werden müsste, um gemeinsam eine Diktatur auszuüben als Gutes gegenüber dem Bösen und Schlechten, eine Kontrollinstanz eben. Ich glaube, dass der Mensch gierig bleibt, böse bleibt. Ich glaube, dass er niederträchtig ist in seiner Grundanlage, dass es nur Möglichkeiten gibt, es zu dämpfen. Deswegen bin ich Sozialdemokrat gewesen und bin es noch.

Gaus: Und es stört Sie daran dieses Sich-Bescheiden nicht? Den Mächtigen eigentlich nur ein bisschen weh zu tun und jetzt, wo es ernst wird im Land, ihnen gar nicht mehr wehtun zu können, weil: nun muss gespart werden und wie gespart wird, entscheiden andere als die Sozialdemokratie oder auch eine sozialdemokratische Gesinnung. Ist es nicht doch so, dass die sozialdemokratische Zeit zu Ende geht auf dieser Welt?

Hildebrandt: Wenn Sie mir sagen können, was dann an diese Stelle tritt? Sollten es Menschen sein wie Joschka Fischer, sollten es parteifreie Wählervereinigungen sein, die im Grunde genommen nichts anderes sind als die übrige Liste der Parteien? Es gibt ohne die Sozialdemokraten keine Möglichkeit, diese Demokratie weiterzuführen. Sie müsste sich nur darauf besinnen, dass sie die Partei ist, die nach 1945 ihren Namen nicht ändern musste. Sie ist eine Partei, die relativ gut durch die Zeit der Diktatur gekommen ist, die ihre Wurzeln hat in den Konzentrationslagern, wo die Menschen gestorben sind. Sie sollte sich vielleicht an diese Wurzeln wieder erinnern und auch daran, dass es einmal eine Zeit gab, in der man sie gefürchtet hat.

Gaus: Damals war sie aber revolutionär, als man sie gefürchtet hat. Denn gefürchtet hat man sie – möglicherweise hat man sie falsch interpretiert -, aber gefürchtet hat man sie im Wilhelminismus.

Hildebrandt: Ja sicher. Aber ich sehe sie in der Zeit der Wiederbewaffnungsdebatte, ich sehe sie in der Zeit ihrer großen Redner, ich sehe sie in der Zeit, als Fritz Erler an das Rednerpult trat, sogar der Ollenhauer war noch gefürchtet, ganz zu schweigen von Helmut Schmidt. Es ging immer so ein kleiner Engel durch den Raum, wenn einer von diesen zu irgendeinem Thema das Wort ergriff.

Gaus: Wie weit ist das, was Sie jetzt sagen, das Lobpreisen einer einstmals sehr viel glanzvolleren Erscheinung? Faktisch hat es nichts geändert.

Hildebrandt: Vielleicht liegt das auch daran, dass man auch an den Wählern faktisch nichts ändern kann. Vielleicht kann man sie nicht überzeugen, vielleicht gab es genau zu dieser Zeit keine Veränderungsmöglichkeit. Weil genau zu dieser Zeit der Bürger seinen kleinen Vorgarten bekam und seinen ersten Gartenzwerg. Und in dem Moment gehört er zu den Besitzenden und wird kein Sozialdemokrat werden.

Gaus: Was erwarten Sie, wenn jetzt durch den Sparzwang der Abstand zwischen Arm und Reich erheblich größer wird, als wir ihn gewohnt sind? Was erwarten Sie dann von den Menschen, was erwarten Sie dann von den Sozialdemokraten? Was erhoffen Sie, und was glauben Sie, was kommt?

Hildebrandt: Ich erwarte von den Sozialdemokraten, dass sie das genau – wie Sie es sagen – vorausgesehen haben. Ich erwarte, dass sie Vorarbeit leisten, dass ihre Partei genau die sein muss, wo die Menschen, die darüber nachdenken und zu Schlüssen kommen, natürlich wieder hin müssen, auch ihre Stimme denen wieder geben müssen. Das ist die einzige Rettung für sie. Es gibt von anderen Seiten keine – wie ich Ihnen schon sagte. Alles merkwürdige Zusammenballungen. Die Grünen hatten mal eine Chance, auch als Alternativpartei. Sie haben sie nicht genutzt.

Gaus: Ihr Antikommunismus ist, wenn ich Sie richtig verstehe, ein Antikommunismus der Klage. Sie sagen: Wenn wir Menschen imstande wären, uns so zu verändern, dass wir ihn praktizieren könnten, was wäre es herrlich. Das ist ein anderer Antikommunismus als der vorherrschende?

Hildebrandt: Ich glaube, ja.

