Sendung vom 24.06.1964 - Mende, Erich

Günter Gaus im Gespräch mit Erich Mende

Mein Lebensbuch kann ich überall aufschlagen

Erich Mende, geboren am 28. Oktober 1916 in Groß-Strehlitz (Oberschlesien), gestorben am 6. Mai 1998 in Bonn.
Laufbahn als aktiver Offizier im Zweiten Weltkrieg (Polen, Frankreichfeldzug, Ostfront; bei Kriegsende Major, Auszeichnung mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes). Von 1945 bis 1949 Studium der Rechtswissenschaften und der Politischen Wissenschaften in Köln, Promotion zum Dr. jur. Dozent. 1945 Mitglied der FDP. Mitglied des Landesvorstandes der FDP Nordrhein-Westfalen und ab Juni 1949 Bundesvorstandsmitglied der FDP.
Von 1949 ab wurde er für die FDP immer wieder in den Bundestag gewählt. Er war in der 1. Legislaturperiode Parlamentarischer Geschäftsführer und in der 2. stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Ab 1957 Fraktionsvorsitzender. Ende Januar 1960 wurde er an Stelle Reinhold Maiers neuer Bundesvorsitzender der FDP. Unter seiner Führung erreichte die FDP 1961 den größten Bundestagswahl-Erfolg, 12,8 Prozent statt 7,7 Prozent der Stimmen 1957 (die CDU verlor damals die absolute Mehrheit).
Nach dem Rücktritt Adenauers 1963 übernahm er im Kabinett Ludwig Erhards neben der Vizekanzlerschaft das Ressort für Gesamtdeutsche Fragen. Sein überraschender Abgang ins Investmentgeschäft 1967 führte zu seinem Rücktritt als FDP-Vorsitzender. Auf Grund geschäftlichen Mißerfolgs arbeitete er bis 1980 als Wirtschaftsjurist. Als Gegner des sozialliberalen Kurses trat er 1970 aus der FDP aus und der CDU bei. Ende 1980 schied er aus dem Bundestag aus.
Das Gespräch wurde gesendet am 24. Juni 1964.


Gaus: Herr Dr. Mende, Sie sind seit über vier Jahren Bundesvorsitzender der Freien Demokratischen Partei und seit Oktober vorigen Jahres auch Vizekanzler und Minister der Bundesregierung. Welches dieser Ämter könnten Sie am ehesten missen?

Mende: Es ist sehr schwer, sich sofort zu entscheiden. Das Amt eines Parteivorsitzenden einer liberalen Partei ist sehr schwierig. Das haben meine Vorgänger schon feststellen müssen. Es ist oft ein undankbares Amt. Eine liberale Partei macht es sich oft schwer, auch anderen und insbesondere ihrem Vorsitzenden. Ich hätte mir manchmal gewünscht, diese Last nicht zu haben. Auf der anderen Seite aber fühlt man die Verantwortung und muß also das Amt durchstehen, selbst wenn es nicht angenehm zu sein scheint. Das Ministerium, für das ich die Verantwortung trage, macht mir sehr viel Freude. Man kann gestalten, man kann in menschliche Schicksale positiv eingreifen, Menschen helfen. Ich glaube, das erfüllt mich sehr. Ich möchte im Augenblick beides nicht missen.

Gaus: Kann man aus dieser Antwort bis zu einem gewissen Grade schließen, daß die oft gehörten Behauptungen, Sie sähen die Erfüllung Ihres politischen Lebens in einem Ministeramt, nicht ganz unrichtig sind?

Mende: Ich glaube, ein Ministeramt, überhaupt ein Staatsamt, gibt einem viel mehr die Möglichkeit, zu gestalten, als ein reines Parteiamt. Insofern strebt jeder Politiker nach Verantwortung. Ob als Oberbürgermeister, ob als Landrat, ob als Landesminister oder Bundesminister, wo auch immer man unmittelbar Verantwortung tragen kann. Als Inhaber eines öffentlichen Amtes kann man mehr leisten als dort, wo man nur mittelbar eingreifen kann.

Gaus: Herr Dr. Mende, der erste Beruf, den Sie hatten, war der des Offiziers. Sie sind 1936 eingerückt in das Infanterieregiment 84 in Gleiwitz. Was hat Sie damals bewogen, Berufsoffizier zu werden?

Mende: Es lag an der Zeit. Die Wehrmacht wurde aufgebaut. Hinzu kam, daß mein älterer Bruder aktiver Offizier war. Er ist 1932 in die Reichswehr eingetreten. Hinzu kam auch eine gewisse, aus dem Grenzland Oberschlesien wahrscheinlich entstandene patriotische Komponente. Ich glaube, es kamen viele Faktoren zusammen, die mich veranlaßten, die Offizierslaufbahn einzuschlagen.

Gaus: Sie sind 1916 in Groß-Strehlitz in Oberschlesien geboren und gehören also zu jener Generation, deren Jugendjahre mit dem Beginn des NS-Regimes zusammenfielen. Wie haben Sie seinerzeit als junger Offizier vor dem Krieg über den Nationalsozialismus gedacht?

Mende: Man ist als Offizier mit der Partei kaum in Berührung gekommen. Ich stand in Gleiwitz in einem aktiven Regiment. Das Offizierskorps war sehr geschlossen. Wir hatten noch Weltkriegsoffiziere als Vorgesetzte, also Ältere, die sehr konservativ eingestellt waren. Wir Leutnante und Oberleutnante haben so viel mit dem Dienst zu tun gehabt, daß wir in politische Fragen, geschweige denn in parteipolitische, überhaupt nicht eintreten konnten und nach Meinung unserer Vorgesetzten auch nicht eintreten sollten, denn die Wehrmacht stand ja außerhalb des unmittelbaren politischen Lebens. Wir durften beispielsweise als aktive Soldaten nicht Mitglieder der Partei oder einer Partei sein und uns auch sonst nicht aktiv politisch betätigen. Insofern standen wir im Kasino oder auch in der Garnison schlechthin in einer gewissen Distanz zum politischen Leben. Das hinderte uns natürlich nicht, uns mit den Dingen zu befassen und uns ein Urteil zu bilden. Aber es war mehr geprägt worden ...

Gaus: Wie lautete das Urteil des jungen Offiziers Mende?

Mende: Es war in den 30er Jahren positiv über den Staat, über das, was geschah, über die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, über mehr Ordnung und weniger Kriminalität. Ich hatte nach meinem Abitur 1936 und dann als Soldat keinen Anlaß, negativ zu urteilen über das, was sich uns optisch politisch darbot. Im Gegenteil, manche Dinge haben mich sehr beeindruckt; insbesondere das Ordnungsbild des damaligen Staates.

Gaus: Wann begannen erste Zweifel an diesem Ordnungsbild?

