Manuelle Therapie (Quelle: imago/Peter Widmann)
Bild: imago/Peter Widmann

Interview | Therapien nichtoperativer Orthopädie - 'Die Beziehung zum Patienten ist Vorrausetzung für den Erfolg'

Am 23. und 24. Juni treffen sich in Brandenburg rund 250 Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten und Pflegekräfte zu einem  bundesweiten Kongress der konservativen Orthopädie. Sie behandeln Patienten bei schmerzhaften Beschwerden des Bewegungsapparates mit einem multimodalen Therapiekonzept – und operieren eben nicht.

rbb Praxis hat mit Dr. Wolfram Seidel, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin und Chefarzt der Sana Kliniken Sommerfeld, über nichtoperativ-orthopädische Therapieverfahren gesprochen.

Herr Dr. Seidel, die Medizin bietet zahlreiche nichtoperative Therapieverfahren bei Beschwerden des Bewegungsapparates – welche nutzen Sie in Ihrer Klinik?

Die gewählten Verfahren sind abhängig von den Beschwerden des Patienten und den Befunden, welche die verschiedenen Fachbereiche bei der Eingangsuntersuchung erheben. Wir verordnen manuelle Therapie, physikalische Verfahren mit Krankengymnastik, Elektrotherapie und Hydrotherapie, aber auch Psychotherapie und medikamentöse Behandlung. Dabei verfahren wir nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern verordnen die Behandlungen ganz individuell anhand der Untersuchungsergebnisse.

Und wie verbreitet sind diese Verfahren bei chronischen Leiden des Bewegungsapparates?

Leider zu wenig, vor allem in der notwendigen Intensität und Kombination. Viele Kliniken operieren mehr als sie konservativ behandeln. 2014 haben Orthopäden hierzulande 245.000 Patienten an der Wirbelsäule und weitere 150.000 an der Bandscheibe operiert. Nur 70.000 Patienten wurden dagegen mit einem multimodalen Therapiekonzept behandelt. Das ist paradox: Patienten, die sich mit einer OP-Indikation für eine Zweitmeinung vorstellen, bekommen nur in 30 bis 50 Prozent der Fälle tatsächlich die Empfehlung für einen operativen Eingriff. Wir brauchen also viel häufiger konservative, allumfassende Therapien.

Können Sie kurz beschreiben, wie bei Ihnen in der Klinik die Therapie eines Patienten mit chronischen Rückenschmerzen aussieht?

Ein Team aus Arzt, Psychologen, Physiotherapeuten sowie einer schmerzmedizinisch ausgebildeten Pflegekraft befragen den Patienten zu seinen Beschwerden und untersuchen ihn gründlich. Das Team entscheidet, ob dem Patienten ein Aufenthalt in unserer Klinik helfen könnte und stellt eine Prioritätenliste auf, welche Symptome behandelt werden sollten. Bei dem einen stehen die muskulären Verspannungen im Vordergrund, der andere Patient hat aufgrund der Schmerzen eine depressive Symptomatik entwickelt. Um das einzuschätzen, braucht es viel Erfahrung. Entscheidet sich der Patient für einen Aufenthalt in der Klinik, bekommt er einen Stundenplan ausgehändigt, der vier bis sieben therapeutische Einheiten pro Tag umfasst. Am Ende seines 13- bis 18-tägigen Aufenthaltes hat er bis zu 100 Stunden Therapie absolviert.

Das klingt sehr intensiv.

Wir wissen heute dank wissenschaftlicher Untersuchungen, dass Programme mit 80 bis 100 Stunden besonders nachhaltig wirken. Die ANOA, unsere Fachgesellschaft, hat gerade eine Studie mit 249 Rückenschmerzpatienten durchgeführt. Sie wurden sechs und 12 Monate nach einem Aufenthalt in einer von acht ANOA-Kliniken befragt. Ihre Beschwerden hatten sich nicht nur direkt nach dem Klinikaufenthalt, sondern sogar noch nach einem Jahr gebessert.

