Interview | Traumatisierte Flüchtlinge - Hilfe zur Selbsthilfe

Über eine Million Flüchtlinge suchen dieses Jahr Schutz vor Krieg und Verfolgung in Deutschland. Viele von ihnen haben sehr belastende Erlebnisse hinter sich: Verlust von Familienangehörigen, Gewalt, Vertreibung, Vergewaltigung. Der Berliner Psychiater und Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Prof. Andreas Heinz entwickelt gerade ein psychosoziales Selbsthilfetraining für Flüchtlinge. Sein Ziel: Hilfe zur Selbsthilfe. 

Herr Professor Heinz, wie ist die Idee zu dem Selbsthilfetraining entstanden?

Ich habe selbst mehrfach in Kabul gearbeitet, um dort das psychiatrische Gesundheitsnetz aufzubauen und mit den Kollegen Weiterbildung zu machen vor Ort. In Afghanistan mit 30 Millionen Einwohnern geht man davon aus, dass etwa die Hälfte der Bevölkerung Kriegstraumata hinter sich hat. Und es gibt nicht ansatzweise ein psychiatrisches Versorgungsnetz, was diese Menschen auffangen könnte. Das heißt in solchen Situationen müssen sie viel mehr auf die Ressourcen der Beteiligten setzen. Und das übertragen wir gerade auf Deutschland. Wir wollen ein Angebot schaffen, das möglichst viele Menschen erreicht und das bei den geflüchteten Menschen auf deren Stärken setzt.

Wie viele Flüchtlinge in Deutschland brauchen psychologische Unterstützung?

Das ist schwer zu sagen, weil es dazu keine repräsentativen Erhebungen gibt. Sie können aber davon ausgehen, dass auch in der deutschen Bevölkerung rund ein Drittel der Menschen psychische Beeinträchtigungen bis hin zu Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen haben. Das wird bei den Flüchtlingen nicht grundlegend anders sein. Dann kommen schätzungsweise 20 bis 40 Prozent hinzu, die durch die Erlebnisse der Flucht und des Krieges zusätzlich belastet sind. Von denen haben jetzt nicht alle eine sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung, weil nicht alle Menschen gleich auf solche Erlebnisse reagieren. Aber wir können schon davon ausgehen, dass rund die Hälfte der Flüchtlinge Unterstützung braucht, sei es Selbsthilfegruppen oder im Einzelfall auch durch individuelle Therapien.

Wie können Flüchtlinge, die solche belastenden Erfahrungen gemacht haben, sich selbst helfen?

Natürlich muss man unterscheiden zwischen denjenigen, die eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung haben und denen, die nicht so schwer betroffen sind. Es gibt sicher Fälle, in denen Selbsthilfe an ihre Grenzen kommt. Andererseits darf man aber die Kräfte und Fähigkeiten der Flüchtlinge nicht unterschätzen. Sie haben einen langen schweren Weg hinter sich, den sie ja erfolgreich bewältigt haben. Darauf sollte man bei der Idee der Selbsthilfe aufbauen. Es ist für Menschen manchmal viel heilsamer, wenn sie die Erfahrung machen, dass sie selbst etwas bewirken können, als wenn sie vor fertige Angebote gesetzt werden.

Wie sieht dieses psychosoziale Selbsthilfetraining konkret aus?

Das Training besteht aus zwei Säulen. Zum einen wollen wir den Betroffenen bestimmte Techniken vermitteln, mit denen sie sich in stressigen Situationen selbst beruhigen können. Das sind vor allem Atemtechniken, aber auch Übungen zur Muskelentspannung nach Jacobson. Es ist ja so, dass die Flüchtlinge meist in großen Unterkünften ohne Privatsphäre leben. Da kann es gerade bei Menschen, die durch Gewalterfahrungen während der Flucht sehr dünnhäutig geworden sind, schnell zu Aggressionen kommen. Wenn sie denen eine Technik an die Hand geben, sich in solchen Situationen selbst zu beruhigen, ist schon viel gewonnen.

Die andere Säule besteht aus moderierten Gesprächen in einer Gruppe mit etwa zehn Personen. Das soll den Menschen die Gelegenheit geben, über ihre Flucht zu sprechen und sich damit auch ein Stück davon zu distanzieren bzw. zu erleben, dass andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Diese Gruppen müssen natürlich in den entsprechenden Sprachgruppen stattfinden; wir werden da wahrscheinlich mit Arabisch und Dari anfangen, das ist eine Form des Persischen, die in Afghanistan gesprochen wird. In diesen Gruppen sollen die Flüchtlinge auch erfahren, wie zum Beispiel das deutsche Gesundheitssystem funktioniert und wo sie Hilfe bekommen können.

Wie sieht die konkrete Umsetzung aus?

Ich arbeite da mit zwei erfahrenen Psychotherapeuten zusammen: Rony Berger, der sich für die Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern einsetzt und Inge Missmahl, die ich von meiner Arbeit in Afghanistan kenne. Wir bilden gerade 20 Personen aus, die aus medizinischen Bereichen kommen und die solche Gruppen anleiten können. Ich hoffe, dass wir im Dezember damit fertig sind und dann konkret in den Flüchtlingsheimen in Berlin Werbung für unser Projekt machen können.

Natürlich ist die Sprachbarriere ein Problem. Aber die Idee ist, dass möglichst viele betroffene Flüchtlinge das Selbsthilfetraining erlernen und es dann an ihre Landsleute weitergeben können. Wir hoffen, dass dadurch ein Schneeballprinzip entsteht, mit dem das Wissen um diese Selbsthilfe schnell weiter verbreitet werden kann. Der andere positive Effekt dabei ist, dass diejenigen die ihr Wissen weiter geben, aktiv werden und wieder neues Selbstbewusstsein erlangen. Solche Erfahrungen sind für Flüchtlinge, die nicht arbeiten dürfen und oft monatelang auf ihre Aufenthaltsgenehmigung warten müssen, sehr heilsam.

Richtet sich das Selbsthilfeprogramm auch an Kinder und Jugendliche?

Ich denke, Jugendliche können durchaus an diesen Selbsthilfegruppen teilnehmen. Für Kinder muss man andere Strategien entwickeln; da arbeiten wir eng mit Kollegen von der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus Ulm zusammen und werden in einem nächsten Schritt auch für diese Gruppe Angebote schaffen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Prof. Heinz.

Das Interview führte Ursula Stamm

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