Mende: Erste Zweifel begannen Ende des Jahres 1941 bei den ersten Rückschlägen im Mittelabschnitt der Ostfront kurz vor Moskau. Aber davor hatte es schon gewisse Nachrichten gegeben – nach dem Polenfeldzug, auch nach dem Frankreichfeldzug – über Säuberungen in den rückwärtigen Gebieten, die zum Teil zu Protesten der Generalität, aber auch zu sehr harten Urteilen bei den Gesprächen unter Offizieren geführt hatten.

Gaus: Sie hatten also von Liquidierungen, von Vernichtungslagern hinter der Front gehört?

Mende: Erstmalig habe ich im Lazarett in Dresden 1942 von gewissen Ausrottungsmaßnahmen gehört, von Erschießungen hinter der Front. Im Lazarett erfuhr man manches, was man unmittelbar als Infanterist an der Front nicht erfahren konnte. Von einer systematischen Ausrottung etwa in Auschwitz haben wir damals aber nicht nur nichts gewußt, sondern auch nicht einmal etwas gehört.

Gaus: Was war die Einstellung des hochdekorierten Frontoffiziers Mende, der 1945 als Major im Osten noch mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet wurde, zu solchen Vorgängen?

Mende: Absolute Ablehnung. Ich erinnere mich, daß wir 1941 48 Stunden vor dem Angriff auf die Sowjetunion alle zum Divisionskommandeur befohlen wurden, die Offiziere der ganzen Division. Da sagte der Divisionskommandeur, daß er einen sogenannten Kommissarbefehl habe, wonach Kommissare erschossen werden sollten. Er sagte, dieser Befehl existiere für die 8. oberschlesische Division nicht, wir seien eine Division von Soldaten und nicht von Henkern. Er wünsche, daß von diesem Befehl in seiner Division keine Kenntnis genommen wird. Das war etwa der Geist einer aktiven schlesischen Division, die zum Teil auch aus sehr gläubigen Katholiken und Protestanten bestand. Oberschlesien ist ja bekannt als ein sehr religiös geprägtes Land.

Gaus: Noch eine Frage, Herr Minister. Es ist sehr menschlich, daß der Einzelne, der Durchschnittliche, sagt, er könne gegen die Gewalt nichts ausrichten, also ducke er sich lieber, mache sich klein, passe sich an. Sind Sie also der Meinung, daß man in solchen Situationen fünf gerade sein lassen muß, weil man vom gewöhnlichen Menschen nicht mehr erwarten kann, oder gibt es eine Pflicht zum Widerstand?

Mende: Selbstverständlich gibt es eine Pflicht zum Widerstand dort, wo sich das Sophokles-Thema stellt. Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, und wir hatten sogar nach dem alten Militärstrafrecht die Pflicht zum Widerstand. Wo ein Befehl gegeben wurde, der nachweislich kriminellen Charakter hatte, mußte sogar der Offizier dem Befehl widersprechen. Das war altes Militärstrafrecht, das weiterhin galt und von dem Gebrauch gemacht worden ist. Ich erinnere mich vieler Dinge, bei denen wir in meiner Division gegen gewisse Anordnungen handelten, und ich anerkenne nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zum Widerstand. Allerdings gibt es die Grenze dort, wo man weiß, daß man mit dem Widerstand auch möglicherweise seinen Kopf verwirkt. Nicht jeder hat das Zeug zum Thomas Morus, zum Helden und Märtyrer und Heiligen in sich. In den Kreisen der Offiziere, auch der Unteroffiziere ist manchmal sehr hart über manchen Befehl, über manches Ereignis diskutiert worden. Es sind schärfste Worte gefallen, die gottlob ganz vorne bei der Infanterie nicht lebensgefährlich waren, weil sich dort weder die Staatspolizei noch der Sicherheitsdienst hintraute. Ich erinnere mich an Gespräche mit dem Major Höppner beispielsweise, der in unserer Division I b war, dem Sohn des später hingerichteten Generaloberst Höppner, und mit Herrn von Witzleben; ich erinnere mich an Gespräche mit Generalmajor Treskow, der sehr befreundet mit meinem Divisionskommandeur von Bergen war. Da ist sehr hart über gewisse Fehlentwicklungen, ja über den verlorenen Krieg gesprochen worden. Nur kann sich Erkenntnis leider nicht immer umsetzen in entsprechende Aktion.

Gaus: Könnte es sein, daß aus einer ganz verständlichen Abwehrreaktion heraus Ihre Generation ihren etwaigen Teil an Mitschuld zu verringern versucht, indem sie ganz betont Distanz legt zwischen die NS-Organisationen und die Fronttruppe, die Wehrmacht, die nichts mit all dem zu schaffen hatte? Und wenn die Wehrmacht allenfalls am Rande doch einmal damit zu schaffen hatte, so stellte sie sich auf die Hinterbeine, aber gab sich im Großen und Ganzen zufrieden, daß andere die schmutzigen Geschäfte erledigten?

Mende: Ich möchte nicht sagen, daß wir Distanz legten, sondern daß wir Distanz hatten durch die besondere Lage der Front. Der Frontoffizier und -unteroffizier ist so sehr mit sich, mit seinem Leben, mit dem Leben seiner Kameraden befaßt, mit dem Überleben, daß er für andere Dinge weder Zeit noch Kraft hat. Insofern sind alle, die an der Front standen, schon in einer Distanz gewesen zu dem, was hinten geschah. Oft erfuhr man es auch nur auf Umwegen. Die im Ersten Weltkrieg geborene Kriegsgeneration, die im 2. Weltkrieg die höchsten Opfer an Gut und Mut bringen mußte, hatte wohl keine gewollte Distanz. Zudem möchte ich darauf hinweisen, daß diejenigen, die in den dreißiger Jahren vierzehn bis siebzehn Jahre alt waren – ich war sechzehn Jahre und drei Monate alt, als Hitler zur Macht kam –, wesentlich weniger Verantwortung trugen, von Schuld will ich gar nicht reden, als jene, die dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben und also die Verantwortung trugen.

Gaus: Das steht außer Zweifel.

Mende: Es ist also keine Distanz, die wir legten. Es ist eine Distanz, die uns die Geschichte gottlob gestattet hat, weil wir gar nicht in der Lage waren, damals die politischen Dinge zu begreifen, geschweige denn zu ändern.

Gaus: Das Elternhaus, Herr Dr. Mende, in dem Sie aufwuchsen – Ihr Vater war Volksschullehrer –, war von zwei Wesenszügen bestimmt: Es war ein Haus katholischen Glaubens, und es war ein Haus mit einer stark ausgeprägten nationalen Gesinnung. Welcher dieser Einflüsse ist für den jungen Mende entscheidender gewesen?

