Sendung vom 15.10.2003 - Wolf, Gerhard
Gerhard Wolf, Jahrgang 1928, Essayist, Autor, Herausgeber und Verleger galt als einer der wenigen großen, unbestechlichen Geister, die sich ihr Gespür für literarische Qualität nicht durch Ideologie trüben ließen. Der Ehemann der in der DDR vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) starb im Alter von 94 Jahren.
Günter Gaus im Gespräch mit Gerhard Wolf
Gaus:
Mein heutiger Interviewpartner Gerhard Wolf - geboren 1928 in Thüringen - ist ein bedeutender Schriftsteller, vormals Essayist über literarische Themen und Themen und Personen der bildenden Kunst. Seit über 50 Jahren ist er mit der Schriftstellerin Christa Wolf verheiratet. Gerhard Wolf ist wegen seines Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann aus der DDR aus der SED ausgeschlossen worden. Sehen Sie Zur Person Gerhard Wolf.
Im Jahr 1963 schreibt Gerhard Wolf, damals Lektor beim Mitteldeutschen Verlag in der DDR, an den von Ihnen geförderten jungen deutschen Dichter Volker Braun - ich zitiere: „Es ist momentan manchmal keine gute Stimmung für Gedichte und ich hoffe sehr, dass ihr jungen Leute gut zusammenhaltet.“ Ende des Zitats. Wann ist eine gute Stimmung für Gedichte, Herr Wolf?
Wolf:
Na ja, die Frage ist grundsätzlich zu beantworten. Gute Stimmung für Gedichte, dass man Gedichte liest, ist, wenn man selbst mit sich sehr beschäftigt ist und sich beschäftigen will – dann hab ich jedenfalls immer Gedichte geliebt und gelesen. Diese Frage direkt spezifisch zu dem Vorgang der frühen sechziger Jahre - das war ja eine Zeit, wo eine ganze Reihe junger Talente in der DDR aufkam. Ein bisschen angeregt durch die Chruschtschowsche damals noch nicht Perestroika, aber die Chruschtschowsche sogenannte „Weiche Welle“ nannten wir das. Und es kam eine ganze Reihe von Talenten, die jetzt zum Durchbruch kamen, aber gleichzeitig mit ihren Versen auch Schwierigkeiten hatten. Und es war hier spezifisch, es war glaube ich eine Sache... Die beiden Kirschs, Sarah und Rainer Kirsch hatten Schwierigkeiten in Halle und ich habe Volker gesagt: also du musst da mal hin. Ihr müsst zusammenhalten, ihr müsst euch gegenseitig unterstützen. Ich hatte zwei Anthologien gemacht – „Bekanntschaft mit uns selbst“ und „Sonnenpferde und Astronauten“ – mit diesen jungen Leuten.
Gaus:
Das war die Sächsische Dichterschule.
Wolf:
Ja, die dann später ...
Gaus:
Die dann ein niederländischer Germanist glaube ich gegründet hat...
Wolf:
Ja, das hat dann später - weil sie alle ein Teil von ihnen in Leipzig bei Professor und meinem Freund, Georg Maurer - dessen ganze Bücher ich auch beim Mitteldeutschen Verlag herausbringen konnte - studierten. Und das war ein sehr aufgeschlossener und sehr liberaler und sehr kunstbewusster Mensch.
Gaus:
Also Sie haben gesagt, grundsätzlich geantwortet: Gedichte liest man, Gedichte habe ich, Gerhard Wolf jedenfalls immer gelesen, wenn ich sehr mit mir beschäftigt war.
Wolf:
Ja ich war – meine Mutter ist sehr früh gestorben und ich war sehr auf Literatur angewiesen, das war die Bibliothek meines Vaters, die nicht so toll war. Das war, Verband der Bücherfreunde hieß das, Halbbände. Aber dann auch Gedichte. Und ich hatte ganz früh eine Kladde, wo ich Verse reingeschrieben habe. Das waren noch sehr brave Gedichte, Fontane, Storm und so was, 19. Jahrhundert. Und der Durchbruch zur Moderne kam mit Rilke. Von dem Louis Fürnberg, er ist für Nostalgien gut...
Gaus:
Wir kommen auf Fürnberg.
Wolf:
Und ich habe mein Abitur mit Rilke gemacht, meine Eins. Musste ich in die mündliche Prüfung und da glänzte ich mit Rilke Gedichten. Und das war für mich überhaupt ein ganz starker Beziehungspunkt, eigentlich bis heute.
Gaus:
Sie bringen mir meine Fragendramaturgie durcheinander aber auf eine so hübsche Weise, dass ich vorgreife.
Wolf:
Ja.
Gaus:
Es gibt in Ihren Schriften etwas, wo - Sie erzählen eine Geschichte aus der Zeit wo Sie Lektor, freier Lektor waren oder Rundredakteur beim Deutschlandfunk...
Wolf:
Nein, Deutschlandsender, ja.
Gaus:
Deutschlandsender. Entschuldigung, Deutschlandfunk ist der Westableger. Der Deutschlandsender, wo von einem bekannt wird, dass er Rilke liest und wo dann ...
Wolf:
Ah ja.
Gaus:
Und wo dann der Vorgesetzte sagt: Die Frage ist nun, liest er es um...
Wolf:
Ja, das ist ein sehr Schönes...
Gaus:
...um die spätbürgerliche Geisteshaltung kennen zulernen, oder hat er Genuss davon.
Wolf:
Ja, das ist eine sehr schöne Anekdote, die übrigens wirklich passiert ist mit Heinz Zöger ein Mann, der damals Chefredakteur vom Leipziger Rundfunk war, wo ich als Hilfsredakteur 1951 begann und dem brachte ich ein Rilke- Gedicht in einer Sendung.
Gaus:
Es musste Geld verdient werden, denn Sie hatten gerade – ich komme darauf – Christa Wolf geheiratet.
Wolf:
So ist es. Wir bekamen unser erstes Kind. Christa studierte weiter bei Hans Meier in Leipzig. Ich konnte nicht nebenbei studieren. Und die Geschichte ist - wie gesagt ich brachte ihm meine Sendung, war ein Rilke - Gedicht drin. Und er sagte, spätbürgerliche Dichtung, das kommt nicht bei uns in Frage. Ich sagte, das ist doch ein ganz gutes Gedicht. Na ja, sagte er, wenn wir abends, wenn ich mich von dem Kram hier erhole, da lese ich auch Rilke. Das wurde einem höheren Funktionär erzählt. ‚Was sagen Sie von so einem Genossen? Er verbietet es für die Sendung aber abends liest er’s?’
‚Das kommt darauf an’, sagte der. ‚Will er sich weiterbilden - oder hat er Genuss dabei?’
