Sendung vom 13.05.1998 - Peymann, Claus

Günter Gaus im Gespräch mit Claus Peymann

Wer an der Kunst spart, spart an der eigenen Zukunft

Claus Peymann, geboren 1937 in Bremen, einer der bedeutendsten Theatermacher im deutschsprachigen Raum. Als Regisseur hochgelobt und viel getadelt. Über Theater in Frankfurt am Main, in Westberlin „Die Schaubühne“, in Stuttgart und Bochum, kam Peymann 1986 als Direktor an das traditionsreiche Wiener Burgtheater, wo sich eine Kette von großen Erfolgen und bitteren Fehden entwickelte. Im kommenden Jahr nun soll Peymann künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles werden, des einstigen weltberühmten Theaters von Bert Brecht. Peymann ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.

Gaus: Ihre Berufung zum Künstlerischen Direktor des Theaters am Schiffbauerdamm, des sogenannten Berliner Ensembles, Herr Peymann: Verstehen Sie diese Berufung als den Auftrag, ein neues deutsches Nationaltheater für die Berliner Republik, Nachfolgestaat der alten Bonner Republik, zu begründen?

Peymann: Wir wollen etwas aufnehmen, was zu diesem Haus passt und zu den Säulenheiligen dieses Hauses, Bert Brecht und Heiner Müller. Wir wollen die neue Literatur, die neue Nationalliteratur, die zeitgenössische deutschsprachige Literatur in den Mittelpunkt der Arbeit stellen. Wenn Sie so wollen, könnte das ein Beitrag zu einem Nationaltheater sein. Als Raum, als Gebäude ist das Haus aber – glaube ich – anders proportioniert. Das Nationaltheater soll dann vielleicht gern in seinem ganzen pflegerischen und sonstigen Aspekt am Deutschen Theater von Thomas Langhoff sein. Das heißt auch schon so. Das Berliner Ensemble sollte unruhiger sein, lebendiger, farbiger, großstädtischer, politischer. Die neuen Autoren, die Zeitgenossen, sollen mit zum Ensemble gehören. Der kämpferische und politische, strategische, utopische Teil etwa Brechts soll unbedingt in die Arbeit einfließen. Nicht in einer musealen Brechtpflege oder Müllerpflege, was noch perverser wäre, sondern wirklich in Neuem. Das wäre ein Beitrag zu diesem wahrscheinlich nötigen und zu findenden Begriff eines Nationaltheaters einer Hauptstadt.

Gaus: Werden Sie mit den Brecht-Erben zurechtkommen?

Peymann: Ich habe einen freundlichen Brief geschrieben. Ich habe mit Brecht überhaupt keine Probleme. In meinen früheren Direktionen wurde immer viel Brecht gespielt. In Bochum wurde Müller am meisten uraufgeführt, kein deutschsprachiges Theater konnte mehr aufweisen. Das wird auf eine kreative und Brecht ganz ernst nehmende Art und Weise auch mit den Erben wohl funktionieren, dass wir den Brecht dann spielen, wenn wir ihn gebrauchen können. Wenn er politisch, ästhetisch, vor allem aber politisch einen Sinn hat, ein wirkliches Material gibt.

Gaus: Ihre Antwort auf meine erste Frage: Wollen Sie das Nationaltheater begründen? war inhaltsreich und diplomatisch zugleich. Nun ist man von Ihnen Diplomatie, zumindest bei Interviews, nicht gewöhnt. Haben Sie sich vorgenommen, in Berlin diplomatischer zu sein als in Wien?

Peymann: Ich sollte es mir vielleicht vornehmen. Aber es ist eh sinnlos, weil ich so in den Tag hineinlebe, dass ich meinen Erregungen oder meinen Empörungen oder meiner Wut, die sich auch leicht an politischen Ereignissen, politischen Vorkommnissen oder gesellschaftlichen Prozessen entfesselt, gleich Luft mache Es ist vielleicht eine meiner Begabungen als Polemiker. Das kann ich wahrscheinlich gar nicht ablegen. Das ist ein Charakterzug, obwohl ich als Hanseat eigentlich eher betulich sein sollte, besinnlich. Das ist vielleicht meine Fähigkeit, auch ein Theater unter Umständen zum Thema einer Stadt oder wie in Österreich zum Thema eines Landes zu machen. Ich finde, ein Theater, was nicht wirklich eine Stadt polarisiert und sich nicht selber zum Thema macht durch seine Aufführungen, durch seine Existenz, aber vielleicht auch durch seine Leitungsfiguren, auch durch seine Schauspieler, durch seine Stars – ein solches Theater schläft. Wir müssen zeigen, dass wir wach sind.

Gaus: Schlafen die anderen Theater?

Peymann: Das wäre jetzt vielleicht nicht fair. Es ist das Phänomen, dass es in Berlin vor der Mauer zwei tolle Theaterstädte gab. Das DDR-Theater hatte oft die Nase vorn, war – nicht nur im Berliner Ensemble, auch in der Volksbühne mit Besson, auch im Deutschen Theater mit Langhoff – absolut Metropole, Zentrum. Aber auch das Westberliner Theater, die Neue Schaubühne, das gute Schiller Theater, die lebendige Volksbühne von Piscator, das war das Tolle. Jetzt ist die Mauer gefallen, und beide Hälften sind etwas grau geworden. Weil: Diese Stadt hat ja im Moment vielleicht auch andere Sorgen als Kunst.

Gaus: Sie nehmen sich schon wieder zurück.

Peymann: Nein, ich versuche nur genau zu sein und die Realität zu sehen. Als die Mauer fiel, gingen viele nach Berlin und sagten: So, jetzt fangen die 20er Jahre wieder an. Morgen sind die 20er Jahre wieder angesagt. Blödsinn, habe ich gesagt. Die müssen Straßen bauen, Wohnungen bauen, da werden ganz andere soziale Probleme auftreten.
Jetzt ist die Stadt auf dem Wege, sich vielleicht von einer Häuserwüste wieder in eine Metropole zurückzufinden. Das ist für Theater interessant. Das ist keine diplomatische Frage, das ist eher Realitätssinn.

