Arzt berührt digitale Icons (Bild: Colourbox)
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Interview | Internetmedizin - Visionen der digitalen Behandlung

Demnächst werden wir genauso selbstverständlich sagen, "ich bin digital behandelt worden" wie "ich bin ambulant oder stationär versorgt worden". Das ist die Vision von Dr. Markus Müschenich. Er ist Facharzt für Kinderheilkunde, Gesundheitswissenschaftler und gilt als Experte für die Medizin der Zukunft.

Herr Dr. Müschenich, welche Chancen bietet die Internetmedizin?

Ich glaube, dass Internetmedizin die Medizin insgesamt besser macht. Sie ist genau dort angesiedelt, wo unser Gesundheitswesen eher schlecht ist und das ist der ganze Bereich des Alltags des Patienten. Ich sehe vor allem zwei wichtige Entwicklungen: Das ist zum einen die Online-Sprechstunde beim Arzt und zum anderen sogenannte Health-Companion-Systeme. Die Online Sprechstunde beim Arzt ist nicht nur attraktiv in Gegenden, die eine schlechte Gesundheitsversorgung haben. Auch für Städter ist es von Vorteil, wenn sie nicht sechs Wochen auf einen Arzttermin warten müssen. Ein Anbieter solcher Arztkonsultationen via Videokonferenz ist die Lübecker Firma "Patientus" (www.patientus.de). Über dieses Portal kann man ärztliche Beratung per Internet auf verschiedenen Stufen wählen: die Informations-Sprechstunde als erste Beratung, die Bestandspatienten-Sprechstunde und die Zweitmeinungs-Sprechstunde. Ein solches Angebot verträgt sich durchaus mit dem ärztlichen Berufsrecht und verstößt nicht gegen das "Fernbehandlungsverbot". Denn nur bei der "Bestandspatienten-Sprechstunde" werden Patienten tatsächlich im Rahmen einer Anschlusskonsultation behandelt.

Die beiden anderen Angebote dienen nur der Information und Beratung bzw. Begutachtung. Health-Companion-Systeme bieten Zugang zu ärztlichem Wissen, ohne dass ein Arzt leibhaftig zugegen ist. Dafür müssen die Nutzer allerdings ihre Gesundheitsdaten von einer App dokumentieren lassen, welche dann von einem intelligenten Algorithmus ausgewertet wird. Ein Beispiel ist "OneLife Baby" (www.onelife.me) eine App, welche es Schwangeren ermöglicht, rund um die Uhr persönliche Befindlichkeiten, Aktivitäten und körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, aber auch Blutdruck und Gewicht zu dokumentieren. Diese Daten werden dann von einem speziellen Rechenprogramm (Algorithmus) ausgewertet und auf bestimmte Risikofaktoren – wie etwa Symptome, die auf eine mögliche Frühgeburt  hinweisen - untersucht. Besteht ein erhöhtes Risiko, kann die Schwangere dann sofort ihren Arzt aufsuchen; es verstreicht keine Zeit bis zur nächsten Vorsorgeuntersuchung. Übertragen auf andere "Krankheiten" bedeutet das: Ich kann schon vor dem nächsten Arztbesuch, der vielleicht erst in Monaten ansteht, von meiner App erfahren, dass ich ein Gesundheitsproblem habe.

Wo sehen Sie die Risiken der Internetmedizin?

Wenn es um Kommunikation geht, ist ein Risiko immer, dass schlechte Kommunikation stattfindet oder gar nicht kommuniziert wird und trotzdem auf Basis fehlender Kommunikation falsche Entscheidungen getroffen werden. So sterben in Deutschland jedes Jahr Zehntausende Patienten, weil sie Medikamente von verschiedenen Ärzten verschrieben bekommen haben, die nichts voneinander wussten und wo es zu tödlichen Wechselwirkungen gekommen ist. Das kann durch die Internetmedizin eher besser werden, weil sie darauf angelegt ist, Informationen auszutauschen und zu vernetzen. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit, dass solche Daten missbraucht werden. Wenn die erste Krankenversicherung sagt: "Lieber Patient, wir versichern dich nur, wenn du dich überwachen lässt", dann haben wir ein Problem. Aber da sind dann sowohl ethisch handelnde Akteure im Gesundheitswesen als auch Politiker gefordert, dafür zu sorgen, dass dieser Datenmissbrauch nicht passiert. Durch die massenhafte Nutzung von Gesundheits-Apps werden sowieso schon tagtäglich Unmengen von Gesundheitsdaten gesammelt. Da nutzt es nichts, den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen, dass man das alles nicht will - sondern Regeln aufzustellen, wie mit diesen Daten verantwortungsvoll umgegangen werden kann. Letztlich geht es aber auch um eine klare Nutzen-Risikoabwägung. Was ist schlimmer, wenn jemand an einer Medikamenten-Wechselwirkung stirbt oder wenn seine Gesundheitsdaten – mit einem bekannten und geringen Risiko - in falsche Hände gelangen? 

Wie kann die Qualität von medizinischen Angeboten im Internet gesichert werden?