Und das war dann bei uns eine stehende Redewendung. Der hat bei dieser oder jener Gelegenheit Genuss dabei.
Gaus:
Herr Wolf, Sie sind selbst ein Schriftsteller, ein Essayist hohen Grades, über literarische Themen und Personen und über bildende Kunst - Themen und - Personen. Aber Ihr Lebenswerk besteht zu einem erheblichen Teil daraus, Entdecker junger Talente zu sein, deren Lektor, deren Wegbereiter für erste Veröffentlichungen. Gerhard Wolf ist ein Diener der Literatur, habe ich gefunden irgendwo. Nach Ihrer Selbsteinschätzung, was treibt Sie an, eine solche dienende Funktion auszuüben?
Wolf:
Na ja, dienend würde ich auch gar nicht sagen. Ich würde sagen helfend und eben Interesse eigentlich an Dichtung, die mich zu den Personen dann gebracht hat. Und das ist dann für mich nie zu trennen gewesen, was einer schrieb. Mit Volker Braun – bleiben wir doch bei dem Namen, der schon gefallen ist. Der schickte sein erstes Gedicht aus einer Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren. Das war erst so, dass ich die Stirn gerunzelt habe und so aber da waren ganz tolle Zeilen drin, ganz überraschende Metaphern, die ganz ungewöhnlich waren. Und so hat sich nach und nach, auch durch meine Ratschläge, hoffe ich ein Dichter herausgebildet, von dem man dann seinen ersten Band machen konnte „Provokation für mich“. Und das war sozusagen auch ein Gesprächpartner gleichzeitig. Also dienen würde ich...
Gaus:
Ist Ihnen das, dass Sie da helfend, nicht dienend - ist ja kein abschätziger Begriff im Gegenteil - ist Ihnen das am Ende sogar wichtiger als Eigenes?
Wolf:
Ich würde es nicht trennen. Es hat sich ja dann Gott sei Dank auch das Eine aus dem Anderen ergeben, nicht? Aus der Bekanntschaft mit Johannes Bobrowski, den ich nur in seinen letzten Lebensjahren kennen lernte, ist eines meiner Bücher dann entstanden.
Gaus:
„Beschreibung eines Sommers“.
Wolf:
Ich setzte mich in sein Zimmer und beschrieb sein Zimmer und konnte sozusagen mich essayistisch ihm nähern. Oder ich konnte dann dem verehrten Hölderlin ein Buch – sozusagen meine Referenz erweisen, der sehr viel in den Diskussionen mit den jungen Autoren eine Rolle gespielt hat. Denn diese Generation...
Gaus:
Es gab eine Romantikphase auch bei Ihnen und Ihrer Frau...
Wolf:
Na ja, das bezog sich noch auf diese jungen Leute, die damals sehr sich auseinander setzten mit Klopstock, mit Hölderlin, mit Ewald von Kleist und solchen Figuren. Und die auf ihre Gedichte erwiderten aus ihrer neuen Situation heraus. Das waren ja oft Dichter, die in schwierigen, in komplizierten Situationen gestanden hatten und da nahm man Motive auf, grenzte sich ab, setzte sich auseinander.
Gaus:
Sie sind in der Regel, Herr Wolf, der erste Leser neuer Texte von Christa Wolf, mit der Sie, es ist schon erwähnt worden, seit über 50 Jahren verheiratet sind. Ein kritischer Erstleser, zu manchen Anfängen schweigen Sie nur zunächst einmal, aber irgendwann - und das ist dann wohl Ihre Standardformel – nach dem, was ich herausfinden konnte, sagen Sie: ‚Ja, jetzt läuft es’. Können Sie in Worte fassen, was Sie wahrnehmen, wenn Sie meinen, jetzt läuft der Text?
Wolf:
Ja. Ich glaube, wenn Sie Ihren Ton für den jeweiligen Text gefunden hat, das war ja manchmal nicht einfach. Beim „Kindheitsmuster“ gibt es, glaube ich, auch über 50 Anfänge und Unsicherheiten, Wechsel der Perspektive vom Ich zu einer dritten Person und was weiß ich nicht. Das war ein langer Entwicklungsprozess und das ist ein ständiger Dialog. Das verbindet uns ja auch sehr, von Anfang an, von der ersten „Moskauer Novelle“ an. Bis zu diesem Buch...
Gaus:
Wie kommt Christa Wolf mit Ihren Urteilen zurecht? Kann es so sein, haben Sie manchmal hinter Ihrem Rücken in die Texte hinein geschaut? Und dann manchmal überraschend hinter ihrem Rücken erst ergründet, gesagt, jetzt läuft es? Wie kommt Sie damit zurecht?
Wolf:
Das sind natürlich Erfahrungswerte. Es könnte ja sein, das ist nun ein Erfahrungswert auch mit anderen Autoren, dass man viel zu früh kritisiert an einer Situation, wo der Betreffende noch am arbeiten ist. Und den Punkt herauszufinden - und das hoffte ich natürlich bei Christa am Besten zu finden...
Gaus:
Ist das immer geglückt?
Wolf:
Das hoffe ich. Ich weiß es nicht. Manchmal war ich sogar an der Titelsuche beteiligt und ich bin stolz, dass ein Titel wie „Der geteilte Himmel“ auf meinem Mist sozusagen gewachsen ist, der ja eine sprichwörtliche und eine höhere Bedeutung bekam, als man zuerst annahm. Oder „Kindheitsmuster“, da haben wir lange diskutiert und sind gemeinsam auf diesen Titel dann gekommen.
Gaus:
Sie sind ein begabter Koch, Herr Wolf. Ich habe Sie schon einige Male eine Suppe und eine Bratensoße abschmecken sehen und auch hören. Ich habe komischerweise ein Bild vor mir, wenn ich mir vorstelle, wie Sie einen Text von Christa Wolf kosten. Ein bisschen schlürfen, ein bisschen den Kopf schütteln und dann sich schließlich freuen über den in Aussicht stehenden Genuss. Ist das Bild schief und ganz falsch? Ist es mehr ein Gefühl auf der Zunge, eine Geschmackssache, oder ist es literarisch wissenschaftlich?
Wolf:
Nein, es ist, glaube ich, literarisch und ein sehr bewusster Prozess. Also mit dem Kochen würde ich das nicht verbinden. In der Küche streiten wir uns, wer darf und wer was richtig macht. Nein, es ist glaube ich, schon wirklich ein... ich hoffe dass ich deswegen ein ganz guter Lektor bin, weil ich weiß, wann jemand seinen Ton trifft, wann er so weit ist und wo man ihn beraten -vorsichtig - oder auch sehr kritisch beraten kann. Und da würde ich das eigentlich nicht unterscheiden, wie ich mich zu anderen Autoren verhalten habe, mit denen ich ja auch befreundet bin.