Gaus: Ist das der Grund, der Sie nach Berlin treibt?

Peymann: In Berlin geht die Post ab. Da fallen die Entscheidungen: Wird das wieder so ein breiter preußischer Arsch sein, dieses Manhattan, was sich die Politik, die Wirtschaft dort mitten in Berlin bauen? Wird das wieder ein preußisch-rheinischer Alp, oder gleicht diese Stadt durch Lebendigkeit, durch Theaterszene, auch durch politische Prozesse aus, setzt dort auch Kontrolle dieser neuen Macht ein? Deutschland ist sehr groß geworden. Das sieht man vielleicht von Österreich leichter, die Deutschen sehen das schon fast nicht mehr. Gut, der Kohl ist harmlos, aber es sind ja blitzartig ganz andere Konstellationen vorstellbar.

Gaus: Ist es beunruhigend groß geworden?

Peymann: Von Österreich gesehen, überhaupt von außen gesehen, ja. Das ist mein Vorteil aus dieser freiwilligen Emigration in Wien, dass ich auf dieses Land ganz anders schaue.

Gaus: Hätte man Ihnen den Vertrag an der Burg in Wien verlängert?

Peymann: Ich habe selber vorher gesagt: Ich stehe nicht mehr zur Verfügung. Das ist mir nie leicht gefallen. Ich wär vielleicht ganz gern geblieben. Wir haben dort einen neuen Bundeskanzler, den Bundeskanzler Klima, der zugleich Kunstminister ist. Ich habe das so eingeschätzt, dass er wahrscheinlich nicht wollte. Er wollte dann doch noch ein Jahr oder zwei; ich habe dann gesagt: nein. Ich finde sie auch gut, diese dreizehn Jahre Wien. Als diese Entscheidung dann raus war, ist dieser Aufbruch natürlich sofort als Glück empfunden worden. Jetzt finde ich, dass ich vielleicht sogar in Berlin gebraucht werden kann.

Gaus: Kenner der Berliner Politik- und Theaterszene sagen: Claus Peymann wird sich zurücksehnen nach dem Wiener Burgtheater. Ein Riesenetat, sagen die Kenner der Berliner Szene, ein bis zur Feindschaft engagiertes Publikum, was ja mehr ist als ein desinteressiertes, ein Bundeskanzler, der der Kunstminister sein will und ist und ins Theater geht. Werden Sie sich vielleicht zurücksehnen?

Peymann: Das ist nicht meine Natur, zurückzuschauen. Mein Temperament orientiert sich eigentlich immer an den Tag, an der Aufführung. Die Stadt finde ich nebensächlich. Ich schaue mir auch ungern Aufführungen von mir von früher an.

Gaus: Sind Sie ein Gegenwartsmensch?

Peymann: Ich würde das wahrscheinlich so sagen. Nicht mal wirklich planmäßig für die Zukunft, was vielleicht verhängnisvoll ist, gerade in bezug auf diesen Wechsel. Mit dem Geld haben Sie sicher Recht. Das Burgtheater ist wirklich sehr gut ausgestattet. Die Österreicher finden auch ihre Identität, ihre nationale Identität in der Kunst – in den Philharmonikern, in der Staatsoper, in den Wiener Sängerknaben und eben im Burgtheater.

Gaus: Und Lipizza.

Peymann: Und Lipizza nicht zu vergessen. In Berlin ist Theater jetzt nicht so sehr Thema. Ich merke das immer an den legendären Taxifahrern, die die Theater gar nicht kennen, die mich aber jetzt schon ansprechen. Und es sprechen mich auf der Straße Leute an. Wenn die alle ins Berliner Ensemble kommen, sind wir die Sorgen los. Aber ich glaube – jetzt mal ernsthaft –, dass man an irgendeinem Punkt auch nachweisen und den Politikern auf die Sprünge helfen muss, um zu begreifen, dass Hauptstadt auch heißt zu führen. Damit meine ich nicht, dass man nicht auch in München, in Hamburg, in Stuttgart, in Köln oder sonst wo besseres Theater machen kann und darf als in Berlin. Das war übrigens früher auch so. Der Falkenberg war ganz toll in München. Die Berliner Politiker müssen lernen, dass sie diese Theater nicht einfach Kaputtsparen können. Das muss passieren, und das ist im BE jetzt Vorsatz.

Gaus: Der Theaterdirektor Claus Peymann als Politik- und Volkserzieher?

Peymann: Warum sollen die Theater nicht mal Kanzel spielen? Das waren doch tolle, exklusive Forderungen, die die Klassiker aufgestellt haben für Schönheit, Kunst, Wahrheit. Lessing hat gesagt: Die alte Kanzel des Theaters will er wieder betreten mit dem Nathan. Warum nicht? Das Theater kann Briefe schicken, kann Botschaften rausschicken. Ich glaube, dass die Menschen das suchen und wollen. Viele in der Politik geben keine Utopien mehr ab, stellen keine Fragen mehr und geben auch keine Antworten mehr. Nicht, dass das Theater Antworten geben könnte oder sollte. Aber es kann Geheimnisse vermitteln, es kann den Menschen in einer ganz anderen Weise dienen als nur in der Verteilung des Sozialproduktes. Es kann dann aber auch ganz konkrete Probleme aufgreifen: Ängste vor der Arbeitslosigkeit, Existenzängste, Lebensängste. Das Theater kann sehr viel dazu beitragen, dass die Menschen ein anderes Gleichgewicht finden. Theater ist auch eine Art Laboratorium der Zukunft. Und wer an den Theatern, an der Kunst spart, spart an der eigenen Zukunft. Eine Gesellschaft, die sich nur noch einbetoniert, die nur noch über die Verteilung des Mehrwerts streitet, ist eine Katastrophe.

