Neue Behandlungsmethoden bei Krebs - Chancen der Immuntherapie

Jedes Jahr erhalten fast eine halbe Million Menschen in Deutschland die Diagnose Krebs. Während einige Krebsarten gut behandelbar sind, helfen bei anderen die gängigen Methoden wie Operation, Chemotherapie oder Bestrahlung nicht. Deshalb läuft die Erforschung neuer Therapien auf Hochtouren. Dazu gehört auch die Immuntherapie. rbb Praxis hat mit Otmar Wiestler vom Krebsforschungszentrum über die Chancen dieser Therapieform gesprochen.

Herr Prof. Dr. Wiestler, wo setzt die Immuntherapie gegen Krebs an?

Krebszellen sind fremde Zellen, die nicht in unseren Körper gehören. Und wir alle haben ein sehr effizientes Abwehrsystem, das Immunsystem, welches diese Krebszellen eigentlich erkennen müsste. Leider tut es das nicht mehr, wenn die Krankheit ausbricht. Die Forschung hat mittlerweile aber herausgefunden, warum sich Krebszellen dem Immunsystem entziehen und hat erste Möglichkeiten entwickelt, wie man den Krebs wieder erkennbar machen kann für die körpereigenen Abwehrzellen. Und damit ergeben sich völlig neue Möglichkeiten für die Immuntherapie. 

Wie geht die Medizin bei der Immuntherapie vor?

Es gibt bei der Immuntherapie zwei große Herausforderungen. Zum einen muss man wissen, welchen Bestandteil der Krebszelle das Immunsystem erkennt. Dann könnte man gegen diesen Bestandteil impfen so wie man auch gegen Viren und andere Krankheitserreger impft. Zum anderen haben Krebszellen Werkzeuge entwickelt, sich gegen das Abwehrsystem unseres Körpers zu wehren. Diese Werkzeuge halten sozusagen die Immunzellen aktiv vom Krebsgewebe ab. In den letzten Jahren haben wir begonnen, zu verstehen, wie das vonstatten geht und dieser Immunblock aufgebaut ist. Und es sind jetzt erste Medikamente auf dem Markt, die diesen Immunblock wieder abbauen und es damit ermöglichen, dass die Zellen des Abwehrsystems in das Krebsgewebe eindringen und die Krebszellen angreifen.

Die Werkzeuge der Krebszellen, um sich gegen das Immunsystem zur Wehr zu setzen, sind Eiweißmoleküle auf der Oberfläche der Krebszellen. Können Sie hierauf eingehen?

Diese Eiweißmoleküle auf den Krebszellen halten die Immunzellen aktiv vom Krebsgewebe ab. Und wenn man diese Moleküle mit einem Antikörper unterdrückt, fällt dieser Block weg und die Immunzellen können in das Tumorgewebe eindringen. Das ist in einfachen Worten das Prinzip dieser Antikörper. Die Immuntherapie versucht also gezielt, das Abwehrsystem in den Tumor zu dirigieren und so zu instruieren, dass es die Tumorzellen bekämpft. Und es sieht so aus, als würde diese Therapie gegen verschiedene Krebsarten wirken: gegen den schwarzen Hautkrebs, gegen Brustkrebs, gegen Nierenkrebs und vielleicht noch weitere Krebsformen. Das wäre natürlich ein erheblicher Vorteil, denn viele der neuen Krebsmedikamente, die wir im Moment entwickeln, wirken nur gegen ganz bestimmte Krebsarten. Die Immuntherapie könnte sehr viel breiter einsetzbar sein.

In welchen Bereichen wird die Immuntherapie derzeit bereits eingesetzt?

Zunächst ist sie zum Einsatz gekommen beim schwarzen Hautkrebs, dem malignen Melanom. Der erste zugelassene Wirkstoff hat den Namen Ipilimumab. Es gibt aber mittlerweile Studien bei vielen anderen Krebsarten - bei Lungenkrebs, bei Brustkrebs, auch bei Darmkrebs – und die ersten Ergebnisse sind sehr vielversprechend. D.h. dass man auch bei diesen Krebsarten bei 20 bis 30 Prozent der Betroffenen sehr gute Wirkungen sieht: Der Tumor wird in Schach gehalten, bleibt länger unter Kontrolle und kann in einigen Fällen vielleicht sogar geheilt werden mit diesem Arzneimittel.