Mende: Ich möchte mehr den nationalen Einfluß als entscheidend ansehen. Als Grenzlanddeutscher erlebt man ja mehr. Als ich fünf Jahre alt war, wurde gerade um den Annaberg gekämpft. Ich erlebte so in den ersten Kindheitserinnerungen den Kampf um meine Heimatstadt Groß-Strehlitz, um Annaberg. Mein Vater war mit dabei, meine Mutter mußte mit den drei Kindern fliehen quer durch die Linien. Kurz nach der Flucht wurde das vierte Kind geboren. Diese Erinnerungen prägen einen sehr. Der Grenzlanddeutsche hat einen gewissen organischen Patriotismus. Daß selbstverständlich auch noch kirchliche und humanitäre Erziehung einen innerlich prägen, versteht sich von selbst.

Gaus: War Ihr Vater politisch engagiert?

Mende: Mein Vater gehörte der Zentrumspartei an und nahm am kommunalen Leben meiner Heimatstadt einen sehr regen Anteil.

Gaus: Sie sind in einer Kleinstadt groß geworden, wo die Zeitströmungen vielleicht weniger hohe Wellen schlugen als anderswo. Aber immerhin war die Zeit, in der Sie heranwuchsen, die letzte Zeit der Weimarer Republik und die ersten Jahre unter dem Nationalsozialismus, bewegt genug. Erinnern Sie sich an politische Diskussionen, an denen Sie etwa als Schüler teilgenommen haben? Gab es ein politisches Interesse?

Mende: Ich kann mich nicht erinnern, daß wir an unserem humanistischen Gymnasium politische Diskussionen hatten. Es gab die Jugendbewegungen Neudeutschland, Quickborn – dem gehörte ich selbst an – es gab einen NS-Schülerbund, es gab jüdische Mitschüler; wir haben uns so gut vertragen, daß es Krach nicht gab. In meiner Heimatstadt Groß-Strehlitz ist die Synagoge auch nicht zerstört worden. Man kannte sich in einer Kreisstadt so gut – der Apotheker, der Arzt, der Pfarrer, der Kaufmann, der Lehrer –, daß man sich nichts tat. Es herrschte auch eine gewisse Toleranz zwischen Katholiken, Protestanten und Juden. Die politischen Wogen schlugen also bis ‘33 nicht hoch, und nach ‘33 spielte sich das Leben auch mehr im äußeren Rahmen gelegentlicher Aufmärsche und Kundgebungen ab. Ich kann mich an politische Prozesse und Auseinandersetzungen auch nach ‘33 in der Stadt Groß-Strehlitz nicht erinnern.

Gaus: Sie haben einmal von sich gesagt, Herr Dr. Mende, mit "roten Gedanken", gleich welcher Schattierung, hätten Sie sich innerlich niemals auseinandersetzen müssen. Bei einem Politiker Ihres Alters zeugt diese absolute Gefeitheit gegen die geistige Versuchung sozialistischer Utopien von einer bemerkenswert festgefügten, sehr bürgerlichen Gesinnung. Wie erklären Sie sich selbst diese Widerstandskraft gegenüber geistigen Versuchungen, denen viele Ihrer Generation erlegen sind?

Mende: Die Erklärung liegt im Elternhaus, aber auch bei den Großeltern. Mein Vater und meine Mutter kamen von einem Bauernhof, meine Mutter war im Pensionat der Ursulinerinnen in Breslau. Auch die Umgebung spielte eine Rolle. In meiner Heimatstadt gab es nur eine ganz kleine sozialdemokratische Gruppe, geradezu eine Diaspora. Die stärkste Partei war die Zentrumspartei, dann kam die Deutsch-Nationale Partei. Ich glaube auch, daß die humanistische Erziehung in einem mehrere Jahrhunderte alten Gymnasium uns auf eine Linie gebracht hat, daß wir mehr der Eigenverantwortlichkeit, dem Persönlichkeitssinn zuneigten, als dem Kollektivismus, dem Massendenken, der Vereinheitlichung, dem Schema. Ein gewisser Individualismus ist ja das Kennzeichen humanitärer Erziehung und auch humanitärer Gesinnung.

Gaus: Diese Auffassung deckt sich vermutlich mit der Auffassung eines großen Teils der deutschen Wähler. Halten Sie es für möglich, Herr Minister, daß ein Teil Ihrer politischen Erfolge auf den folgenden Eindruck unter den Wählern zurückzuführen ist: Der Mende, das ist ein Mann ganz unserer Art, mit denselben Urteilen, denselben Gefühlen, vielleicht auch denselben Vorurteilen, die wir haben, er hat es nur weiter gebracht.

Mende: Ich möchte das nicht glauben, denn schließlich hat doch der politische Liberalismus in Deutschland eine Geschichte. Theodor Heuss hat ihn doch weitgehend geprägt. Wir saßen im ersten Kabinett Adenauer mit drei Ministern, dann im zweiten mit vier Ministern. Ich meine, die Person Theodor Heuss' als Staatsoberhaupt hat doch dafür gesorgt, daß man sich ein Urteil über den Liberalismus nicht nur von Mende zu prägen brauchte, sondern von der Sache her. Natürlich spielt dann auch die Persönlichkeit eine Rolle, die diese Partei am 17. September 1961 herausstellte im Rahmen der Personalisierung der Wahl, die wir vielleicht beklagen können, die aber ein Zeichen unserer Zeit ist.

Gaus: Und glauben Sie – wenn wir jetzt nur einmal jenen Erfolgsanteil betrachten, der auf das persönliche Konto geht –, daß möglicherweise dieser persönliche Erfolg darauf zurückzuführen ist, daß viele Ihrer Vorstellungen den Vorstellungen des repräsentativen Meinungsquerschnitts entsprechen?

Mende: Ich habe immerhin fast 15 Jahre parlamentarischer Praxis. Viele meiner Generationskameraden aus Krieg und Gefangenschaft, aus der Nachkriegszeit mit dem Neuaufbau einer Existenz, haben mich erlebt, wie ich mich im ersten Bundestag besonders um die Heimkehrer bemühte, um die Kriegsverurteilten, um die Kriegs-gefangenen, um die Kriegsopfergesetzgebung. Ich könnte mir denken, daß viele aus meinen Jahrgängen um meine politische Tätigkeit in den ersten Jahren wissen, in denen es noch viel schwerer war, für Soldaten, Kriegsopfer, Witwen und Waisen einzutreten. Vieles, was heute selbstverständlich ist, war damals keineswegs selbstverständlich, die Einstellung zum Soldaten, zum Schwerkriegsbeschädigten, zu Kriegsverurteilten: Vieles wurde doch damals zum Teil noch sehr einseitig und sehr ungerecht gesehen.