Gaus: Sind Sie in Ihren Beruf verliebt?

Peymann: Wahrscheinlich. Jetzt lächele ich schon fast und versuche es zu verbergen.

Gaus: Soll das Theater eine moralische Anstalt sein?

Peymann: Es kann gar nicht anders als das zu sein. Selbst in Zeiten, in denen der Zynismus überwiegt, wo man sagen könnte: Zynismus ist vielleicht ein Widerspruch. Aber wir müssen vielleicht lernen, dass das geschrieene Nein durch die Bühne, die Verweigerung oder der Zynismus auch eine zulässige Reaktion sind auf bestimmte Prozesse.

Gaus: Zur Person Claus Peymann. Geboren am 7. Juni 1937 in Bremen als Sohn eines Studienrats, der als Obersturmbannführer der SA ein großer Anhänger des Nationalsozialismus war. Sind Sie auch von einem Vater-Sohn-Konflikt geprägt worden, Herr Peymann?

Peymann: Zumindest bin ich immun, was den Krieg angeht. Das ist vielleicht die Chance, die eine solche Konstellation hervorbringt. Also mit Krieg kann man mir nicht mehr kommen. Man kann mir auch nicht mit einer Armee kommen und diesem ganzen Brimborium. Wir haben mit der Magermilch der Nachkriegsjahre den Pazifismus aufgenommen, auch einen falschen Nationalismus. So wie die Adenauer-Zeit, in der ich wachgeworden bin, ein restaurativer Abschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik war, war es vielleicht in der Ulbricht-Zeit in der DDR: Die Befreier wurden Besatzer, die Regimes waren eingesetzt. So hat sich aus dieser Empörung über die Rückkehr der Wehrmacht, über die Rückkehr der alten Figuren wie Seebohm, Globke – das sind ja längst historische Namen, das ist aber leider die Prägung meiner Generation ...

Gaus: ... die Restauration.

Peymann: Das war eine Restaurationszeit. Das erklärt viel über unser politisches Denken, das auf jeden Fall pazifistisch war, demokratisch und antinationalistisch. Daraus erklärt sich dann die sogenannte legendäre Zeit der 68er, zu denen ich zweifelsohne gehöre, die jetzt in der Rückschau falsch gesehen werden. Die ehemaligen RAF-Leute werden heute als nette Bürger dargestellt. Das waren sie nicht. Sie waren auch nicht die Verbrecher, als die man sie damals charakterisierte. Sie waren der Versuch, gegen den Krieg aufzustehen. Nämlich gegen den amerikanischen Vietnam-Krieg, den man als totales Unrecht empfand, und er war es ja auch: sie haben ja Recht behalten, inzwischen ist jedem klar, dass der Vietnam-Krieg falsch war. Das war der Schauplatz der Auseinandersetzung mit der wiederkommenden Vergangenheit und mit den Befreiern, die Besatzer geworden waren. Es war auch ein emanzipatorischer Prozess, dessen Parallelen – glaube ich – in der DDR genauso zu finden sind. Dieser Aufbruch, der dann für einige in die Politik geführt hat, für einige ins Theater und in die Literatur, und für einige in den Untergrund. Das ist die breite Palette dieser Befreiung von den Vätern und von dem Versuch, die Restauration abzuschlagen. Eine tolle Geschichte eigentlich, die man jetzt teilweise falsch sieht. Man müsste es wirklich begreifen – aber Geschichte lässt sich so schwer vermitteln. Ich kann nicht einmal mein Bild von der Geschichte an meinen Sohn vermitteln. Wir können nicht mal die Schrecken des Krieges, die Angst vor der Wehrmacht usw., nicht mal dieses Gefühl können wir an ihn vermitteln.

Gaus: Kann das das Theater?

Peymann: Das Theater kämpft. Das Theater kann sich nicht von der Gesellschaft entfernen, wir sind immer auch Spiegel. Wir sind immer genauso schlecht und genauso gut, wie unser Verhältnis zur jeweiligen Gesellschaft ist. Es gibt satte, saturierte Gruppierungen, es gibt aufbrechende, suchende, zerstörerische Prozesse, es gibt auch erhaltende, behutsame Prozesse. Das Theater ist immer abhängig von dem, was in der Gesellschaft passiert. Auch unter Umständen in einem subversiv oppositionellen Verhältnis dazu.

Gaus: Aber es kann auch der Gesellschaft den Spiegel so vors Gesicht halten, dass die Gesellschaft erschrickt und innehält?

Peymann: Das muss es. Es kann sogar den Skandal hervorrufen. Nicht mit Vorsatz, aber manchmal ist das Aussprechen einer Wahrheit so schmerzhaft, dass alle aufschreien müssen. Wir haben das einmal in Wien erlebt mit dem „Heldenplatz“ von Thomas Bernhard. Da ist wirklich ein ganzes Land aufgestanden gegen ein Stück, und wir haben gesiegt. Wir haben gewonnen, wir haben das Stück durchgesetzt. Der Bernhard, die Schauspieler der Bühne und ich, das Theater.

Gaus: Das ist ein Stück über das andauernd Faschistische in Österreich?

Peymann: Ja, die österreichische Seele mit der ganzen grotesken Überzeichnung, wie es vielleicht bis zu diesem Grad auch Heiner Müller gemacht hat und vielleicht hätte schreiben können, hätte ihn der Tod nicht weggerissen. Da hat sich doch gezeigt, dass Theater für einen Moment ein ganzes Land verändern kann.

Gaus: Können Sie ein Fanatiker sein als Theatermacher?

Peymann: Ja, sicher.