Gaus:
Zur Person Gerhard Wolf, geboren am 16. Oktober 1928 im thüringischen Bad Frankenhausen am Kyffhäuser. Der Vater entstammt einer Büchsenmacherfamilie aus Suhl, der Stadt der Jagdgewehre. Aber er sucht den Aufstieg zu Schlips und Kragen. Er kommt dabei nicht sehr weit nach oben, aber immerhin, er wird Angestellter im Finanzamt und später Buchhalter in einem volkseigenen Betrieb. Die Mutter, eine Hausmacherin, stirbt als Gerhard zwölf und sein jüngerer Bruder Dieter sieben Jahre alt sind. Der Vater heiratet noch einmal. Die Stiefmutter war wohl, na so ein bisschen NS-engagiert, bei der ‚Frauenschaft’. Es gibt kaum emotionale Bindung. Können Sie rückblickend sagen, ob Ihr Elternhaus anhaltende Prägung in Ihnen bewirkte?
Wolf:
Na ja. Es gibt ja diesen schönen Spruch: Ich hatte böse Lehrer, das war eine gute Schule. Das Verhältnis zu meinem Vater – das war ein sehr spracharmer Mensch und ich habe ihm nie verziehen, dass er mir den Tod meiner Mutter – ich war übrigens zehn Jahre alt erst – nie richtig mitteilen konnte. Er war einfach sprachunfähig dazu. Er war der jüngste Sohn einer großen Familie und ging ...
Gaus:
Neun Kinder...
Wolf:
Elf.
Gaus:
Warum stimmt alles nicht, diesmal?
Wolf:
Ich weiß nicht woher Sie die Informationen haben.
Gaus:
Diese Information hatte ich von Christa Wolf.
Wolf:
Na ja, die hat ja auch nie nachgezählt und die kannte ja auch niemanden. Oder nur einen Onkel noch. Vater war der Jüngste und ich habe als Junge immer gelacht oder beziehungsweise ich habe ihn empört angeguckt, als er sagte, ich kenne meine älteren Brüder gar nicht. Denn die waren aus irgendwelchen Gründen schon außer Haus, als er geboren wurde. Und er schlug danach eine andere Laufbahn ein, er meldete sich freiwillig in den Krieg, wurde dann nach dem Krieg in dieses Hunderttausendmannheer übernommen und deshalb der kleinste Finanzangestellte.
Gaus:
Ein Zwölfender nach der Dienstzeit.
Wolf:
Ja ja. Und was dann – na wir kommen dann sicher noch drauf auf Bad Frankenhausen, das spielte dann eine große Rolle.
Gaus:
Sie wachsen auf in der Nähe des Kyffhäuser, des deutschen Sagenberges, wo Kaiser Barbarossa schläft und auf seine Stunde wartet. Wenn Sie sich Heimat vergegenwärtigen, Herr Wolf, hat das dann was mit dieser Landschaft zu tun, mit der Sie groß wurden?
Wolf:
Ich würde Kindheit sagen. Kindheit völlig und mit Suhl, wo die Onkels wohnten, in jeden Ferien war ich dort. Aber Bad Frankenhausen, das ist ja nun wirklich ein Traditions... Da ist der berühmte... erst mal der Berg des deutschen Soldaten mit dem Denkmal, Kyffhäuser Denkmal seit ’70/’71 auch für Kaiser Wilhelm I. und war vom Reichskriegerbund. Zu dem war mein Vater dann gelangt wieder als Buchhalter, als Angestellter. Und wir wohnten auch direkt im Kyffhäuser Gebirge, auf dem Ratsfeld, das ist auf halber Strecke. Ich musste jeden Morgen sechs Kilometer zur Schule, früh mit dem Rad ganz schnell, mittags lange zurück.
Gaus:
Auf halber Strecke liegen diese versteinerten Bäume.
Wolf:
Ja, die liegen direkt... Das ist ein ganz altes Gebiet, besiedelt mit einer Katlenburg, ich habe sogar Steinbeile aus dieser Gegend, selbst gesucht, was sicher verboten war. Und dann die Schlacht von Bad Frankenhausen, wo Thomas Müntzer 1555 geschlagen wurde, wo heute das große von Tübke...
Gaus:
... von Tübke, was die Frankenhäuser das ‚Elefantenklo’ nennen – was ich sehr ungerecht finde, denn ich finde, es ist ein großes Bild...
Wolf:
... weil er natürlich da was gemacht hat. Dieses Rund - was auch sehr zelebriert wird - aber heute natürlich ein...
Gaus:
Aber zurück zur Heimat und zur Kindheit.
Wolf:
Ja. Und das war ja ein Gegenpol eigentlich zum Kyffhäuser Denkmal. Der Schlachtenberg bei Frankenhausen, wo es eine Blutrinne gibt nach Frankenhausen, wo angeblich das Blut der Bauern herunter.... Das hat natürlich als Kind einen Eindruck gemacht.
Gaus:
In der Biographie geht es dann üblich weiter, was unsere Generation angeht. Luftwaffenhelfer, kurze Kriegsgefangenschaft bei den Amerikanern, Abitur in Frankenhausen. Bevor Sie studieren können, waren Sie von 1947 bis
Ž49 Hilfslehrer für Biologie an einer Schule, weil in der sowjetischen Besatzungszone so gut wie alle Lehrer, die mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht werden konnten, entlassen waren. Ich erinnere mich, dass wir in den Westzonen, ich selbst bin in der britischen Zone aufgewachsen, viel gespottet haben und viel Hohn ausgegossen haben über diese Neulehrer.
Wolf:
Das ist falsch, ja.
Gaus:
Könnte es sein, das die Kette der arroganten Missverständnisse vieler Westdeutscher über Ziele und Absichten jenseits der Elbe - drüben in der sowjetischen Besatzungszone, in der späteren DDR - dass viele arrogante Missverständnisse der Westdeutschen auch angefangen haben mit diesem Hohn über diesen Versuch, mit Neulehrern Neues zu erreichen.
Wolf:
Nein, das waren sehr interessante Leute. Ich meine, man wurde im Schnellverfahren... ich war immer Helfer, ich war Luftwaffenhelfer und dann Oberschulhelfer, man wurde ganz schnell in einem Fach ausgebildet, um dann auf die Oberschule losgelassen zu werden.
Gaus:
Bei Ihnen war es Biologie.
Wolf:
Ja, weil ich Deutsch... in das Fach kam ich nicht rein. Ich musste Biologie wählen. Und ich durfte nicht zum Studium, weil ich kein Arbeiterkind war. Ich war Angestelltenkind. Aber mit der Garantie, nach zwei Jahren dieser Tätigkeit als Lehrer, bekam ich einen Studienplatz, das war sozusagen halb zugesagt. Und na ja, ich habe da sehr gute Kollegen getroffen, die jetzt die reinen Neulehrer waren, also nicht dieses Gleis hatten, wie ich und mit denen heftige Diskussionen hatte. Und das waren verschiedene Leute, das waren CD – das waren christliche Leute und waren kleine Marxisten und so was .