Gaus: Sie sind nicht besorgt, dass Sie mit Ihrem Antikommunismus vereinnahmt werden von der falschen Seite?

Hildebrandt: Die Angst habe ich immer, ich werde auch dauernd vereinnahmt. Vielleicht ist auch schon so eine gewisse Heiterkeit, die einen überkommt. Davor hat man keine Angst mehr. Dazu ist man ein wenig älter geworden. Ich bin schon so oft vereinnahmt worden. Ich kann mich noch erinnern, das erste Mal als ich es richtig merkte, als ich vier Politikern gegenübersaß mit Samy Drechsel...

Gaus: Samy Drechsel war der Regisseur der Münchener Lach- und Schießgesellschaft. Wir müssen das für die junge Generation, mit der Sie sich manchmal gegen uns Alte verbünden, sagen.

Hildebrandt: Ja, natürlich.

Gaus: Also, wie war das?

Hildebrandt: Da saßen uns gegenüber Franz Josef Strauß, Fritz Erler, Eugen Gerstenmaier und Milde. Insgeheim haben wir uns gedacht, wir werden schon ein bisschen draufdrücken, und man wird lachen über die Politiker. Gelacht haben sie über uns, weil wir nicht vorbereitet waren. Wir waren ja so was von naiv. Wir haben nicht gewusst, dass die sich untereinander absprechen. Wir haben immer geglaubt, der Fritz Erler von der SPD wird uns helfen. Unglaublich, was wir damals geglaubt haben. Wir haben uns vernichtet. Der erste Satz, den Eugen Gerstenmaier zu uns sagte, war: Wenn es sie, die Lach- und Schießgesellschaft, nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Und da wusste ich, dass es den Berg runterging.

Gaus: Hatte er recht?

Hildebrandt: Er hatte die richtige Taktik.

Gaus: Hatte er recht in der Sache – Brot und Spiele? Ist es ein Leben von Brot und Spielen gewesen, Herr Hildebrandt?

Hildebrandt: Brot und Spiele setzt jetzt erst ein. Damals war noch sehr viel Interesse vorhanden an der politischen Entwicklung und auch an dem, was Kabarettisten sagten. Wir hatten damals nur zwei Kanäle...

Gaus: Fernsehkanäle?

Hildebrandt: ... und wir konnten noch feststellen, dass man zum Beispiel in den Zeitungen uns zitiert hat. Das wurde weitergegeben. Insofern waren wir damals noch im Spiel. Nur, diese Niederlage, die wir da erlitten haben, die war natürlich tödlich.

Gaus: Das hat nicht jeder gemerkt. Ist es so, dass heutige Ohnmacht darin liegt, dass es eine solche Unterhaltungsüberflutung gibt und die Menschen mehrheitlich – ohne Hochmut gesagt, sie können nichts dafür – den Unterschied nicht mehr richtig wahrnehmen zwischen dem Engagierten, auf Wirkung, auf mehr Wirkung als nur auf den Lacher abzielende Wirkung betreibende Kabarettisten einerseits und dem Showman andererseits? Werden sie überfüttert?

Hildebrandt: Ja. das Angebot ist wahnsinnig groß. Der Zapper-Finger ist nervös. Wenn beim ersten Einschalten nicht der richtige Satz kommt, ist der nächste Sender schon wieder drin. Das betrifft sowohl die Comedy-Leute, wie man sie ja nennt, als auch uns. Es betrifft jeden, der überhaupt auftritt. Auch bei Herrn Schenk, wenn er im „Blauen Bock“ auftritt, und der sagt nicht gleich was Gutes, ist der nächste Sender schon drin.

Gaus: Warum sind Sie eigentlich Optimist geblieben Ihr Leben lang?

Hildebrandt: Aus Notwehr. Ich kann gar nichts anderes sein. Sonst bringe ich mich um. Ich muss irgendwas unternehmen, was soll ich im Ausland? Welches Ausland? Was soll ich da machen? Wie soll ich da leben? Von der Sprache kann ich da nicht leben. Einerseits muss ich, zweitens will ich.

Gaus: Was bedeutet es für Sie, ein Deutscher zu sein?

Hildebrandt: Ich bin aufgewachsen in einer Zeit, wo man vor uns Angst hatte; wir waren, so wurden wir erzogen, das Land der Großen, der Übermächtigen, der Übermenschen, der Dichter, der Denker, später erfuhr ich: auch der Richter und Henker. Dann musste man sich langsam einrichten mit dem Image, das man als Deutscher hatte. Das erfuhr man, wenn man im Ausland im Urlaub war. Man erfuhr, dass man als Deutscher sofort erkannt wird. Woran, warum? Es stellte sich heraus, wir sind – wie Berti Vogts neulich auch sagte –, eben nicht so elegant wie die Portugiesen. Wenn wir tanzen, merkt man es, wenn wir reagieren, merkt man es. Wir sind grob, grobschlächtig, wenn wir mehr als drei sind, singen wir.