Gaus: Claus Peymann macht als Student erste Theatererfahrungen mit der Studiobühne in Hamburg. Danach beginnt eine große Karriere als Regisseur, Schauspieldirektor, über Frankfurt am Main, Westberlin – Schaubühne am Halleschen Ufer, Stuttgart, Bochum, bis zum traditionsreichen Burgtheater in Wien, das Sie, Herr Peymann, seit 1986 als heftig gescholtener und hoch gefeierter Chef leiteten. Was hat Sie zum Theater gebracht?

Peymann: Vielleicht hätte ich lieber geschrieben, wenn ich das geschafft hätte, einsam vor der Schreibmaschine zu sitzen und Novellenfiguren oder Figuren eines Theaterstücks oder Romans selber zu erfinden. Dann war diese Schneide: Werde ich jetzt Journalist – der Romanschriftsteller in seiner oberflächlichsten Ausprägung, aber auch aktuellsten. Dann bin ich reingerutscht ins Theater, da gab es das Familiäre und weniger die Einsamkeit, weil Sie ja ständig mit Leuten zu tun haben. Wahrscheinlich bin ich als Zwilling ein äußerlicher und nach Kontakten und Zuwendungen gierender Typ. Ich war immer jemand, der Gesellschaft gesucht hat. Vielleicht auch aus Schüchternheit. Im Theater gibt es übrigens viele Schüchterne. Es gibt kaum einen Verein, wo so viele schüchterne Menschen zusammen sind, obwohl das verblüfft. Wenn Sie Schauspieler zur Probe gehen sehen in irgendwelchen unauffälligen Gewändern, und dann hauen sie sich die Perücken drauf und die Kronen, die Plüschröcke, und sind plötzlich andere Menschen.

Gaus: Möchten die sich verbergen wollen?

Peymann: Ich glaube schon.

Gaus: Kehren wir zurück: Was hat Sie zum Theater gebracht? Dieses „Eigentlich hätte ich lieber geschrieben“ – ist Schreiben die höhere Kunst für Sie?

Peymann: Wahrscheinlich. Ich gehöre zu diesen etwas konservativen Theaterleuten, die sich in den Dienst der Dichtung stellen, unter Umständen der Person der Dichter. Das ist die Spur, die ich gelegt habe. Diese Spur durch das Theater von heute. Ausgangspunkte sind immer diese Texte. Ohne diese Literatur, ob das nun Molière oder Shakespeare ist oder die großen Deutschen, die Weimarer Klassik oder Brecht, Müller – ohne sie geht es nicht.

Gaus: Schauspieler sollte es nie sein?

Peymann: Nein. Ich habe ganz wenig gespielt, nur im Notfall, wenn irgendein Schauspieler mit dem Flugzeug nicht runterkam und der Lappen hochgehen musste, dann bin ich auch mal auf die Bühne gegangen, schweißnass, durch die Brille kaum den Text mehr lesen könnend. Das ist also eher das Menetekel, der Extremfall. Die Schauspieler sind mir auch außerhalb der Probe fremd. Ich habe meine Freunde woanders gesucht. Ich war sehr eng mit Curt Bois befreundet, und meine Weggenossen und Kombattanten sind eher die Schriftsteller. Das ist unabhängig vom Theater. Ich verführe auch zum Theater. Zum Beispiel die Christa Brandsmeier, von der ich gerne ein Theaterstück spielen möchte, aber natürlich auch Handke, Braasch, Botho Strauß früher, Thomas Bernhard.

Gaus: Botho Strauß – warum früher?

Peymann: Irgendwann haben wir uns entfernt. Ich habe sein erstes Stück gemacht in Stuttgart, habe seine ersten großen Stücke durchgesetzt. Irgendwann ist ein falscher Zungenschlag gefallen. Wobei ich ihn immer verstanden habe in dieser großen Wertsuche, in der sich alle befinden, nachdem der Sozialismus irgendwie so weggeblasen wurde, und der Westen das Gefühl hatte: Wir haben gesiegt. Was natürlich ein tragischer Irrtum ist, weil wir natürlich genauso einstürzen und dabei sind – in jeder Beziehung: politisch, moralisch, ästhetisch usw. Das ist ja nicht nur ein einseitiger Zusammenfall gewesen. Da ist diese große Wertsuche, die Sinnsuche aufgebrochen. Da gibt es diese Zyniker, dazu gehört sicher Müller. Strauß hat – ähnlich wie Handke – versucht, sich rückzubesinnen auf tradierte Werte, wie übrigens auch die französischen Revolutionäre. Die haben sich um die Utopie auch gedrückt. Es ging plötzlich alles auf Senatoren und was weiß ich zurück. So ist auch Botho Strauß in dieser Erkenntnis der Leere und der neuen Sinnsuche dabei, sich eine Konfiguration des Sinns aufzubauen.

Gaus: Die aber nicht Ihre ist?

Peymann: Das will ich gar nicht mal so sagen. Da fallen dann plötzlich Begriffe oder Themen, über die Armee, über den Soldaten, über Ordnung...

Gaus: Was dem 68er wider die Natur geht?

Peymann: Ich verstehe ihn gut. Ich weiß auch, dass die Rezepte von ’68 nicht mehr taugen. Wir hatten es immer so furchtbar leicht als Sozialisten, dass wir einen Punkt hatten, von dem aus wir die Welt verurteilen konnten. Das heißt ja nicht, dass der Sozialismus jetzt insgesamt in der Schublade liegt, oder: er ist in der Schublade, aber er wird wiederkommen, weil er wirklich ein großes humanistisches Ideal vertritt. Mit dem Zusammenkrachen des kleinbürgerlichen DDR- und Ostblocksozialismus ist das Thema nicht erledigt.

Gaus: Die Antwort, die Botho Strauß gibt, sagen Sie, ist nicht meine.

