Junge misst Bauchumfang (Quelle: Colourbox)
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Interview l Ernährung - "Mehr dicke Kinder - das ist ein Mythos"

Die Deutschen und ihre Kinder werden immer dicker und ungesünder - so eine These, die Studien, Berichte und politische Analysen regelmäßig zu bestätigen scheinen. Längst ist daraus ein Problembewusstsein entstanden, das besonders Eltern, umtreibt - aber zu Unrecht sagt der Autor und Ernährungswissenschaftler Uwe Knop. rbb Praxis hat mit ihm gesprochen.

Die Politik diskutiert die Zuckersteuer und nach Ergebnissen aus der 2. Welle der KiGGS-Studie des RKI titelte z.B. die FAZ: "Deutschlands Kinder sind immer noch zu dick". Haben wir - und haben die Kinder in Deutschland - Ihrer Meinung nach ein Gewichtsproblem?
 
Nein, haben sie nicht, denn wenn man sich die Zahlen mal anschaut und sieht, das 94,1 Prozent der Kinder und Jugendlichen eben nicht fettleibig sind, dann sieht man, dass es kein Problem gibt. Und das sind ja nicht die einzigen Zahlen, die vom Robert Koch Institut (Kiggs-Studie), die es dazu gibt. Zum Beispiel der AOK-Nordostreport hat ja genau die gleichen Ergebnisse geliefert oder schon die IDEFICS-Studie z.B., wo noch viel weniger adipös sind. Wenn Sie sich die Einschulungsdaten der veschiedenen Bundesländer anschauen: da haben wir über 95 Prozent nicht fettleibige Kinder, die eingeschult werden.

Und: Es gibt am anderen Ende des Spektrums sogar noch mehr Untergewichtige. Wir haben immer mehr untergewichtige als adipöse Kinder in den Statistiken. Das heißt: Wenn man ein Problem sehen wollte, müsste man sich um die dürren Kids kümmern, nach dem Motto: Wie kriegen wir die denn mal in den Bereich Normalgewicht. Das ist Fakt. Zu viele dicke Kinder in Deutschland - das ist ein kreiertes Problem und sonst gar nichts.

Können Sie sich erklären, warum ausgerechnet die so wenigen Prozent an adipösen Kindern regelmäßig zum Problem erklärt werden?
 
Die Antwort darauf wüsste ich auch gerne. Anscheinend versucht man damit gewisse politische Maßnahmen oder auch Kampagnen zu rechtfertigen oder versucht Fördergelder an irgendeiner Stelle locker zu machen. Das sind alles Mutmaßungen, weil letzten Endes, wenn Sie sich die Zahlen anschauen, die Natur: das ist eine ganz normale biologische Verteilung. Wir haben immer einen Großteil "Normaler" und dann haben wir Dürre und Dicke. Und es wird niemals der Fall sein, dass wir von diesen 5,8 auf 0 Prozent kommen. Das wird einfach nicht passieren. Wir sind jetzt schon auf einem Niveau, das biologisch ganz normal ist. Und wenn Sie sich dann noch angucken, wo die dicken Kinder denn eigentlich sind, dann hat man ja noch eine ganz andere Diskussion laufen.
 
Ich kann mir das jedenfalls nur so erklären, dass man in der Öffentlichkeit ein Problem aufrecht erhalten will: Wir haben ein Problem mit dicken Kindern und da muss jede Menge gemacht werden. Dann können verschiedene Institutionen oder auch Politiker den Eindruck vermitteln zu Handeln. Und mit den wirklich dicken Kindern, da weiß man gar nicht, was man machen soll - das kommt ja noch dazu.

Ich würde gerne nochmal auf die Frage eingehen: Von den wenigen Prozenten, wo finden sich dann besonders viele adipöse Kinder in der Gesellschaft? Und welche Rolle spielen da einerseits Klischeedickmacher wie Softdrinks, Fastfood usw. - andererseits das Geld im Familienhaushalt?
 