Gaus: Das tun die Holländer auch.

Hildebrandt: Das tun die Holländer auch, die Dänen und die Schweden ganz besonders.

Gaus: Die singen nicht deutsch.

Hildebrandt: Gut, wir unterliegen offensichtlich einem Generalverschiß seit vielen, vielen Jahren.

Gaus: Verschuldet, unschuldig?

Hildebrandt: Ich glaube, ein wenig unschuldig. Wir sind besser als unser Ruf. Wir haben die Möglichkeit zur Eleganz, wenigstens des Denkens. Wir bemühen uns. Das ist doch schon viel.

Gaus: Wer bemüht sich – die Deutschen?

Hildebrandt: Die Deutschen bemühen sich, selbstverständlich. Die spüren ja, dass ihr Image schlecht ist. Sie spüren es nicht? Na ja… Ich merke, in so einigen Zeitungen, die ich gern lese, dass sich da etwas bewegt. Enzensberger ist schon mal etwas, mit dem kann man auch nach Italien gehen, den kann man mal lesen. Wenn man sich hinsetzt, sagt der Nachbar: Ach, der liest wenigstens den Enzensberger, der ist ja elegant, der formuliert, ist eigentlich gar nicht so deutsch. Wenn man ihn sehen würde, würde man sagen, es ist ein Deutscher. Das alles zusammen ist etwas, was man einfach mittragen muss. Ich erkenne, wenn ich beispielsweise in Deutschland bin, die Ausländer ja auch nicht. Es ist schwierig.

Gaus: Sie sind einverstanden mit den Deutschen?

Hildebrandt: Ich bin mit den Deutschen einverstanden in ihrer ganzen, großen Hilflosigkeit und ihren großen Nöten. Ich fühle mich solidarisch.

Gaus: Haben Sie keine Angst vor den Deutschen?

Hildebrandt: Nur wenn es mehr als drei sind, und sie sind betrunken, und sie singen Lieder. Ich hatte mehrere schreckliche Erlebnisse. Das kann natürlich auch damit zusammenhängen, dass sie mich erkannt haben. Damit lebt man ja auch. Ich war mit sechs Cellisten in Recklinghausen in einer Kneipe. Da kamen drei Leute auf uns zu, sie wollten uns verprügeln. Daraufhin standen meine Cellisten alle auf. Ich dachte, Donnerwetter, die stehen aber für dich. Sie gingen aber sofort zu ihren Instrumenten, weil: Die kosteten alle über 30.000 Mark. Das ist auch eine deutsche Szene. Insofern habe ich auch ein wenig Angst.

Gaus: Haben Sie, als Sie darüber gesprochen haben, was es für Sie bedeutet, Deutscher zu sein, etwas improvisiert?

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Und haben Sie das Publikum, das wir vielleicht für diese Sendung finden, verunsichern wollen?

Hildebrandt: Ja.

Gaus: Haben Sie die, die eine Meinung über Dieter Hildebrandt haben, vergackeiern wollen?

Hildebrandt: Nein.

Gaus: Warum nicht?

Hildebrandt: Das würde ich nie tun.

Gaus: Vergackeiern Sie die Leute jetzt wieder?

Hildebrandt: Das liegt mir ein bisschen zu tun.

Gaus: Was hätten Sie 1955 auf die Frage gesagt: Was bedeutet es für Sie, ein Deutscher zu sein?

Hildebrandt: Da kann ich mich schwer erinnern …

Gaus: Da fing das Kabarett an.

Hildebrandt: Ich hätte wahrscheinlich gesagt, dass ich mich ein wenig schäme, das zu sein.

Gaus: dass Sie es nicht mehr sagen, hat nach meiner Unterstellung nichts mit Anpassung von Hildebrandt zu tun, sondern mit dem Wandel im Laufe der Zeit. Ist das richtig?

Hildebrandt: Wir hatten ja seit ’55 eine Weile Zeit, uns zu entwickeln. Wir haben uns ja ein bisschen entwickelt. Finden Sie nicht?

Gaus: Die Fragen stelle ich.

Hildebrandt: Wir haben uns etwas entwickelt.

Gaus: Wohin? Haben Sie keine Sorge, was manche Leute tun – manche Leute haben die Sorge? Wir würden vielleicht, zum Beispiel nach der Vereinigung, wieder ein bisschen großmächtiger, als es uns bekömmlich sein sollte?