Peymann: Ich würde mich nicht einmal so festlegen. Ich kenne ihn wirklich sehr genau und schon ganz lange. Ich weiß ja den Ausgangspunkt. Das ist immer die Schwierigkeit: Sie gehen auf einem Weg – Gudrun Ensslin oder Ulrike Meinhof sind auf diesem Weg gegangen, aber am Anfang standen wir an der gleichen Kreuzung. Dann entscheidet man sich Weg für Weg; der eine ist im Unterholz, der andere ist im Glanz. So ist es auch mit Botho Strauß, Peter Handke und anderen. Das ist der gleiche Ausgangspunkt, die gleiche Übersättigung, was das Theater angeht, das ist die gleiche Hoffnung, was das Theater angeht, das ist der gleiche Unterhaltungstrieb, vielleicht auch die gleiche Vorliebe für eine bestimmte Art von Literatur, nicht nur der Theaterliteratur, und da geht der Strauß einen sehr aufregenden Weg. Im Grund beantworte ich ja immer nur die Frage: Warum ich mit dem Botho Strauß nicht mehr so kann. Es haben sich irgendwann Konflikte eingestellt, Verletzungen eingestellt, die ich von ihm aus verstehe. So ist es halt gekommen, dass sich die Wege trennten. Damit kann man aber leben. Ich würde mir wünschen, dass am Berliner Ensemble, wenn es denn schon diesen Platz gäbe für die neue Literatur, die Stücke Botho Strauß’ mit dabei wären. Im Sinne einer wirklichen Dialektik und Begegnung, was im BE stattfinden müsste.

Gaus: Wir haben schon mehrmals in diesem Interview die RAF, die Gruppe Baader-Meinhof berührt, und ich komme jetzt, obwohl Sie indirekt schon geantwortet haben – aber dies möchte ich auch direkt haben – auf einen Zwischenfall Ihrer Karriere. Im Herbst 1977 kam es ein paar Mal zu einem politischen Eklat, als Sie unter dem Ensemble des Baden-Württembergischen Staatstheaters, wo Sie damals Schauspieldirektor waren, Spenden gesammelt haben für die Zahnbehandlung von Leuten aus der Baader-Meinhof-Gruppe.

Peymann: Ich glaube für Gudrun Ensslin, die hatte damals Probleme.

Gaus: Unter großem politischen Druck mussten Sie seinerzeit auf die Verlängerung Ihres Vertrags verzichten.

Peymann: Naja, ich wurde rausgeschmissen vom Filbinger. Der Ministerpräsident warf mich raus, und es gingen dann alle. Und Rommel, der Oberbürgermeister, ein couragierter Mann, hat dafür gesorgt, dass wir noch zwei Jahre bleiben konnten. So war das. Man kann sich an diese Jahre ja kaum noch erinnern. Es war ja nicht irgend so ein Minderheitenspielchen, sondern es waren damals zu bestimmten Anlässen fünfzigtausend, hunderttausend Leute auf den Straßen in Berlin, in Frankfurt, in München, in Köln, im Ruhrgebiet. Es war ja nicht so, dass da irgendein Haufen versprengter Desperados Politik gemacht hat, sondern es war ein größerer Aufbruch mit vielen Facetten. Dann ging das eine eben schief. Eines Tages – ich war eben Schauspieldirektor – kam ein handschriftlicher Brief: Wir sind schon lange Abonnent in Ihrem Theater, mein Mann und ich, jetzt haben wir große Schwierigkeiten mit unserem Kind, das hat kaputte Zähne und das sitzt in Stammheim. Der Gefängniszahnarzt ist sehr brutal – das passiert alles ohne Spritzen und Narkose. Es gibt einen braven Stuttgarter Zahnarzt, der würde dort hingehen zu diesen Verfemten, aber sie können das nicht mehr bezahlen. Diesen Brief hatte sie – glaube ich – an Augstein geschrieben, an Heinrich Böll, an Schlöndorff und viele andere Intellektuelle. Und ich habe 500 Mark hingeschickt, das war irgendwann im Mai/Juni. Dann kam dieser Herbst ’77, wo man Schleyer nicht fand, und der Staat hilflos war und man sich Vertretung holte für die nicht vorhandenen Terroristen und zum Beispiel auf Böll, Schlöndorff und mich einschlug. Da waren dann plötzlich diese 500 Mark Thema der BILD-Zeitung über Wochen und Monate. Ich wurde Dramaturg des Untergrunds usw. Aber ich habe mich auch nicht verleugnet.
Die Theaterarbeit in Stuttgart war von Stammheim beeinflusst, wie vieles in der Republik von Stammheim beeinflusst war. Es war nicht so, dass das alles abkaserniert war. Wer das sagt, hat die Zeit falsch beschrieben. Ich habe das gespendet, wie ich es übrigens heute auch wieder tun würde. Ich halte das auch für keinen besonders ausgeprägten politischen Akt, es ist eher christliche Nächstenliebe. Das würde ich morgen wiedermachen, auch in ganz anderen Konfigurationen, wenn es mich überzeugt. Dieser Brief von der Abonnentin hat mich überzeugt.

Gaus: Welche Rolle spielt für Claus Peymann der Intellekt? Hat der Intellekt für Claus Peymann, der sagt: ich bin ein politischer Mensch, ein links eingestellter politischer Mensch, eine reelle Chance gegenüber der Emotion?

Peymann: Im Grunde nicht. Ich sollte es versuchen auf meine alten Tage.

Gaus: Tun Sie es manchmal?

Peymann: Ich habe Partner. Theater ist nie – wie das immer dargestellt wird – das Werk eines Einzeltitanen. Ich selbst reagiere sehr stark instinktiv. Das ist aber wirklich in Ordnung, ich habe einen wirklich fast total verlässlichen Instinkt.

Gaus: Aber manche sagen: Der Peymann ist in Wahrheit gar kein politischer Kopf, weil er Sentimentalität hat.