Gaus: Herr Dr. Mende, ohne Ihre Verdienste in dieser Sache schmälern zu wollen, muß ich doch eine Frage stellen. Ist es nicht eher umgekehrt? Selbst wenn seinerzeit die veröffentlichte Meinung in diesen Fragen noch etwas heikel reagierte, war nicht die öffentliche Meinung, die Meinung des Mannes auf der Straße, in allen solchen Fällen immer auf Ihrer Seite? Haben Sie nicht einen Instinkt dafür, Herr Dr. Mende, sich Ansichten zuzuwenden, von denen Sie annehmen können, daß sie von einem großen Teil der Bevölkerung geteilt werden?

Mende: Der Politiker sucht Themen, die aus seiner Verantwortung verstanden werden müssen. Erst in zweiter Linie denkt er selbstverständlich auch an die Wahlen. Ich glaube, daß damals viele Menschen, selbst wenn sie anders dachten, aus den allgemeinen Zuständen heraus nicht den Mut hatten, dieses andere Denken zu zeigen, denn wir standen ja unter Besatzungsstatut. Die Übereinstimmung ergab sich erst später aus der Erkenntnis der Leistungen der Partei, des Mannes. Natürlich kam man vielleicht dieser oder jener späteren Grundströmung schon früher etwas näher: beispielsweise der nationalen oder patriotischen Grundstimmung in unserem Volk.

Gaus: Sie haben nach dem Kriege begonnen, an der Universität Köln Jura zu studieren, haben das Referendarexamen abgelegt, haben promoviert und haben zu dieser Zeit, genau Anfang 1946, auch Ihre politische Laufbahn begonnen als Landesgeschäftsführer der Freien Demokraten in Nordrhein-Westfalen. Wie kam es, daß Sie in dieser Zeit, in der die Neigung nicht sehr groß war, sich politisch zu engagieren, ein politisches Engagement eingegangen sind? So bald nach dem Krieg?

Mende: Wir hatten im Kriegsgefangenenlager doch alle Zeit nachzudenken, und das haben wir auch getan. Und wir haben uns natürlich gefragt, wie es weitergehen soll, und viele von uns hatten den Eindruck, man müsse sich einschalten. Durch einen Zufall kam ich zur unmittelbaren, aktiven Betätigung. Ein Kompaniechef, der mir unterstellt war im Krieg, der aber jetzt nach dem Krieg Oberkreisdirektor eines Kreises im Rheinland war, erfuhr, daß ein Verleger einen tüchtigen Organisator suchte für den Aufbau eines Landesverbandes, und zwar der Demokratischen Partei. Das war Dr. Middelhauve. Er empfahl mich, seinen Regimentskommandeur. So kam ich ins Organisationsgeschäft. Ich gestehe aber, daß ich mich schon im Gefangenenlager mit den Reden verschiedener Politiker befaßte. Man hörte und las die Reden Adenauers, man hörte was von Kurt Schumacher, dem einarmigen, sehr spontan reagierenden Demosthenes, dem großen Redner. Man hörte von Theodor Heuss. Die Beschäftigung mit diesen Dingen hat mich dann in Verbindung zu Theodor Heuss und anderen gebracht. So kam ich dann, mehr zufällig als gesucht, auch zur politisch-organisatorischen Tätigkeit für die Freie Demokratische Partei.

Gaus: Erklären Sie mir bitte etwas genauer, warum es gerade die Freie Demokratische Partei war, die Sie angezogen hat?

Mende: Beim ersten Programm, das mir in die Hand fiel, war etwas Bemerkenswertes festzustellen. Es hieß hier, daß die Freie Demokratische Partei für das Wiedererstehen eines deutschen Reiches eintritt, also für einen dezentralisierten Einheitsstaat, der den Ländern nur gewisse Rechte geben wollte, daß außerdem ein gewisses nationales Element von dieser Partei gepflegt werden würde, Selbstverantwortung, Persönlichkeitsbewußtsein, das Nationale, der Reichsgedanke. Aber auch das Eintreten für die Soldaten durch die Freien Demokraten hat mich beeindruckt.

Gaus: Könnten Sie Ihre Vorstellung vom Nationalen etwas genauer definieren? Was ist das, was Sie vorhin den gesunden Patriotismus genannt haben?

Mende: Nach 1945 glaubte man bei uns, daß Dinge wie Volk, Vaterland, Nation auf einen supranationalen Müllhaufen gehörten. Wie oft in der Geschichte fiel man wieder von einem Extrem in das andere. Ich bin der Meinung, daß jeder Mensch in seiner Familie, in seiner Gemeinschaft gewissermaßen seinen Anfang fand, und daß er sich nicht loslösen kann von den Bindungen der Familie, von den Bindungen der Gemeinschaft, der er durch Sprache, Kultur, Landschaft und Geschichte verbunden ist. Das nenne ich Vaterland. Auch Europa wird nur – da bin ich der Meinung des Staatspräsidenten de Gaulle – in einer Zusammenfassung der Vaterländer entstehen können, nicht in einer politischen, geistigen und kulturellen Gleichschaltung. Ich glaube, daß das Bekenntnis zur eigenen Familie, das Bekenntnis zur eigenen Kulturlandschaft und zur Gemeinschaft des Volkes, in die man nun durch den Schöpfer gestellt ist, die Voraussetzung ist für eine gewisse Selbstachtung, aber auch für die Achtung anderer. Nur in der Wechselwirkung von Selbstachtung und Achtung durch andere kann eine gute Gemeinschaft gleichberechtigter Völker und Staaten entstehen.

Gaus: Herr Dr. Mende, Sie begannen Ihre politische Laufbahn also als Landesgeschäftsführer. In Ihrer Partei besonders, in der FDP, die sich immer als Honoratiorenpartei verstanden hat, und auch in den bürgerlichen Kreisen, denen Sie verbunden sind, galt die bezahlte politische Funktionärsarbeit stets als suspekt. Ich würde gern wissen, ob Sie aus diesen Gründen gelegentlich selbst innere Zweifel hegten, ob Sie wohl auf dem richtigen Wege seien, ob Sie nicht manchmal das Gefühl hatten, es sei doch ein bißchen unbürgerlich, was Sie da machen?

Mende: Das ist ein überholter Standpunkt. Das Ministergehalt, das Gehalt eines Gewerkschaftsvorsitzenden, ja, das Gehalt eines Lehrers, sie alle sind für öffentliche Arbeit gezahltes Salär. Warum soll in einer modernen Zeit nicht jemand, der sich hauptamtlich einer politischen Partei verbunden fühlt, mit der gleichen Selbstverständlichkeit sein Salär erhalten? Die modernen Parteien sind nicht mehr vergleichbar mit den Honoratiorenparteien des vorigen Jahrhunderts, das läßt der moderne Staat gar nicht zu. Es ist heute das Selbstverständlichste von der Welt. Vielleicht war ich in dieser Einstellung manchen anderen um einige Jahre voraus.