Sie haben gerade ANOA erwähnt. Wofür steht das?

Die ANOA ist die wissenschaftliche Fachgesellschaft der nichtoperativ- orthopädischen Kliniken in Deutschland. Die Mitglieder haben sich auf akute und chronische Erkrankungen des Bewegungssystems sowie einige chronische Schmerzerkrankungen spezialisiert. Insgesamt sind bundesweit 30 Kliniken im ANOA-Verbund.

Beim Kongress am Wochenende werden einige Kliniken mit dem ANOA-Siegel zertifiziert.

Das Qualitätssiegel wurde von der ANOA entwickelt; bundesweit sechs Kliniken in Hamm, Bad Wildbad, St. Goar-Oberwesel, Lahnstein, eine Klinik in der Nähe von Darmstadt sowie unsere Klinik werden zertifiziert. Das Siegel soll Patienten helfen eine Klinik zu finden, die qualitativ hochwertige, komplexe Behandlungen im nichtoperativen Bereich anbietet. Das ANOA-Siegel wird in diesem Jahr übrigens erstmalig vergeben.

Worauf schauen die Prüfer, die das Siegel vergeben?

Geprüft werden die Ausstattung der Klinik mit Personal, Räumen und medizinischen Geräten. Die Prüfer des Zertifizierungsinstituts ClarCert schauen aber auch auf die Qualität und Quantität der Behandlungsinhalte. Schließlich fließt auch die Qualität der Behandlungsergebnisse ein. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen: Geht es den Patienten nach der multimodalen Behandlung wirklich langfristig besser?

Und, ist das so?

Die multimodale Intensivtherapie bewirkt etwas bei den Patienten; sie verändern ihr Leben, lernen anders mit dem Schmerz umzugehen und entwickeln Strategien für den Alltag. Klar, ein chronisch kranker Patient bleibt ein chronisch kranker Patient. Aber er kann lernen, das Beste draus zu machen. Rund 80 Prozent der Patienten profitieren von unserem Therapiekonzept.

Auch Ihre Klinik, die Sana Sommerfeld Klinik in Kremmen in Brandenburg, wird am Freitag das Siegel erhalten.

Wir sind eine der größten Schmerzkliniken Deutschlands und Gründungsmitglied der ANOA. Seit 30 Jahren beschäftigen wir uns mit der konservativ-manuellen Therapie bei Schmerzen des Bewegungsapparates. Mit einer Handvoll anderer Kliniken haben wir 2002 die Bewilligung des multimodalen Therapiekonzeptes bei den Kostenträgern vorangetrieben. Denn unsere Patienten sind nicht nur länger in der Klinik als bei anderen Therapien; die Behandlung ist auch sehr viel aufwändiger.

Was macht Ihre Klinik so besonders?

Unsere Mitarbeiter sind oft schon sehr lange bei uns und haben viel Erfahrung. Sie sind nicht nur fachlich sehr kompetent, sondern auch sehr emphatisch und beschäftigen sich intensiv mit den Patienten. Das ist sehr wichtig, denn die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist eine gute Beziehung zum Patienten. Der Erfolg der letzten Jahre gibt uns Recht: Als wir vor 30 Jahren anfingen, gab’s eine Station mit 20 Betten. Heute hat unsere Klinik Platz für 180 Patienten.

Stellen Sie einen Trend fest zur konservativen Therapie bei chronischen Erkrankungen des Stütz- und Bewegungssystem?

Von einem Trend würde ich nicht sprechen. Die konservative Therapie in dem beschriebenen Setting ist noch zu gering verbreitet. Patienten werden dadurch teilweise unter- oder fehlversorgt. Aber wir merken, dass das Interesse von Ärzten und Patienten zunimmt. Auch deshalb treffen wir uns am kommenden Wochenende.

Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Seidel.
Das Interview führte Constanze Löffler.

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