Peymann: Ja, das könnte sein. Das würde ich vielleicht sogar akzeptieren. Ich glaube sowieso, dass wir Tugenden unterschätzen. Ich sage das gerne bei Schriftstellern, darüber kann ich ja wirklich reden, weil ich die kenne – im Gegensatz zu den meisten anderen. Wenn man nur ahnen würde, wie viel da Instinkt ist, Intuition und Ahnung, vielleicht sogar Sehen – man hat ja früher immer von den Sehern gesprochen. Das darf man heute gar nicht mehr sagen. Trotzdem glaube ich das. Der Thomas Mann hat in den 20er Jahren schon die marschierenden Stiefel gehört, als es noch für die anderen albern war und die deshalb gesagt haben: Was dramatisieren Sie, ist doch alles Quatsch. Das kann man nachlesen in seinen Tagebüchern. So ist auch – glaube ich – diese Art von Zeichenlesen oder Veränderungen zu begreifen, dass wir jetzt einen wahrscheinlich langsam ernstzunehmenden Rechtsradikalismus in Deutschland vorfinden. Das lag lange in der Luft. Das liegt ja seit der Wende in der Luft.

Gaus: Die Wende in Deutschland 1989.

Peymann: Wahrscheinlich leider oder Gott sei Dank: nein.

Gaus: Leider oder Gott sei Dank, entscheiden Sie sich?

Peymann: Nein, entscheide ich nicht. Weil „Gott sei Dank“, dann wäre das Theater vielleicht falsch gewesen. Und das „Leider“, weil es natürlich toll ist, wenn man brillant wäre, wenn man immer gescheit denken könnte. Ich irre mich dann manchmal auch. Aber ich vermag wirklich in Gesichtern zu lesen. Manchmal stelle ich beim Fernsehen den Ton ab, weil es mir so einen Spaß macht, die politische Lüge in der Tagesschau zu beobachten. Das macht mir einfach Spaß zu studieren, wie sie das machen, wie sie jetzt die Unwahrheit sagen, sie das Unrecht verkaufen. Das ist für mich von der Physiognomie, von den Zeichen her effektiver als zu argumentieren.

Gaus: Die Wende in Deutschland 1989 – war das also in Ihren Augen gesellschaftspolitisch teilweise – etwa in Eigentumsfragen – auch eine Konterrevolution?

Peymann: Ich ahne, was Sie vielleicht mit der Frage verbinden. Konterrevolution kann es nicht gewesen sein, weil die DDR nicht durch eine Revolution entstanden ist. Die DDR ist eingesetzt. Es ist immer noch Besatzerkind.

Gaus: Ist sie durch eine Revolution untergegangen? Oder durch eine Konterrevolution – teilweise?

Peymann: Ich möchte es eigentlich lieber anders sagen. Ich war vor einiger Zeit in Prag, in diesem berühmten Garten der deutschen Botschaft. Man hat mir alles gezeigt, von welchem Balkon wer was gesagt hat. Und da ist ja noch so ein Trabant auf einer Säule im Garten… Aber das Problem ist wahrscheinlich, dass man die DDR abkassiert hat, sie übernommen wurde. Ich weiß, dass darüber tausendmal diskutiert wurde, aber das ist – wenn Sie so wollen – das Kontraproduktive dieser einmaligen geschichtlichen Chance. Wenn man diese beiden Systeme in eine kreative Auseinandersetzung geführt hätte, wäre etwas Neues entstanden. Ich sage Ihnen, vielleicht überrascht Sie das, einen DDR-Wert: Zum Beispiel wurden die DDR-Frauen ohne patriarchalische Strukturen erzogen, die DDR hat ein vollständig anderes Frauenbild erzeugt. Ich sag das, weil ich mit einer ganzen Reihe von Schauspielerinnen, Bühnenbildnerinnen und Autorinnen, von der Reimann bis zur Christa Wolf zu tun hatte. Da ist ein ganz anderer Frauentyp entstanden, auch ein ganz anderes Gefühl für emanzipatorisches Zusammenleben.
Oder in meinem Beruf. Die Schauspielerausbildung, die Theaterqualität, das ist alles in irgendeiner Weise abkassiert worden und war gar nichts mehr, war schuldig, war missglückt. Wenn das ein kreativer Dialog geworden wäre zwischen diesen beiden sehr fehlerhaften Gesellschaftsordnungen! Stattdessen gibt es nur einen Sieg des Kapitalismus. Das ist ein Pyrrhussieg. Es fault gewaltig unterm Teppich. Und die Prognose ist eher schlecht. Die Arbeitslosenzahlen, eine PDS, die sich manchmal an den etwas spießigeren Werten der DDR orientiert, am Rotkäppchensekt statt an den wirklichen Qualitäten, dadurch macht sie immer einen etwas trostlosen Eindruck. Auf der anderen Seite eine plötzlich und jählings, aber für mich überhaupt nicht überraschende rechtsradikale Partei, deren Ende noch gar nicht abzusehen ist. Da sind Rechnungen auf dem Tisch, da hätte ein historisch einmaliger kreativer Dialog werden können. Vielleicht, vielleicht gelingt er im Theater. Im Theater haben wir neue Mauern, vielleicht kann man im BE was zusammenzuführen, vielleicht bin ich dafür halbwegs richtig als jemand, der die DDR auch wahrgenommen hat.

Gaus: Der Theatermacher Peymann und der österreichische Bühnenschriftsteller Thomas Bernhard sind künstlerisch eine innige Verbindung eingegangen. Sie, Herr Peymann, haben als Regisseur einige wohl Ihrer wichtigsten Erfolge, haben Ihre Gipfel mit Stücken von Bernhard erreicht. Erläutern Sie bitte, was Thomas Bernhard Ihnen bedeutete?

