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2016, nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Erdogan ging der türkische Präsident mit aller Härte gegen seine Kritiker*innen vor. Viele zwang er mit dieser Politik ins Exil: Journalist*innen, Intellektuelle, Künstler*innen. Welche Hoffnung haben die Geflohenen nun vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl am 14. Mai in der Türkei?
Can Dündar, Journalist, Autor
"Wenn die Wahl knapp ausgeht: 49 zu 51 Prozent, wird das Land wahrscheinlich in ein Chaos stürzen. Wir brauchen so etwas wie 60 zu 40 Prozent. Dann wird es nicht so leicht, die Armee und Polizei gegen den Willen der Leute zu mobilisieren."
Zehra Doğan, Künstlerin
"Klar, ich sage, er ist ein Diktator und dass er gehen muss. Wenn der Gegenkandidat gewinnt, unterstütze ich ihn."
Kemal Kılıçdaroğlu: der Hoffnungsträger des Oppositionsbündnisses. Aber wird das Bündnis halten? Und: auch seine Partei, die CHP, hat einst Minderheiten, Kurden verfolgt. Aber der 74-jährige ist der Einzige, der es schaffen könnte den Staatsführer Recep Tayyip Erdoğan zu entmachten. Im 100. Jubiliäumsjahr der Türkei entscheidet sich, ob die Autokratie weitergeht oder ob wieder mehr Demokratie möglich ist für die 85 Millionen Bewohner. Den Umfragen zufolge hat Kılıçdaroğlu gute Chancen.
Ahmet Öğüt, Künstler
"Er ist schon lange präsent und für viele ist er eine sichere Lösung. Das ist wichtig für den Übergang. Aber dann sollten junge Leute übernehmen, ins Parlament kommen, auch Frauen."
Ahmet Öğüt hofft auf den Wandel, die Türkei solle endlich ihre Vielfalt feiern. Der kurdische Künstler: ein Weltbürger. Seit langem lebt er in Berlin und in Istanbul, stellt international aus. Oft thematisiert er Polizeigewalt, überall auf der Welt – mit diesem Video erinnert Öğüt an einen sechsjährigen, kurdischen Jungen, der von Tränengas-Patronen türkischer Polizisten getötet wurde. Und an einen in Seoul getöteten Studenten.
2016, nach dem Putschversuch, lässt Erdoğan zahllose Menschen verhaften. Viele fliehen.
Öğüt aber reist trotz allem in die Türkei.
Ahmet Öğüt, Künstler
"Ich habe mich nie der Selbstzensur unterworfen. Mein Kriterium ist: Ich nehme mir für meine Kunst überall dieselbe Freiheit heraus: Ich reize sie aus, so wie ich es immer schon gemacht habe – selbst wenn ich hier arbeite, habe ich immer meine Heimatstadt im Kopf. Aus dieser Perspektive dehne ich Grenzen aus."
Als Zehra Doğan wegen ihres Bildes im Gefängnis sitzt, macht sich sogar der Streetart-Künstler Banksy für sie stark. Auch im Gefängnis zeichnet die damals 26-jährige weiter. Heimlich werden ihre Botschaften rausgeschmuggelt. Diese Zeitung, die sie mit anderen Frauen gemacht hat beispielsweise. Als Künstlerin und Journalistin dokumentiert sie Angriffe des türkischen Militärs in ihrer kurdischen Heimat.
Zehra Doğan, Künstlerin
"Erdogans Regierung hat in 20 Jahren die gesamte Türkei kolonisiert. Eine Türkei, die von ihm selbst und seinen Anhängern, engen Freunden, seiner Familie, reichen Leuten ausgebeutet wurde und an andere Länder verkauft wurde. Wenn ich an die Türkei denke, fühle, sehe ich ein dunkles, betoniertes, baumloses, geplündertes Land."
Die Türkei: das größte Gefängnis für Journalisten, sagt Can Dündar. Der einstige Chefredakteur saß drei Monate im Hochsicherheits-Gefängnis Silivri. Die Zelle: nachgebaut am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Seit 2016 lebt er in Deutschland, unfrei fühlt er sich bis heute. Lange schon beobachtet er Erdoğans Aufstieg. Für ihn: ein Wolf im Schafspelz, instinktsicher im internationalen Machtpoker. Dündar weiß: nichts ist sicher bei diesen Wahlen.
Can Dündar, Journalist, Autor
"Erdogan ist ein Politiker, der Krisen immer zu seinem Vorteil wandeln kann. So war es, als er nach den Gezi-Park-Protesten unter Druck stand. Damals hat der Flüchtlingsdeal sein politisches Überleben gerettet. Und als es mit ihm wieder bergab ging, war der Krieg in der Ukraine die nächste Chance, wieder in Europa mitzumischen, wegen seiner guten Kontakte zu Putin und Selenskyi."
Als im Februar die Erde bebt, sagen viele, diese Katastrophe, das schlechte Krisenmanagement könnte Erdoğan den Wahlsieg kosten. Besonders hart getroffen auch eine Region, in der viele Erdoğan-Wähler leben. Can Dündar fürchtet den gegenteiligen Effekt.
Can Dündar, Journalist, Autor
"Nach solch großen Katastrophen tendieren die Menschen dazu, den Status Quo, die Macht, zu wählen. Sie brauchen eine stärkere Regierung, um ins normale Leben zurückzufinden."
Deshalb fürchtet Can Dündar, er werde die Hoffnung verschieben müssen, bald in die Türkei zurückzukehren. Und auch Zehra Dogan weiß: es kann dauern.
Zehra Doğan, Künstlerin
"Nur mit einer teilweisen Demokratisierung der Dinge wird sich die Türkei nicht erholen. Wir müssen uns gegenseitig verstehen. Wir müssen uns gegenseitig vergeben. Dann kann ich tatsächlich in die Türkei zurückgehen."
Autorin: Petra Dorrmann