Also rein statistisch ist es klar: Wir haben in den sozial schwachen Schichten mit Migrationshintergrund den höchsten Anteil der fettleibigen Kinder. Wenn Sie sich die KiGGS-Daten angucken: von den Adipösen sind das knapp 10 Prozent in dieser Gruppe und in der Oberschicht sind es nur 2,3 Prozent, also wesentlich weniger. Nun stellt sich natürlich die Frage: warum? Und dann kommen wieder die Ernährungsideologen und die Philosophen zum Tragen - denn es gibt dafür keine Erklärung. Es gibt dafür nur Hypothesen. Und die werden dann je nach Ausrichtung formuliert und dann heißt es: Die essen zu viel Fastfood, die trinken zu viel Süßkrams, die bewegen sich zu wenig und gucken zu viel Fernsehen. Also es wird alles angeführt, was vermeintlich böse ist, um den Anteil der Dicken zu begründen - aber es weiß niemand.
 
Und wenn Sie sich zum Vergleich Südeuropa angucken: Italien oder Griechenland, da leben im Schnitt die meisten dicken Kinder. Auch warum das so ist, weiß keiner.

Ein winziges Problem wird also zu einer gesamtgesellschaftlichen Frage hochgeschaukelt?
 
Es ist natürlich auch sehr uncharmant für einen Politiker. Also wird so getan, als wäre das ein gesellschaftsrelevantes Problem, was alle Schichten betrifft. Da kommen wir mit Ernährungsführerscheinen, tollen Kursen, usw., aber dabei wird das Problem völlig ausgeblendet: Dass diejenigen, in den sozial schwachen Schichten und mit Migrationshintergrund am meisten davon betroffen sind und dafür gibt es keinerlei spezifisch ausgerichtete Maßnahme.
 
Allerdings würden die wohl auch wenig bringen, denn über 90 Prozent der Gewichtsreduktionsversuche bei Kindern und Jugendlichen, die adipös sind, die scheitern gnadenlos. Bis zu 95 Prozent geht die Quote des Scheiterns - sowohl klinisch, wie auch stationär. Also: zum einen gibt es eben nicht viele fettleibige Kinder, zum anderen sind sie nicht homogen verteilt in der Gesellschaft - warum das so ist, weiß man nicht. Und drittens: Wenn man versucht diese Kindern dünner zu machen, dann scheitert das immer grandios. Es gibt also viel gefährliches Halbwissen und keinerlei Ursachenforschung.

Was halten Sie denn in dem Zusammenhang von einer Zuckersteuer wie in Großbritannien?
 
Das ist ganz plumper Populismus, um davon abzulenken, dass man nichts weiß. Wenn Sie sehen, laut den KiGGs-Daten, dass über 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen weniger als einmal am Tag Süßgetränke trinken, dann sehen Sie schon, welche Relevanz das hat. Man kann nicht sagen: die Kinder sind fettleibig, weil sie zu viel Limo und Cola trinken, zu viel Fastfood oder zu viele Süßigkeiten essen - solche Daten existieren nicht.
 
Im Gegenteil: Es gibt etliche Studien aus den letzten Jahren, die immer wieder Korrelationen herstellen zwischen dem Essverhalten der Kinder und ihrem Body Mass Index (BMI). Und da kommt im Prinzip fast immer raus: Man sieht im Prinzip keinen Unterschied. Das heißt ob die viel oder wenig Fastfood, viel oder wenig Süßigkeiten essen, hat keinen Einfluss auf den BMI. Man sieht also noch nicht einmal eine Korrelation. Und wenn man keine statistische Verbindung sieht, kann man noch nicht mal ne Hypothese für ein Ursache-Wirkungs-Beziehung erstellen.

Interessanterweise geben die KiGGS-Daten ja noch etwas anderes her, nämlich dass der Anteil der adipösen nicht bei den Kindern, sondern den Jugendlichen am größten ist: von 9 Prozent bei den 3-6-Jährigen bis hin zu 17 Prozent bei den 14-17-Jährigen.

Ja, in den einzelnen Gruppen sehen Sie Unterschiede. Das wird auch durch die Einschulungsdaten widergespiegelt: Da haben Sie in Baden-Württemberg zum Beispiel nur 2,8 Prozent, also erstmal viel weniger, als später bei den Kindern und Jugendlichen. Warum die mit dem Eintritt ins Schulalter vermehrt adipös werden, weiß man natürlich auch nicht. Sie haben keine Kausalität, aber ne ganze Menge an Theorien: die Kinder sitzen dann mehr, die bewegen sich nicht mehr so viel, in der Schule gibt es nicht so tolles Essen, etc. - aber kurzum, man weiß es einfach nicht.
 
