Ein Haufen bunter Pillen (Quelle: Colourbox)
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Patientensicherheit - Medikamentencocktail: Unterschätzte Mixtur

Mit jedem zusätzlichen Medikament nimmt die Gefahr für unerwünschte Wechselwirkungen zu. Ein vomGemeinsamen Bundesausschuss gefördertes Projekt will Ärzte dabei unterstützen, Patienten nebenwirkungsärmer zu therapieren. Im Zentrum steht ein digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management. Die rbb Praxis informiert.

Zwei Medikamente gegen Bluthochdruck, zwei für einen kräftigeren Herzschlag, ein Blutverdünner, ein Fettsenker – solch ein Potpourri an Medikamenten ist für viele ältere Patienten Normalität. Der Arzneimittelverordnungsreport 2016 zählt 20 Millionen Deutsche, die drei und mehr Medikamente einnehmen.
 
International sieht es ähnlich aus: In einer Studie mit 1.600 Patienten aus sechs Ländern, die mindestens 65 Jahre alt waren, schluckte im Schnitt jeder sieben Arzneimittel. Bei jedem zweiten Studienteilnehmer war mindestens eine Kombination kritisch. "Die Gefahren, die aus der Polymedikation resultieren, werden unterschätzt", sagt Daniel Grandt, Mitglied der Arzneimittelkommission und Internist in Saarbrücken. "Mit jedem zusätzlichen Medikament steigt das Risiko vermeidbarer Neben- und Wechselwirkungen."

Mindestens fünf Medikamente

Von Polymedikation sprechen Experten, wenn Patienten fünf und mehr Medikamente schlucken. "Aber nicht erst ab fünf Arzneimitteln können Risiken durch ungeeignete Kombination entstehen", warnt Grandt. Studien zufolge leiden zehn Prozent dieser Patienten unter vermeidbaren Nebenwirkungen. Medikamente, die ungünstig zusammenwirken, verursachen schätzungsweise jede fünfte Krankenhauseinweisung. Rund 25 000 Menschen sollen jährlich an den Folgen falsch kombinierter Arzneien sterben. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil viele dieser Todesfälle nicht der Medikation, sondern der Erkrankung zugeschrieben werden. Ein bisher ungelöstes Problem. Anfang Februar 2018 startete nun ein Projekt, mit dessen Hilfe Mehrfachkranke zukünftig sicherer und gesünder therapiert werden könnten: AdAM. Das Management-System soll Lösungen für große Probleme schaffen.

Leitlinien gehen nicht Hand in Hand

Ein solches Problem: Die Therapieempfehlungen zur Behandlung einzelner Erkrankungen sind untereinander nicht abgestimmt, bemängelt Internist Grandt. So überblicken die meisten Kollegen bei der Behandlung multimorbider Patienten nur ihr Gebiet.
 
Der Gastroenterologe behandelt lediglich die Gallensteine, der Diabetologe den erhöhten Zucker, der Urologe die vergrößerte Prostata. Was der Kollege ein paar Straßen weiter für rezepte verschreibt und ob sich die Medikamente vertragen, ist zweitrangig. Doch was gut für die Behandlung der einen Krankheit ist, kann andere gesundheitliche Probleme verschlimmern. "Bislang berücksichtigen die Leitlinien unzureichend die Möglichkeiten des Bestehens weiterer Erkrankungen", bedauert der Chefarzt des Klinikums Saarbrücken.

Studien ohne Bezug zur Realität

Für Grandt beginnt das Problems allerdings weitaus früher: Die meisten Studien werden mit Patienten gemacht, die nur an einer Erkrankung leiden, deutlich jünger sind und daher meist noch viel länger leben, als die Patienten beim Hausarzt um die Ecke. Mehrfach Erkrankte sind in den meisten Fällen als Studienpopulation erst gar nicht gewünscht, könnten sie doch die Wirksamkeitsergebnisse negativ beeinflussen. Für Grandt ist deshalb klar: "Die Resultate dieser Studien lassen sich nur bedingt auf die Patienten in den Praxen übertragen, die typischerweise im Sprechzimmer des Hausarztes sitzt."

AdAM soll es richten

Ändern soll das ein Projekt mit dem komplizierten Titel "Anwendung für ein digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management", kurz AdAM. Nach Abruf der aktuellen Medikamente bei der Krankenkasse unterstützt eine Software den Arzt bei der Sicherheitsprüfung der Medikation. Auch seltene, vielleicht so geläufige Wechselwirkungsrisiken kann er damit sicher erkennen. Zudem erarbeiten in AdAM Experten aus zahlreichen Fachgesellschaften Handlungsempfehlungen dazu, wie die Therapie ablaufen sollte, wenn ein Patient an mehreren Erkrankungen leidet. Initiiert wurde das Projekt von der Barmer Ersatzkasse und der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) und soll nach erfolgreichem Test bundesweit in der Routineversorgung eingesetzt werden. Allein – die dafür notwendige Datenbank existiert noch nicht.