Gaus:
Aber Neue.
Wolf:
Ja. Und ich glaube, das waren zum Teil sehr gute Lehrer. Und wissen Sie, damals die Jugend, die war ja so, dass sie wissbegierig war. Wir hatten keine Lehrbücher in Biologie. Ich konnte ihnen manchmal in einer Klasse, eine elften Klasse, das Lehrbuch geben und sagen, bereitet euch mit mir vor. Und wir haben dann toll diskutiert. Es war eine sehr spannende Zeit. Diese ersten frühen Jahre, die ’47 bis ’49 bei mir waren.
Gaus:
Im Jahr ’46 werden Sie in die SED - den Zusammenschluss von KPD und SPD - aufgenommen. Ganz unvermittelt, so habe ich erfahren, haben Sie das am Familientisch mitgeteilt. Lag darin, was ich denken könnte, ein Trotz gegen Ihren Vater?
Wolf:
Ja.
Gaus:
Um das einfach mal so zu sagen.
Wolf:
Ja. Das war ein Argument bestimmt. Dann hatten wir auch Lehrer, die uns natürlich... Das war ein Lehrer besonders, ein Deutschlehrer, der dann später Schulrat war, der uns mit moderner Literatur der Zeit vertraut machte...
Gaus:
Ich meine - das mit dem Trotz gegen den Vater habe ich nur gemeint, dass Sie es so unvermittelt am Familientisch mitteilten.
Wolf:
Das war eine bewusste Provokation, die mehr meiner Stiefmutter galt, die nun wirklich ‚NS-geschädigt’ war.
Gaus:
Der wollten Sie es zeigen.
Wolf:
Das wollte ich. Und mein Vater sagte: Das wirst du noch einmal bereuen.
Gaus:
Ja, sprach da aus Ihrem Vater der kleinbürgerliche Vorbehalt, das Ressentiment gegen links?
Wolf:
Na ja, weil er selbst kleiner PG gewesen war, das war seine Erfahrung. Er war ja... Nach dem Krieg musste er erst auf der Domäne arbeiten als Landarbeiter, bis er wieder in so eine buchhalterische Laufbahn reinkam.
Gaus:
Aber Sie hatten schon angefangen, von Lehrern, die Sie beeinflusst haben, zu sprechen.
Wolf:
Ja.
Gaus:
Es kann ja nicht nur der Trotz gegen den Vater und die Stiefmutter gewesen sein.
Wolf:
Eben.
Gaus:
Was haben Sie sich in Ihrer Jugendzeit von dem Eintritt in die SED und von dem neuen Deutschland, von dem anderen Deutschland, für Erwartungen, für Hoffnungen gemacht?
Wolf:
Na ja, es war wirklich eine... Wir bekamen mit einer Literatur zu tun, ich bleibe mal ruhig beim Literarischen. Wir lasen das ‚Siebte Kreuz’ von Anna Seghers, wir lasen Andersen Nexö, das kam über diese Lehrer. Das war natürlich eine ganz andere Weltanschauung, die sich bei mir sofort verband. Ich würde es bei mir immer über das Literarische definieren und nie über das Marxistisch-Theoretische, was wir natürlich dann gelesen haben im Studium usw.. Und das war ein Grund. Und ich glaube... Das war die Abiturklasse, mit einem zweiten Freund sind wir in die SED eingetreten. Bei ihm weiß ich nicht genau die Argumente, bei mir waren es die Beeinflussung durch diese Lehrer und natürlich ein bisschen diese Spannung im Elternhaus. Das waren sicher die Hauptgründe und dann kann man das ruhig erzählen, das war damals alles sehr offen – als ich dann zwei Jahre die Lehrertätigkeit hatte, habe ich mich beworben sowohl an der FU in Westberlin durch den Freund, der jetzt dort war, der hatte ein Jahr später Abitur gemacht, der hatte Schwierigkeiten mit seinem Abitur und ich ging dahin und bewarb mich da. Bei dem Aufnahmegespräch wurde ich nicht akzeptiert. Es kamen da so Fragen: Erklären Sie mir den Namen Koblenz – ich wusste überhaupt nicht, wo Koblenz liegt.
Gaus:
Sie waren bei der Aufnahmeprüfung an der FU?
Wolf:
Ja ja. Das war so ein nettes Gespräch, aber solche Fragen eben.
Gaus:
Wann war das ungefähr?
Wolf:
Na ja also ’49.
Gaus:
’49. Das heißt, der Kalte Krieg kam auf Touren?
Wolf:
Ja.
„Aber Sie haben doch Latein gehabt!“ Ich sagte: ich wusste gar nicht...
„Con fluentes wo die...“ Ich wusste nicht, wo Rhein und Main zusammenfließen. Das wusste man einfach nicht, wenn man in Thüringen geboren war und Westdeutschland nicht kannte.
Gaus:
Und so wurde es dann die Universität Jena.
Wolf:
Ja und das Aufnahmegespräch – ich hätte Einspruch erheben können, auch mein Freund, aber ich bekam gleichzeitig die Zulassung in Jena. Den versprochenen Studienplatz, den ich dann ergriffen habe.
Gaus:
Studium der Pädagogik, Germanistik und Geschichte. Dort lernen Sie die Germanistikstudentin Christa Ihlenfeld kennen, ein Jahr jünger als Sie, die Sie 1951 heiraten. Nun also Christa Wolf, zwei Töchter, vier Enkelkinder. Entschuldigen Sie bitte die hypothetische Frage: Was wäre aus Ihrem Leben geworden, wenn Sie Christa Wolf nicht kennen gelernt hätten?
Wolf:
Ui, die kann man nicht beantworten. Das ist so verbunden, von Anfang an. Das war... Wir begegneten uns da, wir kannten uns da. Unsere Brüder kannten sich eigentlich besser, will sie zusammen in einer Klasse Abitur gemacht hatten.
Gaus:
In Frankenhausen.
Wolf:
Und die hatten beide so Negativbilder eigentlich erzählt. Also ich war sozusagen ein Zyniker und nicht der beste Schüler, Christa war eine sehr gute Schülerin und gefühlsmäßig ganz anders gestimmt als ich. Dass wir uns da hätten treffen sollen und gemeinschaftlich weitergehen sollen, das war da nicht vorbestimmt. Aber es erschien, Christa beschreibt es so, dass ich sozusagen...
Gaus:
... Sie standen da in einem nachgefärbten Luftwaffenhelfermantel...