Fakt ist: Bei der Einschulung haben wir sehr sehr wenig fettleibige Kinder, danach haben wir immer noch nicht viele, aber es werden definitiv mehr. Man kann auch spekulieren, ob einige den Leistungsstress mit dem sogenannten emotional Eating kompensieren, also Futtern, obwohl man keinen Hunger hat. Aber das ist alles eine Blackbox, man weiß es nicht. Und dann gibt es ja noch etwas: Bei den Jugendlichen sieht man immer, dass der Fastfood-Konsum in Zusammenhang mit einem niedrigeren, also besseren, BMI steht - also wie bringt man das alles unter einen Hut? Das kann man nicht erklären. Warum haben die mit einem niedrigeren BMI einen höheren Fastfood-Konsum? Das weiß man nicht.

Sie schreiben in Ihren Büchern: Diäten können wir vergessen, wir sollten einfach essen, was uns schmeckt und was wir gut vertragen. Dafür gibt’s aber auch keine belegende Studie. Was macht es für Sie trotzdem richtig? Welche Rolle spielt der Hunger aus Ihrer Sicht?
 
Die Frage ist: Wenn es keine Beweise für gesunde Ernährung gibt, wer kann dann wissen, was gesund für den einzelnen Menschen ist? Dann sage ich: Appell an den gesunden Menschenverstand. Natürlich ist es dann der einzelne Mensch selbst und das merkt er, indem er Hunger hat. Also idealerweise hört man auf sein Hungergefühl und dann isst man das, was man mag und was man gut verträgt.
 
Nicht bei jeder Gelegenheit im Alltag kann man das umsetzen, aber auch in der Schule z.B. liegen die Pausenzeiten ja in etwa so, wo die Biologie nach vier bis fünf Stunden normalerweise ein Hungergefühl erzeugt. Die Alternative zum Essen nach Regeln, "Gesundkost" usw. ist die auf den Körper zu hören, denn nur der kann wissen, was für den einzelnen gute und gesunde Ernährung ist. Deshalb ist es wichtig, dieses intuitive Essen wieder zu lernen.

Individualisierung - nimmt das dem Anschein nach aber nicht gerade zu? Stichwort Selbstoptimierung und sogar die Blutgruppendiät ist wieder zurück?
 
Das passt für mich gar nicht zusammen, weil das nur wieder zum Ziel hat, Geld zu machen. Was da sehr gut hinein passt, ist das Stichwort Genanalyse. Es gibt keinerlei wissenschaftliche Methoden so genau herauszufinden, was ein Mensch essen soll oder nicht, außer es geht um konkrete Allergien oder Unverträglichkeiten. Wenn jemand gesund ist, kann man nicht mit irgendwelchen Methoden sagen: Das ist Dein Essen. Das kann nur jeder selber. Das hat nur das Ziel den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Was wäre aus Ihrer Sicht bei der Ernährung von Kindern und Jugendlichen wichtig?
 
Wichtig ist, dass man die Kinder satt kriegt und zwar so, dass es ihnen schmeckt. Also nicht versuchen etwas einzutrichtern oder die Brokkolipaste unter die Pizza mischen. Das ist für mich pervers. Was man viel eher in den Fokus stellen sollte: Warum gibt es in Deutschland kein kostenloses Schulessen? Dann hätte man auch das Problem gelöst, dass Kinder aus sozial schwachen Schichten vielleicht nichts Gutes und ausreichend zu essen bekommen.
 
Die Pflicht für die Eltern ist aus meiner Sicht, dass das Kind genug bekommt und eine Vielfalt angeboten bekommt, um möglichst von vielen Dingen zu wissen, ob sie ihm schmecken oder nicht. Dabei keine Angst, wenn es dann auch mal eine Picky-Phase gibt. Das Kranke ist, wenn es nicht mehr um das Wohl des Kindes geht, sondern um das Gewissen der Eltern und die Frage: Erfülle ich auch die Richtlinien der frei erfundenen Ernährungsregeln? Da sage ich Stopp.

Herr Knop, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Lucia Hennerici