Symbolfoto: Computerspieler (Quelle: imago images / Westend61)
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Interview | Videospielsucht - 'Vor lauter Spielen keine Zeit zum Essen'

Beim Zocken vergeht die Zeit oft wie im Flug. Aber was, wenn Jugendliche nicht mehr vom Bildschirm wegkommen, in der Schule immer schlechter werden oder kaum noch essen, weil der nächste Level winkt? Dr. Jakob Florack ist Kinder- und Jugendpsychiater und Oberarzt im Vivantes Klinikum im Friedrichshain. Dort bietet er eine Spezialsprechstunde für videospiel- und internetabhängige Jugendliche an. rbb Praxis hat mit ihm gesprochen.

Herr Dr. Florack, wann ist jemand süchtig nach Videospielen?

Wenn er die Kontrolle über das Spielen verliert. Wenn sich jemand zum Beispiel vornimmt, an einem Tag nur zwei Stunden zu spielen, es aber nicht schafft. Wenn das Spielen immer mehr Raum im Leben einnimmt. Wenn er das restliche Leben – Schule oder Freunde – immer stärker vernachlässigt. Und wenn er immer weiter spielt, obwohl er erkennt, dass es bereits negative Auswirkungen hat. Typisch ist etwa, dass die Jugendlichen nichts mehr essen, weil sie vor lauter Spielen keine Zeit dafür haben. Manche essen aber auch übermäßig viel. Andere vernachlässigen die Körperhygiene.

Wie viele sind betroffen?

Man schätzt, dass ein bis fünf Prozent der Jugendlichen von einer krankhaften Videospielsucht betroffen sind. Aber genaue Zahlen sind schwer zu erheben. Bei der Geschlechterverteilung ist es eindeutiger: Etwa 95 Prozent der Jugendlichen, die in unsere Sprechstunde kommen, sind Jungen.

Viele Jugendliche spielen täglich ein paar Stunden, ohne dass man sie als süchtig bezeichnen würde. Ab wann wird es problematisch?

Das ist meist ein schleichender Prozess. Aber es gibt fast immer einen Kipppunkt. Meist ist das der Fall, wenn Misserfolge im realen Leben auftreten. Zum Beispiel, wenn jemand vor lauter Spielen die Schule vernachlässigt und schlechte Noten bekommt. Aber anstatt sich hinzusetzen und vor der nächsten Klassenarbeit mehr zu lernen, versucht man, die schlechten Gedanken, die mit der Note verbunden sind, durch positive Gefühle zu kompensieren – und zwar durchs Spielen. Da beginnt häufig ein Teufelskreis.

Wie schaffen es Spiele, Jugendlichen solche Erfolgserlebnisse zu verschaffen?

Am wichtigsten ist die Belohnung. Das funktioniert so, dass man mit seiner Spielfigur recht schnell immer höhere Stufen erreichen oder bessere Ausrüstung bekommen kann. In der realen Welt geht das nicht so einfach: In Mathe lerne ich heute die binomischen Formeln, damit ich vielleicht irgendwann einmal das Abitur bestehe. Das ist aber für die meisten Jugendlichen viel zu abstrakt. Spiele belohnen dagegen sehr viel schneller. Sorgen macht mir, dass viele aktuelle Games so angelegt sind, dass man möglichst viel Zeit darin verbringt.

Welche Spiele sind besonders häufig Thema in Ihrer Sprechstunde?

Derzeit ist das immer noch "Fortnite": Man landet als Spieler in einer comichaften Welt, und wer am Schluss noch lebt, gewinnt. Vorher war "League of Legends" besonders beliebt, aber auch Smartphone-Spiele wie "Brawl Stars" sind immer wieder Thema. Bezahlpflichtige Online-Rollenspiele wie "World of Warcraft" spielen dagegen eher im Erwachsenenbereich eine Rolle. Die Spiele, die bei Jugendlichen beliebt sind, sind zum Einstieg meist erstmal kostenlos, aber im Verlauf kann man sich mit echtem Geld zum Beispiel bessere Ausrüstungsgegenstände kaufen. In manchen Fällen werden die Eltern erst aufmerksam, wenn Hunderte Euro von der Kreditkarte des Vaters oder der Mutter abgebucht worden sind.

Wie ist von diesem Punkt der Weg in Ihre Sprechstunde?