Gaus: Ich akzeptiere völlig Ihre Behauptung über die Notwendigkeit, politische Funktionäre zu haben und zu besolden, aber meine Frage ging dahin, wie Sie selbst darüber dachten. Sie haben also daraus nie innere Zweifel bezogen?

Mende: Zumal dann nicht, wenn etwa jene mir einen Vorwurf machten, von denen ich wußte, daß ihre politische Betätigung sehr stark mit Interessen ihres Berufsstandes oder gar ihres eigenen Geschäftes verbunden war. Ich habe mal ein Buch schreiben wollen – ich kam nur bis zu den Anfängen – als Antwort auf Max Webers Buch "Politik als Beruf". Da wollte ich aus den Erfahrungen der ersten zehn Jahre Bundestag schreiben "Politik als Geschäft". Es zeigt sich nämlich, daß viele Leute, die behaupten, sie seien uneigennützig, bei Gesetzgebung und Verwaltung oft sehr stark ihre Interessen vertreten, selbst in den Ausschüssen, viel mehr als mancher Berufspolitiker.

Gaus: Herr Dr. Mende, es gibt vielleicht keinen zweiten Politiker in der Bundesrepublik, über den soviel boshafte Geschichten und Meinungen umlaufen wie über Sie. Es heißt, Sie seien übergebührlich ehrgeizig, Sie seien eitel, Sie ließen sich Dauerwellen machen. Es heißt, Sie hätten eine besonders ehrgeizige Frau. Haben Sie sich von solchen boshaften Bemerkungen – mindestens am Anfang Ihrer politischen Laufbahn – gekränkt gefühlt, oder tun Sie es immer noch? Verletzt Sie so etwas?

Mende: Ja, es verletzt mich etwas dann, wenn ich den Vorwurf als absolut ungerecht empfinde. Kritik an eigenen Fehlern, nun, die nimmt man zum Anlaß, um sich zu bessern. Aber wenn man das Gefühl hat, das, was einem vorgeworfen wird, ist also absolut unwahr, dann fängt man an, sich zu ärgern. Aber ich bemühe mich nach dem Rat Konrad Adenauers, die Dinge nicht so ernst zu nehmen. Ich will Ihnen aber ein Beispiel sagen, wie man sich ärgern kann, weil man ungerecht behandelt wird. Als Untertertianer hatte ich das gleiche Haar, das ich heute auch habe …

Gaus: ... auch so grau?

Mende: Nein, so grau noch nicht ... Da kam der Studienrat, der Mathematik unterrichtete und sagte: "Bürschlein, Bürschlein, du brennst dir die Haare." Er hat mich schlecht behandelt. Vielleicht auch, weil er selbst einen Kahlkopf hatte. Vier Jahre später machte er mit uns einen Ausflug. Er sah mich zwei-, dreimal im Wasser und wieder aus dem Wasser heraus. Am späten Nachmittag sagte er: "Ich habe Ihnen Unrecht getan." Inzwischen war ich Obersekundaner geworden. „Sie brennen sich nicht die Haare, Sie haben Naturlocken.“ Von dieser Zeit an hat er mich bevorzugt, weil er offensichtlich das Gefühl hatte, daß er mich falsch behandelt hatte.
Heute sagt man: „Der Mende hat Brillantine im Haar.“ Das meinen die Kabarettisten. Ich ärgere mich nicht, ich staune nur über die Unkenntnis, denn ich habe noch nie diesen Stoff benutzt, aber ich gehe jeden Morgen unter die Dusche. Wer sein Haar jeden Morgen nass macht, bei dem liegt es auch. Das mag im Winter nicht immer angenehm sein. Der Arzt ist auch manchmal dagegen, daß man sich im Winter ohne Kopfbedeckung mit nassem Haar ins Freie begibt bei zehn oder zwanzig Grad Frost. Ich versuche jedenfalls, die Boshaftigkeiten zu ertragen. Wer sich in die Politik begibt, ja, wer sich irgendwo in die Spitze begibt, auch beim Sport, in der Kunst, in der Literatur, der muß damit rechnen, daß er Zielscheibe gerechter und auch ungerechter Angriffe ist. Das muß man hinnehmen.

Gaus: Eine weitere Frage dazu: Wie erklären Sie sich, daß gerade Sie zur Zielscheibe dieses boshaften Spottes geworden sind?

Mende: Das habe ich mir auch überlegt, und ich kann Ihnen zwei Gründe ziemlich mathematisch genau sagen. Die Freie Demokratische Partei hat etwa jeden achten Wähler für sich gewonnen bei der letzten Bundestagswahl. Sieben also waren bei CDU und SPD. Es ist doch klar, daß die CDU mich nicht loben kann, ich bin ja Konkurrent, ich habe ihr 1961 die absolute Mehrheit genommen. Es ist klar, daß die SPD mich nicht loben kann. Bei acht Menschen steht also einer auf meiner Seite nach der jetzigen Prozentzahl, sieben sind gegen mich. Wie ist das bei den Zeitungen? Ein großer Teil der deutschen Presse ist lizenziert als Partei-Zeitung, steht auf der Seite der CDU oder auf der Seite der SPD. Ich kann doch von diesen Zeitungen nicht erwarten, daß sie mich loben als den Vorsitzenden der Konkurrenzpartei. Und so ergibt sich schon aus den reinen Machtverhältnissen ...

Gaus: Ich glaube nicht, daß diese Analyse der Zeitungsverhältnisse korrekt ist.

Mende: Ein großer Teil ist doch Parteizeitung oder einer Partei nahestehend, das ist doch nicht zu leugnen. Manche anderen sind natürlich neutral und behandeln mich auch besser, aber in den Parteizeitungen der beiden anderen Parteien kann ich nicht gerade gut behandelt werden. Jedenfalls wär' das paradox, denn die sind ja nicht dazu da, daß sie für die Freien Demokraten werben. Das sind zwei, wie gesagt, schon mechanistische Gesichtspunkte. Hinzu kommt, daß ich vielleicht manchen enttäuscht habe. Mancher hat wahrscheinlich 1961 mehr Erwartungen in mich gesetzt, als ich erfüllen konnte. Was ich erst zwei Jahre später erreichen konnte, nämlich den Kanzlerwechsel zugunsten des Professors Erhard, hat mir zwei Jahre lang manchmal Spott, manchmal Hohn und manchmal Proteste eingetragen.

Gaus: Ich komme auf den Punkt noch. Vorerst zu diesem Komplex noch eine dritte Frage, Herr Minister. Glauben Sie, daß außer den Gründen, die Sie angeführt haben, auch in Ihnen selbst Schwächen, verständliche Schwächen, vorhanden sind, die Boshaftigkeiten hervorrufen könnten?