Peymann: Das sind eine Zufallsbekanntschaft, denn keiner wollte das erste Stück machen. „Das Fest für Boris“ lag im Verlag herum, und man fand keinen Regisseur. Ich war da noch relativ jung. Mich hat das Stück fasziniert. Das war dann schön, was dort entstand. Und der Bernhard, der ein großer Hasser ist, ein großer Liebender, fand zunehmend Vertrauen in diesen verrückten Regisseur. Ich bin in allem anders als er. Daraus hat sich dann eine lebenslängliche – leider, was sein Leben betrifft – Freundschaft entwickelt. Ich habe etwa zwölf, dreizehn, vierzehn Stücke uraufgeführt. Mag sein, er hat überhaupt nur noch geschrieben, weil es mich, die Schauspieler, Bühnenbildner und Dramaturgen gab, die seine Stücke so liebten. Das ist ein oder der wesentliche Teil meiner Theatergeschichte. Vielleicht auch der Auslöser, dass ich nach Wien gegangen bin. Heiner Müller, komischerweise, und Bernhard haben beide gesagt: Jetzt gehen Sie nach Wien, jetzt machen Sie das Burgtheater. das ist richtig. Und Bernhard hat in den ersten Jahren in Wien mehr Einfluss gehabt auf mich als Theaterdirektor, als man nach außen hin weiß. Vor allen Dingen durch seine Beschimpfungen. Er hat das teilweise derart fürchterlich gefunden, indiskutabel, was wir machten und wer dort arbeitet und was für Stücke und was ich da gesagt habe. Ich habe mich auch teilweise nicht ausgekannt in Wien, heute würde ich vieles besser wissen. Aber ich war durch ihn praktisch richtig eingestellt auf die Stadt: nur nicht vereinnahmen lassen, misstrauisch allen gegenüber, keine falschen Umarmungen usw. und gleich auf Kollision. Das war natürlich toll, diese Art von Markierung, die er dort gegeben hat. Ich habe ihn halt sehr geliebt. Verstehen Sie, ich war – im Gegensatz zu der heutigen Sendung, wo ich viel rede – in Bernhards Gegenwart eigentlich immer der Zuhörer. Ich war von vornherein der Schwächere. Sie haben am Anfang gefragt, wie ist das mit der Literatur, ist das die höhere Kunst? In Bernhard hat sich das für mich personifiziert. Derjenige, dem ich zuhöre, derjenige, der es vielleicht auch besser weiß, bei allem Streit und Diskussionen, da ist eine gewisse Ehrfurcht, wie ich sie auch Peter Handke gegenüber habe, wo noch etwas dazukommt: Was ich nicht erreichen kann. Das interessiert mich aber sehr. Ich habe mich gern auch ihm in die Hand gegeben. Ich weiß gar nicht, was heute, nach dem Tod von Bernhard, wäre, wenn ich ein Stück von Bernhard machen würde, ob ich noch diese enorme Kraft und Energie, Phantasie aufbringen würde, zu der er mich immer beflügelt hat, weil ich ihm gefallen wollte.

Gaus: Bei der Vorbereitung auf dieses Interview bin ich mehrmals auf Äußerungen von Ihnen gestoßen, wo Sie von einer Lebenskrise gesprochen haben, die Sie gehabt haben. War Bernhards Tod im Februar 1989 diese Lebenskrise?

Peymann: Das würde ich so vielleicht nicht sagen. Der Schmerz und das Verlustgefühl war nicht Ausdruck einer wirklichen Lebenskrise. Ich bin verblüfft, dass Sie das sagen, weil ich nicht weiß, wie ich es gesagt oder gemeint habe.

Gaus: Sie haben es nicht in bezug auf diesen Tod gesagt, sondern Sie sagten es, ohne die Ursache der Krise zu benennen. Ich frage mit Respekt, und wenn Sie sagen: Das will ich nicht beantworten, höre ich auf zu fragen nach der Ursache, was Sie Ihre Lebenskrise genannt haben.

Peymann: Vielleicht funktioniere ich so gut, dass ich selbst meine Lebenskrisen vergesse oder verdränge. Es wäre ja gut, wenn man seine Lebenskrisen begreift und kennt. Die Lebenskrise, in der sie sich immer befinden, wenn sie Theaterdirektor und Regisseur sind, ist, dass der Regisseur verliert und der Theaterdirektor überhand nimmt. Das ist sozusagen dieser Katastrophenaugenblick. Wahrscheinlich bin ich so ein optimistischer Typ.

Gaus: Sind Sie ein Optimist?

Peymann: Ja. Ich bin vielleicht ängstlich und auch nicht frei von Depressionen. Je älter man wird, desto früher wacht man auf – Zeit genug für Ängste und Depressionen. Aber ich kann ohne Optimismus wahrscheinlich gar nicht leben. Ich bin doch deswegen als Direktor ganz gut, dass ich Krisen sofort aufgreife. Ich bin nicht jemand, der Krisen verdrängt. Es gibt Leute, die langstreckenmäßig Krisen ausleben, abwarten, bis irgendwann jemand sie löst – das kann ich überhaupt nicht. Ich muss an Sachen rangehen, die sofort aufreißen und lösen.

Gaus: Sie gelten als ein Sprachregisseur, der einen hohen Respekt vor dem Text hat, der dem Text durch die Inszenierung keine Gewalt antut. Aber die Schauspieler, so kann man hören, werden von Ihnen, Herr Peymann, oberlehrerhaft gegängelt. Und so als künstlerische Individuen entmündigt, zu Schülern gemacht. Ist ein solches Urteil der sanften Entmündigung über Ihre Art zu inszenieren, Schauspieler zu führen, ungerecht?