Ipilimumab ist im Moment also für die Behandlung von Hautkrebs zugelassen. Und bei anderen Krebsformen befindet sich der Wirkstoff in der Zulassung. Ich persönlich glaube, dass dieses Medikament sich nicht durchsetzen wird, weil es zu nebenwirkungsträchtig ist. Aber die nächste Generation von Antikörpern, zum Beispiel Antikörper gegen das sogenannte PD-1-Molekül, scheinen besser verträglich zu sein, vielleicht noch wirksamer und sie sind besondere Hoffnungsträger.

Wann könnten diese Hoffungsträger für Patienten zur Verfügung stehen?

Ich glaube, dass im Laufe dieses Jahres die ersten Zulassungen in den USA kommen werden.

In welche Richtung geht die Forschung?

Das Neueste sind diese Medikamente, die den Schutzwall, den Krebsgewebe gegen das Immunsystem aufbauen, wieder abbauen. Die Mediziner sprechen auch von sogenannten Checkpoint Blockern, weil sie einen Kontrollschalter unterdrücken, der verhindert, dass Immunzellen in das Krebsgewebe eindringen. Es gibt auch neue Entwicklungen bei der Impfung gegen Krebs. Je mehr wir lernen über Veränderungen in den Krebszellen, desto mehr Moleküle können wir auch selbst herstellen, gegen die man dann impfen kann und die das Immunsystem gegen den Krebs aktivieren. Manche von uns haben vor allem die große Hoffnung, dass die Kombination dieser Immuntherapien, also ein Medikament, das den Schutzwall abbaut und ein zweites, das die Abwehrzellen noch aktiv unterstützt, sehr erfolgreich sein könnte.

Welche Nebenwirkungen können bei der Immuntherapie auftreten?

Es sieht im Moment so aus, dass die Immuntherapie etwas nebenwirkungsärmer ist als zum Beispiel die Chemotherapie. Es ist allerdings so, dass diese Therapie auch nicht nebenwirkungsfrei ist. Es gibt wahrscheinlich keine wirksame Behandlung, die völlig frei von Nebenwirkungen ist. Zum Beispiel kann das Immunsystem insgesamt zu stark aktiviert werden, so dass es zu Fieber kommt und auch zu Immunreaktionen gegen Zellen im Körper, gegen die man eigentlich keine Reaktion haben möchte. Und es kann zum Beispiel zu Gelenkschmerzen kommen.

Aber all diese Nebenwirkungen scheinen im Moment relativ gut kontrollierbar zu sein und sie scheinen nicht zu irreversiblen Schäden im Körper zu führen. Was vor allem nicht beobachtet wird – das war eine große Sorge – ist, dass sogenannte Autoimmunreaktionen ausgelöst werden können, dass das Immunsystem also in großem Stil plötzlich gesunde Gewebe im Körper angreift. Das scheint nach allem, was wir heute sagen können, Gott sei Dank nicht der Fall. Und wir haben den Eindruck, dass vor allem die nächste Generation an Medikamenten noch besser in der Verträglichkeit sein könnte und durchaus über einen längeren Zeitraum verabreicht werden kann.

Inwiefern besteht die Gefahr, dass sich bei der Behandlung Resistenzen entwickeln?