Wolf:
auf einer Treppe erschien und wir uns anguckten, ich noch so in halb Luftwaffenhelfer Klamotten, die so...
Gaus:
Sie standen oben an der Treppe und galten als ein Zyniker an der Universität Jena.
Wolf:
Und irgendwo muss da was gefunkt haben.
Gaus:
Ich habe einmal Christa Wolf gefragt, die international berühmte, bedeutende, große Schriftstellerin, Dichterin, ob ihr Mann Gerhard Wolf dann und wann darunter leidet, jedenfalls berührt werde als Literat und ganz allgemein, öffentlich im Schatten seiner Frau zu stehen. Christa Wolf hat gelacht und gesagt, das müsse ich Gerhard Wolf selber fragen. Ich frage Sie nun also, Herr Wolf, nach dem Schatten, den Christa Wolf über Sie geworfen hat oder nicht geworfen hat.
Wolf:
Das ist die konventionelle Reporterfrage, die Sie jetzt wieder gestellt haben.
Gaus:
Ich kann es nicht ändern.
Wolf:
Die mir immer gestellt wird.
Gaus:
Nicht alle konventionellen Fragen sind falsch.
Wolf:
Ja, gut, aber die ist bei uns ganz anders beantwortet. Wir haben ja beide sozusagen... damals hat man von einer Situation null genannt – wir haben ja, wir sind gleichzeitig gestartet. Und in verschiedene Richtungen.
Gaus:
Daraus könnte die Schwierigkeit kommen – weil der eine dahin und der andere dorthin gekommen ist.
Wolf:
Ja, aber, schauen Sie, ich wurde dann ein wichtiger Mann des Rundfunks, bis zum Leiter der Kulturpolitik beim Deutschlandsender, bis 1959 in einer Position, da war sie - wenn Sie so wollen - noch kleine Angestellte beim Schriftstellerverband. Also spielte es eigentlich, glaube ich, überhaupt keine Rolle.
Gaus:
Und das ist nicht nachträglich gewachsen, das ist kein Problem geworden?
Wolf:
Nein, nein. Das ist eine - na ja ich würde sagen, eine Lebensgemeinschaft, die ich, ich gehe sogar soweit, wo Christa lächeln würde, wenn ich sage, das ist meine Art von Leidenschaft, wobei sie mich sehr skeptisch an..., weil ich ein Wort wie Leidenschaft eigentlich nicht in den Mund nehme. Und ihr gegenüber schon gar nicht.
Gaus:
Die DDR war wesentlich vielschichtiger, als die westdeutsche Mehrheit zur Kenntnis nehmen will. Lassen Sie uns das an einem Beispiel verdeutlichen, am Schriftsteller Louis Fürnberg, über den Sie eine Biographie verfasst haben. Fürnberg hat das Lied getextet „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“. Das ist eine Zeile, die das vorherrschende westdeutsche Urteil begründet: Fürnberg, ein bornierter Stalinist. Erläutern Sie bitte, Herr Wolf, warum Sie Herrn Fürnberg viel verdanken. Warum er Sie so beeinflusst hat, beeindruckt hat, dass Sie eine Biographie über ihn geschrieben haben.
Wolf:
Fürnberg kam aus der Emigration aus Palästina, wo er sich überhaupt nicht wohl gefühlt hat als Jude. Er war ein Linker und Kommunist, aber er hatte dort mit Arnold Zweig eine Zeitschrift „Orient“ gegründet, die von den rechten Israelis in die Luft gesprengt wurde. Sie hatten also nicht die besten Beziehungen dahin und er ging zurück - eigentlich wo er herkam, nach Prag. Er wurde dann Kulturattaché in der DDR und ist den Slansky-Prozessen um ein Haar entgangen. Sein Vorgesetzter wurde erschossen. Und sein Freund...
Gaus:
Beim Slansky-Prozess in Prag.
Wolf:
Und sein Freund Goldstücker wurde zum Tode verurteilt, der ja dann mein Freund, unser Freund war - kam Gott sei Dank mit ein paar Jahren davon. Er hat dieses Lied geschrieben zum Schutz, sich selbst irgendwie zu schützen und das hat er auch so erklärt. Die Melodie, die ist von ihm sogar, die ist nicht so marschmäßig, das wurde dann von Paul Dessau gemacht und ihn darauf festzulegen, das wäre natürlich ganz schlimm, denn er hat sehr schöne Gedichte geschrieben. Von denen ich begeistert...
Gaus:
Er hat eine sehr schöne Novelle geschrieben.
Wolf:
Er hat die Mozart-Novelle geschrieben und war ein sehr feinsinniger Mann aus dem jüdischen Bürgertum kommender, natürlich mit dem Komplex gegenüber den proletarischen Leuten, die ihn immer festnageln konnten, dass er kleinbürgerlicher Herkunft, der er nicht entgehen wollte. Es kommen da sehr sehr viele... Und er war ein Mensch, der hoffte, dass in Deutschland eine neue Generation von Leuten kommt, die dieses Leid und das alles, was er durchgemacht hatte, nicht ertragen müssen. Sein Bruder ist in Buchenwald ermordet worden, das hat er später nebenbei erzählt, nicht? Die wollten uns mit ihrem jüdischen Schicksal auch nicht belasten. Dass sie wiederum sich gar nicht als traditionelle Juden fühlten, weil sie nicht gläubig waren, sondern Kommunisten waren, ist eine andere Sache. Und das war nicht nur er, das war F.C. Weiskopf, es war eine ganze Generation. Anna Seghers gehört dazu. Es waren sehr viele, die für uns natürlich Leitbilder und Vorbilder waren zunächst, und die wir zunächst auch relativ unkritisch gesehen haben. Also mein Gedenkbuch heißt: „Die Poesie hat immer recht“, was natürlich auch...
Gaus:
Was zu einem Titel geworden ist, zu einer Gedenkschrift, einer Festschrift zu ihrem 70. Geburtstag.
Wolf:
Ein lustiger Vers von Friedericke Kemper „Die Poesie, die Poesie hat immer recht“ und das war auch ein Spaß dadurch, den man dann im Hintergrund hatte, so dass man sich auch über diese Seite der Sache lustig machen konnte.
Gaus:
Herr Wolf, sagen Sie mir eins, soweit Sie es verstehen können, warum ist die Mehrheit der Westdeutschen - soweit sie sich überhaupt interessiert für das, was drüben in der DDR passiert ist, außer, wenn es dramatisch war - seit wann, warum ist die Mehrheit der Westdeutschen offensichtlich so unfähig, die Klischees, die grobschlächtigen Betrachtungsweisen von der real existierenden DDR, vom real existierenden Leben in der DDR zu überwinden. Warum sind die Westdeutschen mehrheitlich so borniert?