Die meisten stellen sich auf Wunsch der Eltern vor. Häufig ist der Anlass, dass es zu Hause heftigen Streit wegen des exzessiven Spielens gibt. Oft haben die Eltern das Spielen lange Zeit überhaupt nicht eingeschränkt, verbieten es dann aber vom einen auf den anderen Tag komplett. Dann eskaliert mitunter die Situation. Ein ehemaliger Patient von mir hat etwa sein einjähriges Geschwisterkind immer wieder geweckt, es fing dann an zu schreien. Bis irgendwann die Mutter die Nerven verlor und den WLAN-Router wieder anschloss. Der gleiche Junge stand eines Abends mit einem Hammer vor den Eltern und drohte zuzuschlagen. Ein ansonsten sehr ausgeglichener Junge! Das zeigt, dass Spielsucht wirklich krankheitswert hat.

Wer sollte zu Ihnen kommen?

Wir fühlen uns zuständig für die Schwerstbetroffenen, bei denen eindeutig eine psychische Erkrankung vorliegt. Vorher sollte man sich selbst zum Thema informieren, zum Beispiel auf der sehr guten Webseite www.schau-hin.info. Im zweiten Schritt sollte man eine medienpädagogische Beratung aufsuchen. In Berlin gibt es dafür die Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Wenn das alles nicht fruchtet, ist der Weg zu uns richtig. Dann geht es darum, die Jugendlichen zu einer Therapie zu motivieren.

Wie machen Sie das?

Die Jugendlichen sehen nicht die Spiele als Ursache ihrer schulischen Probleme. Sie wehren oft ab, dass es überhaupt ein Problem gibt. Unsere Aufgabe als Ärzte ist es dann, zu verstehen, was die Teenager an den Spielen fasziniert. Nur auf diesem Weg können sie zu einer Einsicht kommen, dass es vielleicht doch ein Problem gibt. Und das ist die Voraussetzung für eine Therapie. Die meisten behandeln wir dann ambulant, in Form regelmäßiger Psychotherapiegespräche. Wenn sie wollen, können sie an einer Gruppentherapie teilnehmen, insgesamt zehn Sitzungen alle zwei Wochen.

Dürfen die Jugendlichen dann nie mehr spielen?

Bei uns geht es nicht darum, komplett auf das Spielen zu verzichten. Ziel ist eher, die Spielzeit zu beschränken oder bestimmte Genres nicht mehr zu spielen, die einem Probleme bereitet haben, etwa Rollenspiele. Und: Man kann das Spielen schlecht durch etwas Unattraktives ersetzen. Deshalb gilt es, Freizeitbeschäftigungen zu finden, die den Jugendlichen Spaß machen.

Wie viele schaffen das?

Wenn die Jugendlichen die Therapie durchziehen, sind die Aussichten gut. Es gibt aber auch viele, die keine Therapie wollen oder zwischendurch aussteigen. Wir sind gerade dabei, Zahlen dazu zu erheben.

Was empfehlen Sie Eltern, die sich Sorgen machen, dass Ihr Kind zu viel spielt?

Wenn man Eltern fragt, welches Spiel ihr Kind da eigentlich die ganze Zeit spielt, wissen es viele gar nicht. Ich empfehle, sich mal eine halbe Stunde hinzusetzen und sich das Spiel zeigen zu lassen. Die Jugendlichen bekommen dann leuchtende Augen, viele haben Lust darauf, das zu erklären. Darüber kann man ins Gespräch kommen. Außerdem rate ich zu klaren Regeln. Und zwar möglichst von Anfang an, ab dem Moment, wenn man die Konsole anschließt. Diese Regeln sollte man auch unbedingt konsequent einhalten. Dabei können technische Beschränkungen helfen: Wenn die Konsole nach zwei Stunden automatisch ausgeht, sind die Jugendlichen nicht so wütend, wie wenn die Mutter ins Zimmer kommt und den Fernseher ausschaltet.

Wie viel spielen Sie denn selbst?

Aufgrund von Zeitmangel weniger als ich gerne würde. Vielleicht an zwei Abenden pro Woche.

PC oder Konsole?

Beides. Mit meinem fünfjährigen Sohn spiele ich manchmal "Mario Kart", das macht uns beiden viel Spaß. Überhaupt glaube ich, dass Videospiele viel wertvolles Potenzial haben. Es betrifft einige wenige, die damit große Probleme haben, und denen wollen wir helfen.

Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Florack!
Das Interview führte Florian Schumann.

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