Der Bundesverband Internetmedizin arbeitet gerade an einer Zertifizierung für Internet-Anwendungen, die sich am Medizinproduktegesetz auf europäischer Ebene orientiert. Eine App, die zum Beispiel ein solches Zertifikat erhalten hat, kann als Medizinprodukt zertifiziert werden und wird vermutlich eher von den Krankenkassen bezahlt als eine App, die dieses Zertifikat nicht hat. Wir sind gerade in der Pilotphase und treffen auf großes Interesse bei den Anbietern. Das heißt, diese haben auch erkannt, dass Qualität wichtig ist, wenn man eine medizinische Internet-Anwendung auf den Markt bringen will. 

Wie sieht die Ärzteschaft die Entwicklung in der Internetmedizin?

Auf jeden Fall mit weniger Skepsis als noch vor einigen Jahren. Was sehr erfreulich ist: Der Spitzenverband der Fachärzte – also rund 70.000 Kollegen – ist vor einem Jahr Mitglied im Bundesverband Internetmedizin geworden. Der Deutsche Ärztetag, also die Vertretung aller Ärzte, hat im Mai einem Papier der Bundesärztekammer zugestimmt, in welchem steht, dass Internetmedizin besser sein kann als analoge Verfahren. Ein Arzt hat mir im persönlichen Gespräch gesagt, dass er die Entwicklung der Internetmedizin begrüßt, weil er dann endlich Zeit für die Patienten habe, die ihn wirklich bräuchten. Das ist keine vereinzelte Meinung. Viele Ärzte leiden ja auch darunter, dass sie zu wenig Zeit für ihre Patienten haben. Es gibt 590 Millionen Arzt-Patienten-Kontakte im Jahr. Jetzt könnte man meinen, dass durch Online-Konsultationen eventuell noch mehr Arbeit auf die Kollegen zukommt. Die begründete Hoffnung ist aber, dass sich viele Arztbesuche erübrigen, weil Patienten vorher durch Angebote der Internetmedizin Rat gefunden haben. Wenn früher die Oma der jungen Mutter sagen konnte, dass 37,2 noch kein Fieber ist, dann kann heute das Internet diese Funktion übernehmen.

Die Internetmedizin ist ein riesiger Wachstumsmarkt. Besteht da nicht die Gefahr, dass es nur noch ums Geld geht?

Startup Firmen, die Computerspiele entwickeln, verdienen leichter Geld als Firmen, die medizinische Anwendungen entwickeln, deren Zertifizierung nach dem Medizinproduktegesetz schnell auch mal 100.000 Euro kosten kann. Einen schnellen Euro macht man mit der Entwicklung medizinischer Anwendungen nicht. Viele Entwicklungen in der Internetmedizin gehen auch von den Patienten selbst aus. Die Diabetiker-App "mySugr" ist zum Beispiel von Diabetikern entwickelt worden, die gesagt haben: Wir sind unterversorgt und werden nicht gut behandelt, also helfen wir uns jetzt selber. Das traditionelle Gesundheitswesen ist in gewisser Weise träge und nicht unbedingt der Vorreiter für Innovationen. Der Bedarf ist aber da und in diese Lücke stoßen jetzt die kleinen Startup Firmen, die neue Produkte entwickeln, auch mit dem finanziellen Risiko, dass es nicht funktioniert.

Was aber auch ganz klar ist: Bislang funktionieren viele Geschäftsmodelle jenseits der Internetmedizin nur, weil die Betreiber die Daten ihrer Kunden verkaufen. Wenn man das nicht will, muss man auch damit leben, dass eine App nicht für 99 Cent zu haben ist. Viele seriöse Internetmedizin-Anbieter haben sich allerdings auf die Fahnen geschrieben, ihre Kundendaten nicht zu verkaufen, weil sie genau wissen, wie sensibel dieser Bereich ist.

Wie sieht Ihre Vision des Gesundheitswesens in naher Zukunft aus?

Wir vom Bundesverband haben eine Definition formuliert, die da lautet: "Internetmedizin ist Medizin nach dem Smartphone-Prinzip, komplett vernetzt, niedrigschwellig, in Echtzeit und der Patient bestimmt den Prozess." Ich sehe es so, dass mit der Internetmedizin die Bedürfnisse der Patienten wieder mehr in den Vordergrund rücken. Zwar behaupten auch heute viele Ärzte, dass es ihnen um das Wohl der Patienten geht. Aber zahlreiche Strukturen im Gesundheitswesen verhindern genau das. Mit der Internetmedizin wird der klassische Arzt-Patienten-Kontakt erweitert und ergänzt. Über die Online Konsultationen haben wir ja schon gesprochen. Warum soll eine gut ausgebildete Ärztin in Elternzeit nicht zwei, drei Stunden am Tag eine Online-Sprechstunde machen können? All diese Neuentwicklungen sind nicht mehr aufzuhalten. Jetzt ist wichtig, dass wir "Gesundheitsprofis" unsere langjährige Erfahrung einbringen und diese Entwicklungen mitgestalten. 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Müschenich.

Das Interview führte Ursula Stamm