Wolf:
Na ja, das hängt da wirklich mit dem Kalten Krieg... ich würde sie gar nicht auf borniert festlegen. Der Deutschlandsender war ein Sender, der sehr lange für die Einheit der deutschen Kultur sendete.
Gaus:
Ich weiß. Ich weiß, ja.
Wolf:
Wir waren angewiesen, weil wir keine Devisen hatten, auf die Rezensionsexemplare...
Gaus:
Ich habe gefragt, warum die Westdeutschen...
Wolf:
Ja, aber es gab dann natürlich Ausnahmen. Ich habe aus dieser Zeit Böll kennen gelernt und er, man konnte ihn besuchen und er las im Deutschlandsender. Das haben sich fast alle Autoren nicht erlaubt, bei einem kommunistischen Sender überhaupt.
Gaus:
Meine Frage ist, warum jetzt in der Gegenwart, die Westdeutschen mehrheitlich nach einem aufflackernden Interesse, nach der Vorstellung: die Ostdeutschen waren alles verkappte Westdeutsche, jetzt können sie endlich zu sich selber finden - dann war es eine Enttäuschung. Sie waren nicht so, wie man sich gedacht hatte, als man anfing über sie überhaupt nachzudenken. Und jetzt gibt es eine Wiederbelebung von hergebrachter Grobschlächtigkeit im Umgang, in der Beschäftigung, wie es gewesen ist. Warum ist das so? Sind Menschen so? Ist das die Dummheit des Siegers?
Wolf:
Na ja ich würde es doch auf den... Viele Freundschaften, die da angefangen hatten, oder die waren noch aus der früheren DDR und von Kollegen, die weggegangen sind, die haben sich ja gewandelt und da sind eine Menge Dinge dazwischengekommen jetzt. Das mögen Marktanteile sein, das mögen Dinge sein, dass man nicht mehr konfrontiert werden will, wie man einmal war, während das, glaube ich, auf der Seite der Ostdeutschen sehr viel stärker ausgetragen wird bei den ernstzunehmenden Autoren als bei den anderen. Das ist sehr schwierig, nicht, sich mit seiner Vergangenheit auseinander zusetzen, im heutigen Licht zu sehen und nicht dieses historische Bild, was man einmal von sich haben müsste, nun auch auszudrücken, nicht. Das könnten wir jetzt an weiteren Beispielen...
Gaus:
Sie haben neben anderen neben Christa Wolf, neben Heym, neben Hermlin haben Sie zu den Erstunterzeichnern des Protestes gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann aus der DDR im Jahr 1976 gehört.
Wolf:
Ja.
Gaus:
Sie sind deswegen aus der SED ausgeschlossen worden.
Wolf:
Ja.
Gaus:
Was ist Ihr Urteil über Wolf Biermann seit der Wende?
Wolf:
Oi Gott, mhm. Na ja, er hat sich sehr gewandelt mit der Zeit. Das fing noch an... sein erster Auftritt in Köln, der ja eine tolle Veranstaltung war.
Gaus:
Das war vierzehn Jahre vor der Wende.
Wolf:
Ja, ja vierzehn... den wir alle gesehen haben und wo wir überhaupt nicht übereinstimmten mit dem Urteil in der DDR, die ihn aburteilten daraufhin und angeblich dann begründen wollten, warum sie ihn ausgebürgert hatten. Das war ein großer Auftritt. Er hat an diese großen Auftritte, glaube ich, nie angeknüpft. Und ich glaube, er würde in sehr vielen Fragen heute völlig anderer Meinung sein.
Gaus:
Gefragt hatte ich ursprünglich gar nicht nach der Veränderung, die einzelne Menschen, die Sie gut gekannt haben, nach der Wende vollzogen haben, will gar nicht Wendehals sagen. Sondern ich hatte allgemein gefragt, warum die Mehrheit der Westdeutschen, die gar nicht eine Biographie aus der DDR mit sich herumschleppen, so wenig begreifen von der Differenziertheit des Lebens in der DDR.
Wolf:
Na ja, ich glaube es gab auch nur sehr wenige wie wir, die wir nach Westdeutschland reisen konnten und konnten ihre differenzierte Situation beurteilen. Das konnten ... Die haben sich für uns sehr wenig interessiert und haben deswegen auch ein sehr oberflächliches Urteil gehabt, nicht? Und das ist sehr kompliziert. Ich möchte nicht - ich kann es nicht für die Westdeutschen beantworten. Ich sehe es nur, wie wir – wir waren mit sehr vielen Problemen, die die DDR-Bevölkerung überhaupt nicht kannte, von der Bundesrepublik - die kannten wir natürlich weil wir reisen konnten. Seitdem die Bücher Christas im Westen erschienen, konnten wir reisen und hatten natürlich viele Gespräche, heftige Diskussionen.
Gaus:
Ist Ihnen – Sind Sie bekümmert darüber, dass es mit der viel beredeten deutschen Einheit wenig geworden ist bisher, oder ist es Ihnen im Grunde egal?
Wolf:
Es gibt neue Freundschaften, die vorher nicht waren, zu einigen Autoren, zu Künstlern, was sehr schön ist, auch durch meine Verlagsarbeit: Ottel Eicher, Franz Mohn auf einer ganz anderen Strecke, Günther Uecker, ich könnte unbekanntere Namen nennen. Was sehr schön ist und das habe ich eigentlich auch als großen Vorteil und als Gunst bezeichnet. Günther Grass – mit dem haben wir nie so enge Beziehungen gehabt, wie nach der Wende, vorher waren das eher kleine Hakeleien. Dass man sich dem einen SPD-Mann eher... bei uns dem SED-Mann oder der SED-Frau - das hat sich zu ernsthaften und schönen Gesprächen und auch Freundschaften sozusagen entwickelt. Das würde ich auf der einen Seite sehen. Das Gesamtklima – ja, wie soll man es machen. Ich weiß es nicht, wie ich es beurteilen soll, warum das so nicht eintrifft, weil es uns eigentlich in dem Sinne nicht direkt so betrifft, nicht? Ich kann eigentlich da sehr viele positive Dinge - auch durch diese Verlagsgründung vielleicht - sagen, die mir einfallen würden. Und dieses komische Gesamtklima, dass man jetzt mit diesen komischen Dingern da im Fernsehen, mit dieser absoluten Fröhlichkeit da begradigen will. Oder dass das ein Reflex sicher ist auf die vorher Nicht-Wahrnehmung und Nicht-Anerkennung, was wirklich in der DDR war - sondern eben nur Unrechtsstaat, STASI und was weiß ich, die Schlagworte kennen wir alle, ich will sie gar nicht wiederholen. Bis sich das eint, das scheint doch ein sehr langer psychologischer Prozess zu sein.