Peymann: Das sind natürlich die Krisen auf der Probe, wenn plötzlich jemand explodiert, damit habe ich zu tun. Wenn das gesagt wird, will ich es nicht vollständig wegweisen. Man verfügt natürlich über die Wahnidee, wie eine Aufführung sein sollte, wie ein Stück auszusehen hat. Man verfügt über diese Wahnidee eines Konzeptes, das Bild eines Stückes und versucht natürlich, jeden scheinbaren Fehler zu vermeiden, weil man denkt: Vorsicht, das geht jetzt von dem Ziel ab. Das Problem ist, dass dabei die Kreativität der Schauspieler vielleicht zu kurz kommt. Dagegen wehrt man sich. Und zwar mit Erfolg. Wenn ich nicht auch verlieren könnte, würden nicht diese sogenannten großen Schauspieler mich ein Leben lang begleiten. Das war immer so, dass meine Arbeit sich sehr stark auch über ganz entscheidende Protagonisten personifizierte, derer sich gern auch andere Regisseure bedienten. Vielleicht wird durch meine Art die Kreativität der Schauspieler erst freilegt? Aber jeder hat seine Methoden. Vielleicht ist etwas dran, was Sie sagen.

Gaus: Aber Sie hätten ganz gerne, dass man versteht, dass Sie es auch dabei gut meinen?

Peymann: Ja. Sonst wäre ich zutiefst unglücklich.

Gaus: Sind Sie harmoniebedürftig?

Peymann: Ja. Das sind aber fast alle Regisseure.

Gaus: Aber ich kann es nicht glauben.

Peymann: Das sind aber fast alle Regisseure. Zadek ist ein anderer Fall. Der ist so ein Typ, der wiegelt auch Schauspieler gegeneinander auf. Das ist ganz mies. Und der macht die Leute auch manchmal schlecht. Aber es ist natürlich genial, weil er dadurch der Wahrheit so nahe kommt.

Gaus: Das machen Sie überhaupt nicht?

Peymann: Ich beschönige manchmal, ich bin sehr deutsch, ich bin wenig englisch. Ich idealisiere …

Gaus: Aber deutsch ist auch manchmal sehr intolerant. Sind Sie tolerant?

Peymann: In der Arbeit, auf der Probe wahrscheinlich nicht. Im Leben bin ich impulsiv, aber wahrscheinlich inzwischen toleranter als früher. Ein Ausbund an Toleranz bin ich sicher nicht. Toleranz ist auch manchmal furchtbar langweilig und tarnt nur den Kompromiss und mangelnde Klarheit.

Gaus: Das ist die Toleranz der Gleichgültigkeit.

Peymann: Wie auch immer man das begrifflich fassen mag: Sie ist eine Gefahr. Die Probe selber, die künstlerische Arbeit ist sowohl undemokratisch als auch intolerant. Die Schauspieler müssen natürlich ihre Freiheit haben auf der Probe. Aber die Entscheidungen, die fallen, sei es die des Schauspielers oder sei es die des Regisseurs, sind letztlich unkontrollierbar, sicher oft nicht mehrheitsfähig, erst mehrheitsfähig durch das Publikum. Nämlich: Es hält den Atem an, es lacht oder hält eben nicht den Atem an und lacht nicht. Dann ist die Sache schiefgegangen. Aber ich glaube, dass da Widersprüche, ganz prinzipielle Widersprüche bestehen zwischen allen anderen Bezirken, zum Beispiel der Politik, und was weiß ich.

Gaus: Man nennt Sie gelegentlich in Theaterkreisen Pike, weil Sie von sich sagen, Sie hätten Theater von der Pike auf gelernt. Man sagt mit Respekt von Ihnen: Sie wüssten noch, wo jeder Nagel in der Kulisse eingeschlagen ist, Sie wüssten, wo das Geld bleibt, und Sie machten auch genaue Platzierungspläne für Kritiker, damit sie nicht zu nahe beieinandersitzen. Glauben sie, dass Ihre Art, Theaterdirektor zu sein, das heißt, die Mischung aus künstlerischem Leiter, Verwaltungschef, Manager, mit Ihrer Generation ausstirbt?

Peymann: Wir haben damals revoltiert gegen die Autoritäten, auch gegen die Autoritäten, die sich mit den Nazis arrangiert hatten. Das war die Generation, gegen die wir angetreten sind. Wir sind eigentlich antiautoritär. Wir hatten auch diese Probleme mit der Mitbestimmung. Wir wollten neue Modelle finden. Das hat nicht funktioniert. Ich habe mich dann bald entschieden, einfach zu akzeptieren, dass einer entscheiden muss. Ich habe mich, wenn Sie so wollen, für die Vaterrolle entschieden, die ein Betrieb manchmal braucht. Die Familie, das Ensemble, braucht einen Vater, einen Chef, der eine Entscheidung fällt – mitunter auch eine negative, weil sie fallen muss.

Gaus: Aber kann er beides noch leisten – die Kunst und die Verwaltung, das Management?

Peymann: Da sitzt meine Bombe. Ich wünsche mir natürlich vom BE, das etwas kleinere Haus an diesem quirligen Punkt neben dem Bahnhof, diese Art von Reibung und Explosivität und Geschwindigkeit ist schön, es ist kleiner und überschaubarer ...

Gaus: ... kleiner als die Burg.

Peymann: Das Burgtheater ist praktisch unregierbar. Mir hat mal der Kardinal König, das ist der wunderbare Altkardial von Wien, gesagt, als wir mal wieder einen toten Burgschauspieler ums Burgtheater trugen – man tut das da in Wien: Ach, Peymann, wir trösten Sie. Es gibt zwei Häuser in Wien, die kann man nicht regieren, das eine ist der Stepphansdom und das anderer das Burgtheater. Trösten Sie sich.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Haben Sie Angst vor dem Alter?

Peymann: Ich bin ja schon dran. Das hat ja schon angefangen. Mit 60 sind sie im Alter. Ich renne durch, verstehen Sie, ich laufe der Probe nach, dem nächsten Ziel. Ob ich jemals aufschaue, um mich schaue, davor hätte ich wahrscheinlich Angst und würde diesen Moment vermeiden. Aber es gibt auch schon das Erschrecken: Die Uhr läuft.