Mende: Welcher Mensch ist so vollkommen, daß er keine Angriffsflächen böte, keine Schwächen hätte? Ich trage nun mal lieber ein sauberes Hemd als eine Pferdedecke um meine Schultern. Das nennen manche schon eitel. Ich kann sie nicht hindern. Und sicher habe ich auch manche Angriffsfläche geboten durch manche Formulierungen. Ich gebe zu, ich habe manchmal auch selbst gebissen, selbst sehr boshaft andere angegriffen und durfte mich dann nicht wundern, wenn die zurückschlugen.

Gaus: Was hat Sie veranlaßt, als einer der ersten in Bonn die Kriegsauszeichnungen wieder auf diplomatischen und anderen Empfängen zu tragen?

Mende: Als der türkische Staatspräsident zum Staatsbesuch in Bonn war, ist erstmalig ein Großer Zapfenstreich mit einem Ehrenbataillon veranstaltet worden auf Schloß Augustusburg in Brühl. Das Ordensgesetz war einige Monate vorher im Bundestag verabschiedet worden, und der Bundespräsident Theodor Heuss wünschte, daß die Soldaten die Orden anlegten. Daraufhin sagte ein hoher Soldat, das sei sehr problematisch. Solange die Politiker die Orden nicht tragen würden, würden auch die Soldaten entsprechend zu-rückhaltend sein, um sich nicht erneute Vorwürfe gefallen lassen zu müssen. Und da habe ich auf Wunsch von Theodor Heuss das Ritterkreuz erstmalig bei diesem Staatsempfang in Schloß Brühl angelegt; wenn Sie wollen, als Bekenntnis zur Bundeswehr, als Bekenntnis zu einer soldatischen Tugend, die ja nicht erst seit 1939 existent ist, und nicht nur beim deutschen Volk. Schließlich ist das Eiserne Kreuz eine Tapferkeitsauszeichnung aus dem Jahr 1812/13, und Tapferkeit ist in allen Armeen der Welt eine selbstverständliche Tugend, wenn sie mit reinen Händen, an den Gesetzen des Völkerrechts festhaltend, erbracht wurde. Darum bin ich in vollem Bewußtsein dem Wunsch Theodor Heuss' nachgekommen.

Gaus: Herr Dr. Mende, Sie haben zwei Söhne und eine Tochter aus Ihrer Ehe mit Frau Margot Mende. Die Kinder sind noch klein, haben Sie dennoch Berufswünsche für Ihre Söhne?

Mende: So klein sind sie nicht. Markus, der bald vierzehn wird, ist zwei Zentimeter größer als ich. Er ist 1,76 groß und wächst mir über den Kopf. Wir haben unlängst gestritten. Er sagte, er wäre der Größte. „I am the greatest“, sagte er. „Nein, the largest“, sagte ich. Der Längste, nicht der Größte. Ich glaube, daß er eine Neigung zur Technik hat, er beschäftigt sich sehr viel mit technischen Dingen, aber die Berufswünsche werden noch wechseln.

Gaus: Aber hat der Vater Berufswünsche für seinen Sohn?

Mende: Nein, nein. Die Tochter ist elf Jahre und geht in die Sexta, malt sehr gut und ist sehr begabt in bezug auf Naturwissenschaften. Im Lateinischen fällt’s ihr etwas schwerer. Der Kleine von zwei Jahren spielt im Augenblick noch keine Rolle in dieser Frage, dafür aber eine um so größere Rolle in der Familie. Ich möchte weitgehend den Kindern ihren eigenen Weg überlassen.

Gaus: Herr Minister, was braucht ein junger Mensch heute am nötigsten, um sich in der Welt zurechtzufinden?

Mende: Er muß seine Wurzeln haben, sei es im Religiösen, sei es im Humanitären und ...

Gaus: ... im Nationalen?

Mende: Auch im Nationalen, wobei ich das Nationale nicht begrenzen möchte. Ich möchte glauben, daß mehr und mehr ein europäischer Patriotismus entstehen wird. Er muß darüber hinaus sehr aufgeschlossen sein für die wechselnden Dinge dieser Welt, er darf sich nicht dem Statischen verschreiben, dem Bestehenden, er muß dem dynamischen Prozeß der immer wieder neu sich abklärenden Dinge und neuen Entwicklungen gegenüber aufgeschlossen sein, kurzum, er muß von einem guten bildungsmäßigen und geistigen charakterlichen Fundament schöpfen können, dann wird er allen Entwicklungen entsprechen können.

Gaus: Herr Minister, Sie haben im Verlauf unseres Gesprächs den Nutzen und Wert des Nationalen zu begründen versucht. Sie haben es jetzt noch einmal getan, sind dann aber gleich weitergegangen und haben gesagt, auch ein europäischer Patriotismus werde sich entwickeln. Liegt darin nicht ein bißchen der Versuch, alle möglichen Auffassungen, die umlaufen, zu befriedigen durch die Formulierungen, die man wählt?

Mende: Nein, sondern es ist die Erkenntnis aus der veränderten Zeit. Schauen Sie, die Technik hat erheblich die Strategie verändert, und die Strategie verändert die Politik. Die Räume schrumpfen. Was heute noch in Europa Grenzen genannt wird, wird möglicherweise in fünfzehn Jahren eine Naht sein einer europäischen Gemeinsamkeit, eines europäischen Mantels. Die Entwicklung in Asien birgt doch Aspekte, die an Oswald Spengler erinnern. Europa wird mehr und mehr zusammenrücken. Das ist meine Überzeugung. Und wenn man die Technik in Beziehung setzt zu der Beziehung der Völker untereinander, wird sich aus der Gemeinschaft der Nationen das Europa der Vaterländer ergeben, auch mit Polen, auch mit Ungarn, auch mit Rumänien. Dort sind noch Ansätze einer solchen Bewegung erkennbar. Ich bin ja ein Anhänger des Staatspräsidenten de Gaulle in dieser Entwicklung zu einem größeren Europa der Vaterländer.

Gaus: Kritiker sagen gelegentlich, die Partei, die Sie führen, die FDP, sei eigentlich überflüssig, denn der Liberalismus, der von der FDP vertreten wird, sei inzwischen auch in den großen Parteien zu Hause. Damit werde die dritte Partei nur noch zum Zünglein an der Waage, das wegen seines Opportunismus eigentlich ein Ärgernis ist. Was ist Ihre Antwort auf einen solchen Angriff?