Gaus:
Kann es sein, dass die Leute unserer Generation erst wegsterben müssen, bevor dieses aufgeheizte - aufgeheizt im Kalten Krieg - diese Vergröberung des Verhältnisses ins Grab gesunken ist?
Wolf:
Na ja, wenn sich ein Altbundeskanzler zu solchen seltsamen Urteilen über die Ostdeutschen...
Gaus:
... von Herrn Schmidt.
Wolf:
Na ja, ich will die Metapher gar nicht gebrauchen, die ich da nur böse zurückgeben würde. Das ist natürlich gekennzeichnet von keiner Sachkenntnis, was eigentlich die wirtschaftlichen Prozesse danach waren, warum die blühenden Landschaften nicht eingetreten sind.
Gaus:
Herr Wolf,
Wolf:
Die... Na gut.
Gaus:
Nein, Entschuldigung.
Wolf:
Da gab es diesen Aufruf „Für unser Land“. Wenn Sie sich da zwei Zeilen herausnehmen, die die Wirtschaft – da stand viel drin... was utopisch... vielleicht auch schon...
Gaus:
Den Ihre Frau mitverfasst hat.
Wolf:
Ja. ...vielleicht dumm war. Ja aber was das Ökonomische anbetrifft, das ist die Situation, die irgendwo von Leuten, die den Westen kannten, ein bisschen vorauszusehen war, dass da nicht eine tolle Investition einsetzen würde. Sondern, dass da jetzt ein Konkurrenzkampf einsetzen würde, der zu Ungunsten des Ostens ausgeht. Klar.
Gaus:
Übrigens, die DDR hatte Zeiten, wo es relativ weniger schwierig war mit der kulturpolitischen Arbeit und Existenz und wo es besonders schwierig war – 11. Plenum, Ausbürgerung Biermann, Schriftstellerkongress ’79. Meine Frage an Sie ist: Ihr Distanz gewinnen, Ihr Distanz nehmen von der DDR, wenn Sie es rückblickend betrachten, ist es gebunden an einen dramatischen Akt - wie Biermann-Ausbürgerung, aus der SED entlassen - oder ist es im Grunde ein allmähliches Ermatten gewesen?
Wolf:
Nein. Ich könnte es ganz genau mit Jahreszahlen belegen: 1956 Harich-Prozesse, Janka-Prozesse - da war ich Leiter der Kulturpolitik im Deutschlandsender und wir haben mit unserer Chefredaktion sehr offen darüber diskutieren können, dass wir nicht überein stimmten. Das war ein solcher Punkt. Und das ging weiter, ’68 unsere beste Freundin Franzi Vaktorowa (?) war in der Redaktion von Literarni Noviny und wir sind später mit ihr verwandt, weil ihr Sohn unsere Tochter geheiratet hat - von daher eine ganz lange Freundschaft. Und auch mit dem, was die dort wollten, nicht? Also, das war uns geläufig und bekannt. Das sind solche Einschnitte und da war ein Stück mehr. Und dann die Biermann-Ausbürgerung...
Gaus:
Das heißt, das war ein schrittweises Ermatten.
Wolf:
Ja. Ich glaube ja.
Gaus:
Bei Christa Wolf habe ich folgenden Satz über Gerhard Wolf gefunden, ich zitiere: „Nie war er – also Gerhard Wolf – geblendet durch eine selbstzerstörerische Bindung an Macht, an Autorität wie ich - ich heißt, ich Christa Wolf.“ Ende des Zitats. Was sagen Sie zu dem darin behaupteten Unterschied im Distanz gewinnen und in länger bewahrtem Bindungshoffen zwischen Ihnen und Ihrer Frau?
Wolf:
Ich würde natürlich, was sie als selbstzerstörerisch bezeichnet, überhaupt nicht unterschreiben. Es waren für sie sehr heftige Prozesse, auch natürlich als Literatin und Schriftstellerin ein Gewinn. Dass sie das selbst immer sehr viel mehr betroffen hat als mich, das stimmt. Ich bin von Natur aus ein sehr viel skeptischerer Mensch und mein Vater sagte: Das ist ein Lyriker und Satiriker. Also, ich bin da überhaupt sehr viel zurückgenommener, ein völlig anderes Temperament, auf Dinge zu reagieren. Ich glaube, deshalb ist es eine unserer besten Bindungen, dass wir uns da sehr ergänzen. Sie, die sehr viel mehr tolerant auf Leute zugeht als ich vielleicht, was auch eine Schwäche sein kann.
Gaus:
Wir haben gesprochen von Ihrer Hilfe, von Ihrer dienenden Funktion, von Ihrem Fördern der Generation Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch auch Jochen Laabs später...
Wolf:
...Man könnte mehrere Namen nennen.
Gaus:
Tschechowski.
Wolf:
Ja.
Gaus:
Dann haben Sie dieselbe Funktion ausgeübt in den 80er Jahren bei den Jungen Wilden sozusagen, literarischen Neuerern vom Prenzlauer Berg in Ostberlin: Papenfuß, Jan Faktor, Elke Erb. Diese Neuen waren so verliebt auch und so ausgefüllt mit ihren Wortspielen, mit ihren Spracharbeiten, dass sie schon deswegen, aber auch aus Überzeugung, jede gesellschaftliche Bindung von Poesie, von Schriftstellertum an gesellschaftliche Vorgänge geleugnet haben - anders als die Generation Volker Braun. Unabhängig vom Geschmack - vom eigenen - bedrückt Sie manchmal und irritiert es Sie, beunruhigt es Sie, dass diese Nachwachsenden nur sich selber sehen, nur Innenschau haben und keine gesellschaftlichen Bezüge akzeptieren?
Wolf:
Zunächst sahen sie gar nicht nur sich selber, das war ein gesellschaftlicher Bezug, dass sie sich sozusagen abgrenzen wollten und ganz anders waren. Und sich nicht mit der Verve wie Biermann auseinandersetzen wollten mit diesem Kommunismus, den sie überhaupt nicht mehr akzeptierten. Und sie versuchten, dafür eine neue Sprache zu finden - das hat mich interessiert - die aus der offiziellen Sprache ausrastete und in eine nicht-offizielle Sprache einmündete und damit ... sind ja einige sehr gute Talente dabei. Man vergisst immer, dass ein Romancier wie Reinhard Jürgel, der heute Romane schreibt, bekannt ist. Papenfuß macht seine Arbeiten weiter und ist heute ein...
Gaus:
Die Frage ist: Gesellschaftliche Funktion der Schriftsteller - ja oder nein?
Wolf:
Ja, aber die war...
Gaus:
Die war damals nicht... Die war damals Selbstwehr, sie zu verleugnen. Es war Selbstschutz, sie nicht zu akzeptieren, damit man zu sich selber finden kann. Die Frage ist jetzt, für heute.