Problem: Großes Spektrum der Nebenwirkungen vieler Wirkstoffe

Was macht das Problem mit Wechselwirkungen so kompliziert? Medikamente, die miteinander wirken, schwächen die Effekte anderer Arzneien bis zur völligen Wirkungslosigkeit ab oder verstärken sie derart, dass die Patienten gesundheitliche Probleme erleiden. Magenbluten, Nierenschäden, Stürze und Verwirrtheit sind nur einige der Folgen. Eine US-amerikanischen Untersuchung besagt, dass dafür vor allem vier Medikamentenklassen verantwortlich sind: Blutverdünner und Zuckersenker, die man schluckt, Schmerzmedikamente sowie Insuline.
 
Ein Beispiel: Die bei Herzmuskelschwäche eingesetzten ACE-Hemmer führen zu akutem Nierenversagen, wenn man sie mit dem Schmerzmittel Ibuprofen kombiniert. Schluckt jemand Ibuprofen und zusätzlich den Blutverdünner ASS, steigt das Risiko für einen Herzinfarkt. Oder das Antidepressivum Citalopram: Gemeinsam mit einem Magensäureblocker eingenommen erhöht sich der Wirkstoffspiegel um bis zu 50 Prozent. Die Folge sind Herzrhythmusstörungen bis hin zum plötzlichen Herztod.

Selbst pflanzliche Arzneimittel mit Nebenwirkungen

Auch vermeintlich harmlose pflanzliche Arzneien verursachen Nebenwirkungen: Johanniskraut beispielsweise reagiert mit vielen Wirkstoffen. Es aktiviert bestimmte Leberenzyme, sodass zahlreiche Arzneimittel schneller abgebaut und damit wirkungslos werden. Aufgefallen war das zunächst bei Patienten mit frischen Transplantationen. Obwohl sie Medikamente bekamen, die das Immunsystem dämpfen sollten, erlebten sie plötzlich eine Organabstoßung. Im Nachhinein wurde klar, dass sie Johanniskraut genommen hatten. Auch bei Blutverdünnern, der Antibabypille und Psychopharmaka kann Johanniskraut die Wirkung aufheben.

Medikation einfach weglassen

Manchmal hilft es auch, das eine oder andere Präparat ganz wegzulassen. Schätzungsweise 15 bis 20 Prozent der Medikamente sind nach prüfung gar nicht erforderlich. "Wir sollten uns häufiger die Frage stellen, welche Arzneien die Patienten wirklich noch benötigen", meint auch Mediziner Grandt.
 
Ein Beispiel dafür liefern die sogenannten Statine oder Blutfettsenker, die bei erhöhtem Cholesterinspiegel nach Herzinfarkten verschrieben werden. Sie schwächen auch die Muskulatur. Ältere Menschen stürzen unter der Medikation häufiger oder werden eher bettlägerig. In einer US-Studie stoppten knapp 200 hochbetagte Probanden die Einnahme der Pillen. Sie freuten sich danach über eine bessere Lebensqualität und lebten genauso lange wie diejenigen, die die Pillen weiter nahmen.

Arzneimittel-Sicherheitstüte

Und bis AdAM greift? Solange liegt zumindest ein Teil der Verantwortung bei den Patienten. Apothekerin Margit Schlenk hat die "Arzneimittel-Sicherheitstüte" erfunden. Mittlerweile bieten etwa 400 Apotheken in Deutschland den Service an. Die Patienten packen alle ihre Medikamente hinein – die, die der Arzt ihnen verschreibt und die, die sie sich selbst kaufen. Die Tüte geben sie in der Apotheke ab. Schlenk wertet das Sammelsurium aus. Ihre Bilanz ist alarmierend: "Ich finde bei Jedem etwas", sagt die Expertin. Gleichzeitig räumt sie ein: "Bei den vielen Präparaten auf dem Markt ist es eine Kunst, alle Wechselwirkungen im Auge zu haben." Ohne pharmakologisches Fachwissen sei das quasi unmöglich.

Medikationsplan ausfüllen

Internist Grandt appelliert an die Patienten, wenigstens den bundeseinheitlichen Medikationsplan ausgefüllt und aktuell mit sich zu führen. Seit Oktober 2016 haben Patienten das Recht auf eine solche Übersicht, sobald sie drei und mehr Präparate einnehmen. Hier finden sie Handelsnamen, Inhaltsstoffe und Einnahme-Infos. Der Plan will Informationslücken bei Patienten und Ärzten schließen.
 
"Die Leute sollten ihn immer bei sich tragen und darauf drängen, dass jeder Arzt die von ihm verordneten Medikamente einträgt", fordert Grandt. Selbstverständlich, dass auch alle frei verkäuflichen Arzneien, Nahrungsergänzungsmittel und naturheilkundlichen Präparate auf die Liste gehören.

Beitrag von Constanze Löffler

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