Mende: Ich will mit einem Gegenbeispiel antworten. Das ist, als ob man sagt: Nachdem die Menschen getauft sind und damit der Kirche und dem Christentum gewonnen wurden, sei das Christentum überflüssig. Daß der Liberalismus mehr und mehr rezipiert wird, auch von den anderen Parteien, das kann doch nicht bedeuten, daß damit der Liberalismus überflüssig geworden ist. Die Freie Demokratische Partei hat nach wie vor als Vertreterin des politischen Liberalismus ein Wächteramt für den Freiheitsgedanken. Die Gefahren, die der Freiheit heute drohen, sind andere als vor hundert Jahren. Sie drohen von der modernen Massengesellschaft, von den Massenmedien, von einer immer stärkeren Industrialisierung unseres Lebens. Hier bleibt die zeitlose Aufgabe des Liberalismus, Freiheit, Recht, Menschenwürde, aber auch Selbstverantwortung zu bewahren und zu fördern. Der Liberalismus hat die zeitlose Aufgabe, gegenüber allen Gefahren für die Freiheit die Antithese zu bilden und für die Erziehung der Menschen zur Selbstverantwortung Sorge zu tragen, insbesondere dort, wo der Staat glaubt, immer stärker die Verantwortung für die Menschen übernehmen zu können, oder gar eine Partei oder, was noch schlimmer ist, etwa ein Massenverband.

Gaus: Herr Dr. Mende, könnte es sein, daß der Spott, dem Sie gelegentlich ausgesetzt sind – im Kreise der Kabarettisten zum Beispiel –, sich gerade an solchen Formulierungen entzündet, weil diese Formulierungen stets so komplett sind? Weil sie ein bißchen den Geschmack des Patenten haben? Weil alles gelöst ist und alles beantwortet?

Mende: Die Kabarettisten haben es natürlich leicht, insbesondere bei uns. Überhaupt haben es alle leicht, die bei uns über die Freiheit spotten, denn bei uns ist die Freiheit etwas Selbstverständliches. Und das ist das Schwierige an der Freiheit: Man ermißt ihren Wert erst, wenn man sie verloren hat. In Mitteldeutschland ist das Gespür für das, was ich sage, viel größer als in Westdeutschland. Freiheit läßt sich schlecht popularisieren. Darin liegt ein Dilemma für den Liberalismus.

Gaus: Sie haben vorhin schon selbst den Punkt genannt, der im Zusammenhang mit Ihrem Namen am heftigsten umstritten war, und zwar die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 1961. Damals haben Sie kurz nach der Wahl erklärt, die Freien Demokraten würden nicht wieder in ein Kabinett unter Adenauer gehen. Kurze Zeit danach sind die Freien Demokraten, wenn auch ohne Sie, in das Adenauer-Kabinett eingetreten. Man hat gesagt, Mende sei umgefallen. Ich habe dazu einige Fragen. Zunächst: Warum haben Sie eine so überpointierte Anti-Adenauer-Erklärung überhaupt abgegeben? Neigen Sie dazu, in bestimmten Situationen allzu viel zu sagen?

Mende: Das mag sein. Hinzu kommt, daß man auch veranlaßt ist, häufiger zu reden als einem lieb ist, weil zuviel Verpflichtungen einen zum Reden manchmal auch zwingen. Aber ich habe hier bewußt in der letzten Woche vor der Wahl 1961 zugespitzt. Warum? Weil ich wußte, daß viele Wählerinnen und Wähler einen Unmut über den Kanzler Adenauer hatten. Und diese Wähler wollte ich auf meine Seite ziehen.

Gaus: Gut, aber Sie haben es nach der Wahl, als das Rennen gelaufen war, noch einmal gesagt.

Mende: Wir haben das ja nicht nur aus taktischen Gründen gesagt, sondern es war uns ernst darum, an der Spitze einen Wechsel herbeizuführen. Es war allgemeiner Parteiwunsch, weil wir glaubten, daß es an der Zeit war, den im 86. Lebensjahr stehenden Kanzler Adenauer durch Ludwig Erhard zu ersetzen. Was erwünscht ist, ist aber nicht immer erreichbar. Außerdem haben meine Bundesgenossen mich sitzen lassen, denn es war ja nicht nur mein Gedanke, einen Wechsel herbeizuführen, es gab auch bei den anderen, mit mir verbündeten Gruppierungen diesen Wunsch und diese Vorstellung. Am Ende mußte ein Kompromiß geschlossen werden. Das Wort »umfallen« ist etwas bösartig, denn es diffamiert ein Lebenselement der Demokratie, nämlich den Kompromiß. Ist etwa Chruschtschow umgefallen, als er in der Kuba-Krise einlenkte und es nicht zum Zusammenstoß kam? Wird auf Zypern jemand umfallen müssen, Makarios, Inönü oder Papandreou, wenn es keinen Krieg geben soll?

Gaus: Ich kann den Vergleich nicht ganz akzeptieren.

Mende: Warum? Kompromisse sind das Lebenselement ...

Gaus: Der Abschluß des Kompromisses wäre weniger spektakulär gewesen und weniger kritisiert worden, wenn Sie nicht vorher einen solchen Kompromiß für ausgeschlossen erklärt hätten. Sie haben vorher gesagt: Wir werden keinen Kompromiß schließen mit der CDU über Adenauers neue Kanzlerschaft. Erst danach haben Sie einen Kompromiß geschlossen.

Mende: Ich muß Sie berichtigen, es tut mir sehr Leid. Ich habe für mich selbst erklärt, ich würde in einem Kabinett Adenauer kein Ministeramt übernehmen. Das schloß doch implizit ein, daß meine Partei es möglicherweise tun könnte. Ich habe immer nur mich gebunden.

Gaus: Die Formulierung in jener Pressekonferenz nach der Wahl war doch wohl so, daß die Partei sich ebenfalls gebunden fühlen mußte.

Mende: Die Partei hat sich erst 48 Stunden nach der Wahl durch einen einstimmigen Beschluß von Bundesvorstand und Fraktion gebunden.

Gaus: Darüber rede ich.

Mende: Das stimmt, aber vor der Wahl hatte nur ich mich absolut gebunden.

Gaus: Ich rede über die Erklärung nach der Wahl.

Mende: Diese Erklärung nach der Wahl ist nach einer sechsstündigen Aussprache einstimmig so gefaßt worden in der Hoffnung, daß unsere Verbündeten zu ihren Zusagen stehen und der Kandidat bereit ist zu kandidieren. Diese Prämissen sind leider dann entfallen.

Gaus: Eine weitere Frage zu dem, was Sie den notwendigen Kompromiß nach der Wahl 1961 nennen: Wer Sie nach diesen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit beobachten konnte, hatte das Gefühl, daß Sie einen Teil Ihrer Selbstsicherheit vorübergehend verloren hatten. Ist das richtig, hat Sie der Vorwurf, umgefallen zu sein, schwer getroffen?

Mende: Ich möchte durchaus feststellen, daß mich ein gewisses Gefühl der Unsicherheit befiel. Vor allem, weil ich mich nicht mehr zur Wehr setzen konnte. Der Kavalier spricht über manche Dinge nicht, und auch der Politiker Mende war nicht in der Lage, alle jene gebrochenen Zusagen und sonstigen Angebote zu nennen, um sich zu entlasten. Er mußte schweigen. Und das kann ja nicht zum Wohlbefinden beitragen, wenn man nicht einmal sagen kann, was zur Entlastung hätte dienen können.