Wolf:
Na ja, ich würde das... Da weiß ich gar nicht, wie ich darauf antworten soll. Ich habe das nie so gesehen, dass die sozusagen sich nicht gesellschaftlich binden wollten. Sie wollten sich nicht an diese Gesellschaft binden.
Gaus:
Ich meine jetzt, in der Gegenwart. Ich frage nicht für die Zeit davor.
Wolf:
Meinen Sie jetzt die Betreffenden selbst?
Gaus:
Zum Beispiel.
Wolf:
Ja, die haben alle noch... Der Papenfuß macht Kaffee Burger, ein Szenecafé - was plötzlich von vielen akzeptiert wurde - mit Russendisko. Er hat... diesen bohèmehaften Anarchismus, den er hat, eigentlich nicht verloren.
Gaus:
Ja.
Wolf:
Sie könnten sagen, er ist da stehen geblieben. Aber – er hat es auch erweitert.
Gaus:
Ich frage völlig wertfrei. Ich sage nur, es scheint mir so zu sein, dass unsere Generation, halbe Generation nach uns, Volker Braun - immer nur ein Name...
Wolf:
Ja, ja.
Gaus:
... willentlich, nicht willentlich, aber notgedrungen eine gesellschaftliche Funktion der Literatur für selbstverständlich angesehen hat.
Wolf:
Ja.
Gaus:
Es gibt eine neue Innerlichkeit - ich will sie jetzt nicht bei Papenfuß unterstellen - aber es gibt eine neue Innerlichkeit, die das leugnet. Meine Frage an Gerhard Wolf ist: Irritiert Sie das oder sagen Sie, das verwächst sich wieder, es kommt die Nächste und die wird es wieder haben.
Wolf:
Das ist übrigens schon wieder die nächste Generation.
Gaus:
Ja natürlich.
Wolf:
Zu dieser neuen Innerlichkeit, nicht? „Fräulein Wunder“ und solche Geschichten.
Gaus:
Die Frage bleibt, also.
Wolf:
Das war auch sehr schwierig. Sehen Sie, das wird sich sehr schnell ändern. Es gab eine ganze Reihe von Journalisten, die sehr sicher waren und ich glaube in Berlin sind es über dreihundert, die mit Wegfall der Berliner Seite der FAZ und anderen plötzlich zum ersten Mal mit sozialen Fragen überhaupt konfrontiert wurden und da geht ein großer Prozess vor sich. Der ist glaube ich sehr sehr interessant, nicht? Eine Enkeltochter, Jana Simon, gehört ja dazu. Die hat ein Buch geschrieben „Denn wir sind anders“ – aus welchen Gründen, ich will jetzt das Buch nicht erzählen – und sie ist direkt konfrontiert mit diesen Konflikten. Die hat eine gute Karriere gleich gemacht beim Tagesspiegel als Reporterin, macht sie weiter. Aber sie ist natürlich infiziert durch uns mit diesen Problemen, nie sozusagen von vornherein konfrontiert worden - und war damit vertraut, während ihre Kollegen aus dem Westen das nicht hatten. Und ich glaube, da wächst, das ist meine Hoffnung, da wächst jetzt ein neues Bewusstsein heran aus dieser neuen Situation, die auch plötzlich sie betrifft. Der Begriff ’arbeitslos’, der lag gar nicht in ihrem Gesichtsfeld.
Gaus:
So viele Schriftsteller, wie sie gefördert haben, so viele bildende Künstler, Graphiker haben Sie gefördert. Sie haben in dem schon erwähnten Verlag von Ihnen, ’Janus Press’, einem kleinen Verlag - nach der Wende gegründet - in dem durch die Zusammenarbeit von Text und Graphik eine Art neue Buchkunst entstanden ist. Was hat Sie an der bildenden Kunst und an bildenden Künstlern, was hat Sie an einem Mann wie Carl Friedrich Claus angezogen?
Wolf:
Na ja, Carl Friedrich Claus ist ja nun der große Avantgardist der DDR, der gleichzeitig ein überzeugter Kommunist war, ein sehr utopischer Kommunist, ...
Gaus:
Der ist ’99 gestorben.
Wolf:
Der seinen Aurora-Begriff an Jakob Böhme, Paracelsus und dann natürlich an Lenin und was weiß ich anknüpfte, Bloch vor allen Dingen. Bloch war eigentlich für ihn die wichtigste Beziehungsfigur. Und er hat daraus eine ganz eigene Kunst entwickelt, die sehr schwierig ist für einen größeren Kreis. Aber er ist immerhin, nicht, er ist eine Vergrößerung....
Gaus:
Bildende Künstler allgemein.
Wolf:
Ja.
Gaus:
Was hat Sie angezogen?
Wolf:
Durch ihn bin ich zur Avantgarde gekommen hauptsächlich, im weitesten Sinne. Und aber wenn Sie unser Buch anschauen, „Unsere Freunde, die Maler“, da sehen Sie dieses weitgefächerte Feld, was wir haben, was auch an Leuten...
Gaus:
Was hat Sie angezogen daran? Sie beschreiben es.
Wolf:
So ähnlich wie die Frage zur Lyrik zu beantworten wäre, würde ich die jetzt zur Malerei. Ich habe eigentlich an der Schule nur das gemacht, was mir Spaß machte. Und das war – ich war in Deutsch sehr gut und war in Kunstgeschichte sehr gut. Das muss – ich habe da Tagebücher geführt, Bilder beschrieben und so, das fing sehr früh an. Oi das ist eine sinnliche und gleichzeitig eine vom Intellekt nicht zu trennende Leidenschaft, sich damit zu beschäftigen und auseinander zu setzen. So dass ich im Verlag ja, es gibt kein Buch ohne Graphik, immer diese Generationen auch zusammenbringen wollte – wer schreibt, wer malt, zeichnet.
Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Bei allem Hineingezogensein ins Weltgetriebe, Herr Wolf, sind Sie im Grunde ein Privatgelehrter, ein Sammler und Liebhaber von Kunst, der seine wahre Existenz abseits in der Stille finden möchte?
Wolf:
Nein, meine Essays, wenn sie „Wortbruch Wortlust“ – das ist also weder nebenbei, das ist nicht mehr außenseiterisch, da sind sehr viele Leute beschrieben und sind Zeitläufte beschrieben und überhaupt meine... Alles was ich geschrieben habe, hat eigentlich sehr, ist also mit dem Begriff Privatgelehrter glaube ich, überhaupt nicht zu treffen, sondern da ist eben der Literaturinteressierte, der Kunstinteressierte, der da sich äußern wollte und das ist sicher mein Metier, wenn ich schreibe.