Hildebrandt: Das ist keine Vermutung, das ist keine Angst, das ist eine Gewissheit. Dafür habe ich zu viele Erlebnisse gehabt in dieser Zeit. Ich weiß ganz genau, dass das ganz fatal ist, diese Entscheidung der ganz schnellen Zusammenlegung. Da gebe ich dem Günther Grass völlig recht, das hätte man sieben, acht Jahre probieren müssen – diese zwei Staaten. Ich sehe noch heute die Goldgräber und die ängstlichen Menschen, die sagten, da kommt einer mit einem Auto, das ist ein Mercedes, der holt sich sein Grundstück ab oder was weiß ich. Ich sehe diese Verunsicherung von Menschen, die viele Jahre lang gearbeitet haben, um sich ein Haus mit Mühe anzueignen für zwanzigtausend Mark, die sie gespart hatten, und da kommt einer und sagt: Das gehört mir, und ich werde es abbauen, und ihr zieht aus. Das hat es doch alles gegeben, und das gibt es noch heute. Das war ein großer Fehler.

Gaus: Zeigt sich bei der Art der Vereinigung und bei dem Zurückdrängen des sozialdemokratischen Faktors in der Gesellschaft, der ja nicht nur an die SPD gebunden ist, dass das herrschende System, das System, in dem Sie und ich unser Leben verbringen, verbracht haben, auch an sein Ende stößt?

Hildebrandt: Zumindest an die größte Problematik – wie sie überlebt, wie diese Generation überleben soll. Diese knallharte Entscheidung: Es ist Winter, und wir müssen jetzt die Heizung sperren, weil wir sie uns nicht leisten können. Es kommt die Zeit, wo wir keine Arbeitsplätze mehr haben, dann müssen wir sie eben abschaffen. Wir müssen die Sozialforderungen einfrieren über ein paar Jahre ... Das klingt zwar ein bisschen hart, aber so beginnt es ja. Das ist eine Hilflosigkeitserklärung, die höchst beängstigend ist.
Ich glaube, dass das eine Frage ist, die an die Sozialdemokraten gestellt werden muss. Es ist ihre Aufgabe, das sollen sie machen. Sie sollen endlich wenigstens mal sagen, dass das so ist. Das sagen sie nicht. Sie geben immer irgendetwas zu. Sie geben nie klar Auskunft, dass dieses hier ein Angriff auf die Schwachen ist – ein Frontalangriff auf die Schwachen. Und die klare Entscheidung zum reinen und reinsten Kapitalismus, das sagt weder Oskar Lafontaine, das sagt Herr Scharping nicht...

Gaus: Was sagt Dieter Hildebrandt zu der Frage: Kann es sein, dass am Ende, gegen Ende unseres Lebens das sozialistische System abgewirtschaftet hat, aber das System, das sich den Pluralismus geleistet hat, weil er zu finanzieren war, das marktwirtschaftliche, das kapitalistische auch? Wenn man nicht parteitaktisch denkt, wenn man denkt, ich darf das alles nicht so deutlich sagen, ich will ja die Leute nicht erschrecken, die sollen mich ja wählen, weil sie glauben, dass ich was bewirken kann – wenn man das alles nicht muss, und Sie müssen es nicht: Kann es dann sein, dass am Ende einfach Ratlosigkeit steht?

Hildebrandt: Ja. Ich stelle zum Beispiel beim täglichen Studium des Wissenswerten fest, das dies in den Zeitungen der Besserlesenden oder der Besserschreibenden etwas deutlicher steht als in der Boulevardpresse. Da bin ich zum Teil ratlos, weil ich die Weisheit des Erkennens sehe, aber nirgendwo den Ansatz zum Verbessern der Situation. Es gibt keine Ratschläge mehr. Es ist allgemeine Ratlosigkeit. Es wird ein Bundeskanzler gelobt, der diese Bundesrepublik in den Graben gefahren hat. Warum wird er eigentlich gelobt? Seit ungefähr drei, vier Jahren sehe ich voller Erstaunen, dass man einem Versager den Teppich ausrollt.

Gaus: Ist die Ratlosigkeit nicht ein Akt der Ehrlichkeit, wenn man auf Patentrezepte verzichtet? Politiker sagen ja nicht, dass sie ratlos sind. Aber wenn die Zeitungen soweit gingen, dass sie sagten: Wir sind ratlos?

Hildebrandt: Wenn sie das täten, wäre mir wohler.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Hildebrandt. Was hat Sie davor bewahrt, ein Zyniker zu werden?

Hildebrandt: Ich habe Respekt vor Menschen. Ich kann mit einer Pointe Menschen nicht in einen Zusammenhang reißen, in dem sie würdelos sind. Das ist – glaube ich – der Grund.