Die Gefahr besteht leider bei jeder Krebsbehandlung. Krebszellen sind außerordentlich anpassungsfähig und schaffen es immer wieder, Resistenzen gegen viele Arten der Behandlung zu entwickeln. Wir haben bislang bei diesen neuen Antikörpern noch keine Resistenzen in großem Stil beobachtet. Aber es ist durchaus denkbar, dass sie sich entwickeln. Es ist auch so, dass bei den Patienten, die man bislang behandelt hat, ein nicht unerheblicher Prozentsatz überhaupt nicht anspricht, die Behandlung also keine Wirkung zeigt, so dass es auch natürliche Resistenzen gibt bzw. einfach Tumore, die nicht auf diese Medikamente ansprechen. Das ist im Moment ein Gegenstand der Forschung, zu verstehen, warum manche Patienten reagieren und andere nicht. Und ob man das vielleicht voraussagen kann und es Möglichkeiten gibt, diesen Block zu überwinden.

Warum halten Sie die Immuntherapie trotzdem für so vielversprechend?

Ich halte sie vor allem deshalb für vielversprechend, weil dieser Grundgedanke – eine eigentlich fremde Tumorzelle wieder erkennbar zu machen für das Immunsystem – natürlich in vielerlei Hinsicht eine ideale Therapie wäre. Denn sie wird vom Körper selbst unterstützt, von einem der effizientesten Systeme unseres Körpers, nämlich dem Immunsystem. Sie könnte gegen ganz unterschiedliche Krebsformen wirksam sein, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Kebsmedikamenten, die nur bei bestimmten Krebsarten wirken. Und ich habe auch Hoffnung, dass man diese neue Immuntherapie intelligent kombinieren kann mit anderen Behandlungsansätzen, so dass man den Krebs entweder heilen kann oder zumindest über lange Zeit unter Kontrolle hält und die Patienten gut damit leben können.

Es wird auch oft von der personalisierten Krebsmedizin gesprochen. Wie könnte sich die Immuntherapie hier einfügen?

Das Prinzip der personalisierten Medizin hat damit zu tun, dass Krebserkrankungen sehr unterschiedliche Ausprägungen haben je nach Patient. Das wissen wir vor allem, seit wir den Krebs sehr detailliert untersuchen. Wir untersuchen heute das ganze Erbgut, zum Beispiel alle 30.000 Gene in den Krebszellen einzelner Patienten und stellen fest: Obwohl der Krebs in beiden Fällen Brustkrebs heißt und unter dem Mikroskop gleich aussieht, ist die Krankheit oft biologisch unterschiedlich. Und das ist der Grund dafür, warum nicht selten zwei Patienten mit derselben Art von Krebs und derselben Art der Behandlung ganz unterschiedlich abschneiden. Der eine wird geheilt, der andere ist nach einem Jahr tot. Diese Patienten haben unterschiedliche Erkrankungen, die gleich aussehen, sich aber auf der Ebene der Veränderung in der Zelle markant unterscheiden. 

Welche Erkenntnis haben Sie aus diesen Ergebnissen gezogen?

Die Schlussfolgerung daraus ist: Man muss die Krankheit Krebs in Zukunft wahrscheinlich viel individueller behandeln, also aufbauend auf solchen Untersuchungsergebnissen viel individueller festlegen – Frau Mayer profitiert von dieser Art der Behandlung, Frau Müller wird dagegen überhaupt nichts davon haben und braucht eine andere Therapie. Inwieweit auch die Immuntherapie stärker individuell angewandt werden muss, das wissen wir noch nicht. Was auf jeden Fall individuell geschehen muss, ist eine Impfung gegen Krebs. Denn die Veränderungen auf den Krebszellen, gegen die man das Immunsystem durch Impfung gerne ausrichten würde, die unterscheiden sich sehr stark von Tumor zu Tumor und von Patient zu Patient, so dass wir auch bei der Immuntherapie in Zukunft sehr viel stärker individualisieren werden.

Wie vielen Patienten, denken Sie, könnte mit der Immuntherapie in Zukunft geholfen werden?

Das ist im Moment schwierig zu sagen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man die Immuntherapie in den kommenden Jahren durchaus bei einem Drittel der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen einsetzen wird, dass sie den Patienten auch hilft und dass sie ein wichtiger Bestandteil in einer ganzen Kombination von Behandlungsmaßnahmen werden wird.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Dr. Wiestler.

Das Interview führte Nadine Bader.