Gehirn geformt aus Puzzleteilen (Quelle: imago/Science Photo Library)
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Interview l Amnesie - Wenn das Gedächtnis vergisst

Menschen mit einer Amnesie erinnern sich nicht mehr, wer sie sind, wen sie gestern getroffen haben oder wie ihre Kinder heißen. Die rbb Praxis hat mit Dr. Derek Ott über Gedächtnisverluste gesprochen. Der Neurologe arbeitet am Unfallkrankenhaus in Berlin Marzahn und trifft als Notarzt häufig Menschen mit Erinnerungslücken.

Herr Dr. Ott, erinnern Sie sich noch an einen besonders kuriosen Fall mit einer Amnesie?
 
Ja, damals muss ich acht oder neun Jahre gewesen sein und wir waren auf den 100. Geburtstag einer Urgroßtante eingeladen. Jedes Mal, wenn sie mich an dem Abend entdeckte, sagte sie: "Ich weiß nicht, ob wir uns kennen, aber ich bin die Tante Suse". Das war wirklich schräg.
 
Später, da war ich längst Arzt, erinnere ich mich an einen Patienten, der Epileptiker war. Typischerweise haben diese Patienten nach einem Anfall eine Amnesie. Der Mann war in Unterwäsche über den Hermannplatz in Neukölln spaziert. Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern.

Wie oft treffen Sie bei Ihrer Arbeit Menschen mit einer Amnesie?
 
Das kommt ganz darauf an, wohin wir gerufen werden. Im Pflegeheim ist es alltäglich, dass viele Patienten vergesslich geworden sind. Ein deutlich selteneres Phänomen ist die sogenannte transiente globale Amnesie, kurz TGA. In einer Stadt wie Berlin gibt es davon 100 bis 150 Fälle pro Jahr. Die Menschen erinnern sich weder an die unmittelbare Vergangenheit noch können sie sich Neues merken – sie haben eine globale Amnesie.
 
Wie es dazu kommt, wissen wir nicht. Zum Glück ist die TGA harmlos und spätestens nach einem Tag vorüber. Dass ich zu jemandem gerufen werde, der völlig gesund ist und sich plötzlich an nichts mehr erinnern kann, das ist mir in zehn Jahren Berufsleben vielleicht fünf Mal passiert.  

Amnesie, was ist das überhaupt?
 
Der Begriff hat seinen Ursprung im altgriechischen "Mneme" und heißt so viel wie Gedächtnis oder Erinnerung. Das "A" im Wort drückt das Gegenteil aus. Vereinfacht gesagt bedeutet Amnesie also Erinnerungs- oder Gedächtnisstörung. Meist ist das sogenannte deklarative Gedächtnis betroffen. Es speichert persönliche Erlebnisse und Faktenwissen. Das prozedurale Gedächtnis sammelt erlernte Fähigkeiten, wie Fahrrad fahren oder ein Instrument spielen. Es bleibt von einer vorübergehenden Amnesie normalerweise unberührt.

Amnesie ist nicht gleich Amnesie.
 
Richtig. Erinnerungslücken dauern wenige Sekunden bei einer Ohnmacht, ein paar Minuten nach einer Gehirnerschütterung oder ein, zwei Stunden infolge einer durchzechten Nacht. Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer oder Morbus Pick vergessen die Betroffenen nach und nach alles – bis zum kompletten Identitätsverlust.
 
Wir unterscheiden noch zwischen retro- und anterograder Amnesie – abhängig davon, ob die Leute zurückliegende Dinge vergessen oder sich nichts Neues merken können.

Welche organischen Veränderungen im Gehirn führen zur Amnesie?

Bei Gedächtnisbildung und -abruf spielen mehrere Strukturen eine zentrale Rolle, beispielsweise der Hippocampus. Er heißt so, weil seine Form an ein Seepferdchen erinnert. Der Hippocampus liegt in der Tiefe des Gehirns und ohne ihn wäre es unmöglich, sich an Dinge zu erinnern. Auch bei einer dementiellen Erkrankung ist die Hirnstruktur betroffen. Hier führt aber vor allem die zerstörte Großhirnrinde zur Amnesie – die zweite wichtige Region für Erinnerungen.

Wie entstehen Störungen der Gedächtnisfunktion?

Bei jungen Leuten schädigen meist Alkohol oder andere Rauschmittel den Hippocampus. Im mittleren Erwachsenenalter bis 60 Jahre spielen mitunter psychische Gründe eine Rolle, beispielsweise eine Depression. Depressive können Schwierigkeiten haben, sich zu erinnern und zu orientieren. Wir sprechen dann von der depressiven Pseudodemenz. Die Probleme verschwinden, wenn die Patienten gut behandelt sind. Ältere Menschen haben oft neurodegenerative Erkrankungen. Bis heute wissen wir nicht genau, wie beispielsweise Alzheimer, im Hippocampus wirken. Auch chronischer Bluthochdruck oder Gefäßerkrankungen schädigen gedächtnisrelevante Strukturen und löschen Erinnerungen aus.

Was mache ich als Angehöriger oder Freund, wenn ich bei meinem Gegenüber eine Amnesie bemerke?
 
Wenn jemand schlagartig verwirrt ist oder sein Gedächtnis verliert, sollte man immer den Rettungsdienst rufen. Die Person könnte auch einen Schlaganfall erlitten haben und dann zählt jede Minute. Bei schleichenden Gedächtnisstörungen empfiehlt es sich, eine Gedächtnissprechstunde aufzusuchen. Das ist häufig ein heikles Thema, vor allem bei Angehörigen. Wie sagt man jemandem, dass er zunehmend wunderlicher wird? 

Kann eine Amnesie lebensbedrohlich sein?
 
Bis auf ganz seltene Ausnahmen – nein.

Kann ich selbst etwas tun, um meinen Erinnerungen nach einer Amnesie auf die Sprünge zu helfen?
 
Da gibt es ein paar Strategien, die allerdings nicht immer erfolgreich sind. Man kann sich beispielsweise gedanklich in die Situation versetzen, in der man die aktuell nicht erinnerlichen Dinge erfahren hat – wer hat mir beispielsweise davon erzählt oder in welchem Raum war das? Oder man spricht leise das Alphabet auf. Gelegentlich fällt einem dann der Name oder der fehlende Begriff bei dem betreffenden Buchstaben ein. Bei einem krankhaften Erinnerungsverlust ist es allerdings schwierig, dagegen therapeutisch anzugehen.

Können wir einer Amnesie vorbeugen?
 
Studien zu verschiedenen gedächtnisfördernden Substanzen haben bislang keine Wirkung gezeigt. Selbst für Gingko, das meist verkaufte gedächtnisfördernde Präparat, gibt es keine belastbaren Studien, dass es die Gedächtnisfunktion verbessert.

Lässt sich denn das Gedächtnis zumindest schulen?
 
Es gibt ein paar Tricks, damit das Gehirn leistungsfähiger ist: Zahlenreihen oder Begriffe lassen sich besser merken, wenn man sie durch eine kleine Geschichte miteinander verknüpft. Die Erinnerung fällt umso leichter, wenn diese Geschichte lustig, absurd oder mit sexuellen Inhalten verbunden ist, weil diese uns besonders emotional berühren.

Dr. Ott, vielen Dank für das Gespräch!
 
Das Interview führte Constanze Löffler

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