Gaus: Inzwischen haben Sie einige jener Leute genannt, von denen Sie meinen, sie hätten seinerzeit die Zusagen, Sie beim Sturz Adenauers zu unterstützen, nicht eingehalten. Zum Beispiel haben Sie verschiedentlich von Franz Josef Strauß gesprochen. In der letzten Zeit haben Sie ihn mehrfach angegriffen. Worauf zielen Ihre Angriffe?

Mende: Also „Sturz Adenauers“ scheint mir zu hart zu sein. Ich wollte sagen Kanzlerwechsel, ehrenwerter Wechsel im Kanzleramt, das ist ja inzwischen erfolgt. Was die Person von Franz Josef Strauß anbetrifft, so richten sich meine Angriffe nicht gegen die Person, sondern gegen die politisch-sachlichen Äußerungen von Franz Josef Strauß, besonders in der Frage der Außenpolitik der Bundesregierung. Ich nehme den Außenminister der Bundesregierung in Schutz vor den nach meiner Überzeugung unqualifizierten Angriffen von Franz Josef Strauß. Denken Sie nur an die Beurteilung des Atomtestabkommens durch Franz Josef Strauß und an andere, auch jetzt in Amerika gemachte Äußerungen, die nach meiner Überzeugung nicht dazu dienen, die Stellung der Bundesregierung im Ausland zu verbessern.

Gaus: Herr Dr. Mende, wir haben von dem vorübergehenden Verlust an Sicherheit gesprochen, den Sie erlitten haben nach den Auseinandersetzungen über die neuerliche Kanzlerschaft Adenauers. Das gibt das Stichwort „Selbstsicherheit“. Können Sie mir sagen, welche Qualitäten in Ihren Augen für einen Politiker am wichtigsten sind?

Mende: Ich möchte das – da es ja heute moderner Stil ist – etwas zugespitzt sagen. Es gehört zu einem Politiker, des Morgens in den Spiegel schauen zu können, ohne weggucken zu müssen, und des Nachts ruhig schlafen zu können, nach dem Motto: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Das ist nach meiner Überzeugung die Grundlage des Selbstvertrauens und des Selbstbewußtseins. Aber darüber hinaus, möchte ich sagen mit Max Weber, gehören zu einem Politiker die Leidenschaft, ein erkanntes Ziel anzustreben nüchterner Realitätssinn, die Möglichkeiten einzuschätzen, und der Wille, andere zu überzeugen oder auf andere zu wirken. Also: Neben dem guten Gewissen und einer eigenen sauberen, vorbildlichen Haltung braucht der Politiker Idealismus und die Leidenschaft, das Erkannte auch gegenüber Widerständen zu erreichen und nicht vor Schwierigkeiten zu kapitulieren.

Gaus: Wie viel Befriedigung kann ein Politiker dieser Art aus seinem Agieren für sich selber beziehen? Ist es für Sie reizvoll, als Redner vor die Öffentlichkeit zu treten?

Mende: Es ist für jeden Menschen, der zu anderen spricht, reizvoll zu sehen, daß die anderen die Gedanken aufnehmen, prüfen, daß es gelingt, sie zu überzeugen, sie zu gewinnen. Was einem Prediger in der Kirche, einem Künstler auf der Bühne dieses Selbstgefühl verschafft, auf andere zu wirken, das ist auch bei einem Politiker, bei einem Redner selbstverständlich. Ich möchte aber sagen, höchstes Glück gibt einem Politiker das Gefühl, etwas zugunsten eines Menschen, einer Gemeinschaft erreicht zu haben. Befreiung aus Gefangenschaft, Hilfe für Menschen in sozialer Not, Korrektur politischer Entwicklung, Verhinderung möglicher Konflikte. Das Bewußtsein, etwas beigetragen zu haben zu einer guten Entwicklung der Gemeinschaft seines Volkes oder auch der europäischen Gemeinschaft, das gibt ein inneres Selbstgefühl.

Gaus: Sie haben einmal von sich selber gesagt: „Mein Lebensbuch kann ich überall aufschlagen, und es wird nirgends ein wunder Punkt sein.“ Es gehe Ihnen darum, den anderen ein Bild zu geben, wie es eigentlich sein müsse. Ich finde dieses als Selbsteinschätzung ein sehr kühnes Wort. Woher nehmen Sie die Souveränität und Ruhe, sich selbst so zu beurteilen?

Mende: Aus der Kenntnis meines eigenen Lebensweges. Ich habe, als ich zum ersten Mal mit Herrn Mikojan zusammentraf, 1958 in Bonn, ihm gesagt, daß ich jeden Weg von Grodno über Minsk, Smolensk, Wjasma bis vor Moskau und zurück über Orel, Brjansk, die Pripjet-Sümpfe bis Ostpreußen gehen könnte mit ihm, und in keiner Ortschaft, in der meine Soldaten lagen, würde sich etwas gegen mich erheben. Im Gegenteil, vielleicht würden sie wieder mit Salz und Brot kommen. Herr Mikojan hat dazu geschwiegen. Ich will Ihnen sagen, ich habe es als Soldat immer mit dem Grundsatz gehalten, nichts von den anderen zu verlangen, was ich nicht selbst jederzeit von mir selbst verlangt hätte und ihnen vorgemacht hätte. Ich habe als Politiker so gehandelt, ich gehöre zu den wenigen Politikern des Deutschen Bundestages, die fast 15 Jahre im Haus sitzen, die weder einem Aufsichtsrat angehören noch eine Aktie besitzen, noch sonst irgendwie in dieser Zeit in bezug auf die Steuerpflicht sich nennenswert verändert haben. Sehen Sie, das gibt mir das Recht. Dossiers, die hat weder Herr Ulbricht, noch haben sie andere. Das gibt mir mein Selbstvertrauen und mein Selbstbewußtsein. Natürlich habe ich menschliche Schwächen, aber ich kann, wie viele andere hoffentlich auch, das über mich sagen, und ich muß es ja wohl am besten wissen.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Dr. Mende. Welcher Politiker ist in Ihren Augen Ihr wichtigster Lehrmeister gewesen?

Mende: Ich möchte Theodor Heuss als meinen Lehrmeister nennen, auch als meinen Mahner, denn Theodor Heuss hat in den ersten Jahren manches Ungestüm bei mir gebremst, mir manchen guten Rat gegeben, mich auf manchen Fehler, auch auf das vorschnelle Reden, aufmerksam gemacht. Ich habe vieles von ihm gelesen, ich habe ihn ja noch auf seinem Krankenbett sprechen können, und ich möchte in diesem geistvollen, klugen und so überlegenen Menschen das Ideal eines Liberalen sehen.