Mädchen mit Maske steht vor weißer Wand (Bild: imago images/Westend61)
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Interview l Chronisch krank in der COVID-Pandemie - "Was ist mit dem Leben unserer Tochter?"

Chronisch kranke Kinder und Jugendliche in der Corona-Pandemie - das ist eine ganz besondere Herausforderung. Für sie selbst und für ihre Familien. Hilfsangebote fallen weg, Schule und Fördereinrichtungen sind lange geschlossen. Wie eine Familie den Alltag mit zwei beeinträchtigten Teenagern bewältigt, erzählt die Mutter im Interview mit rbb Praxis-Reporterin Ursula Stamm.

Familien mit chronisch kranken und beeinträchtigten Kindern leisten im Alltag enorm viel. Die Einschränkungen durch die COVID-Pandemie haben diese Situation deutlich verschlechtert. Homeschooling, fehlende soziale Kontakte und die eingeschränkte Unterstützung zum Beispiel von Einzelfallhelfer*innen, lassen Kinder, Jugendliche und Eltern überfordert und isoliert zurück.
 
Auf eine Impfung gegen COVID-19 müssen Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren noch lange warten und auch die Eltern und Betreuungspersonen von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen sind in der Impf-Priorisierung derzeit noch nicht an der Reihe. "Wenn Kinder und Jugendliche, gerade chronisch kranke, nicht geimpft werden, ist ihre Teilhabe auf allen gesellschaftlichen Ebenen auf nicht absehbare Zeit massiv beeinträchtigt", beklagt Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes des Kinder- und Jugendärzte e.V..
Er fordert einen Regelung für Eltern und Betreuungspersonen, wie es bei Kontaktpersonen von Schwangeren in der COVID-Impfverordnung bereits vorgesehen ist.
 
Was es bedeutet, in diesen Zeiten mit einem geistig beeinträchtigten Teenager und einer Abiturientin, die schwere Lebensmittelallergikerin ist, den Alltag zu bewältigen hat rbb Praxis-Reporterin Ursula Stamm im Gespräch mit Ulrike Herzog* erfahren.
 
*Anm. d. Red.: Alle Namen wurden geändert und sind der Redaktion bekannt.

Ein ganz normaler Tag

"Mein Tag beginnt damit, dass ich meine jüngere Tochter Lena* wecke, das dauert ungefähr fünfzehn Minuten. Weil sie nachts mit einem Korsett schlafen muss und nachts auch eine Windel trägt, müssen wir morgens "großes Bad" machen und bis sie dann angezogen am Frühstückstisch sitzt - das dauert auch wieder eine halbe Stunde.
 
Um 7 Uhr kommt dann der Schulbus und bringt sie - derzeit an drei Tagen die Woche - zum Förderzentrum nach Teltow. Sie kommt dann um etwa 15.15 Uhr mit dem Bus wieder nach Hause, wo sie als erstes den Hund begrüßt und knuddelt. Danach darf sie für etwa eine Stunde ans Tablet, auf dem sie Videofilme anschaut.
Anschließend muss bis zum Abendessen um circa 18 Uhr ein Beschäftigungsprogramm laufen, da sie nicht alleine spielt: Kugelbahnen oder Lego aufbauen, in der Küche helfen beim Kochen oder Backen, etwas basteln, kneten, kleine Hausaufgaben erledigen.
 
Das Zubettbringen ist sehr kraft- und zeitaufwendig, weil ihr Übergänge im Tagesablauf generell schwer fallen und sie sich auch noch nicht an das Korsett beim Schlafen gewöhnt hat. Sie protestiert lautstark, wird teilweise wütend und zögert den Moment so lange es geht hinaus.

Sozialkontakte fehlen

Die Hauptschwierigkeit ist, dass unsere Tochter im Lockdown überhaupt keine Sozialkontakte mehr hat, die aber sehr, sehr wichtig sind für sie, weil sie eben nicht richtig sprechen kann oder eigentlich gar nicht sprechen, sie lautiert nur. Da sind Sozialkontakte super wichtig. Und wenn die Schule wegfällt, dann hat sie überhaupt niemanden mehr als Ansprechpartner, nur ihre Familie.
 
Die Großeltern fallen weg, die wir ja nicht besuchen dürfen. Mit denen kann Lena auch nicht telefonieren, weil sie eben nicht sprechen kann. Die Großeltern wiederum sind so alt, dass sie keine Tablets nutzen können, sodass man sagen könnte: Okay, wir machen das irgendwie per Video. In dieser Beziehung läuft eben auch ganz viel nonverbal. Das ist auf den Schoß nehmen, kuscheln, in den Arm nehmen, das fällt halt alles weg.
 
Hinzu kommt, dass Lena per se ein sehr distanzloser Mensch ist. Sie umarmt einfach jeden, der ihr gefällt. Und das erschwert natürlich jedes außer Haus gehen oder einkaufen jetzt dann auch nochmal, weil es durch die Ansteckungsgefahr einfach gefährlich geworden ist.

Ohne Schule geht wo gut wie nichts

Lena ging vor der Corona-Pandemie jeden Tag in ein Förderzentrum für geistige Entwicklung in Teltow. Inzwischen ist das wieder an drei Tagen möglich. Die längste Pause waren sieben Wochen am Stück, wo sie nur zu Hause war. Das war eine besonders schwere Zeit. Da ist sie dann hier zu Hause sehr aggressiv geworden, sehr laut. Dann fängt sie an, wirklich so zu brüllen, dass wir uns dann am nächsten Tag bei den Nachbarn entschuldigen. Es fliegt das Spielzeug herum, das Tablet zur Kommunikation, was sie benutzt, fliegt herum. Also eigentlich kann man es an dem Tablet ganz gut erkennen, das hat ziemlich viele Macken bekommen seit Corona.
 
Dass sie jetzt wieder an drei Tagen ins Förderzentrum gehen kann, ist für uns alle eine große Erleichterung. Dort gibt es wirklich viele tolle engagierte Lehrer, die es auch geschafft haben, dass die Kinder Masken tragen. Da funktioniert viel über Nachahmung. Sie liebt ihre Klassenlehrerin heiß und innig und wenn sie sieht, dass diese Frau eine Maske trägt, dann macht meine Tochter das.
 
Sämtliche Sozialkontakte außerhalb der Familie hat Lena durch die Schule. Beeinträchtige Kinder haben sowieso wenig Freunde und ohne die Schule fällt das weg und das empfinde ich als sehr schmerzhaft. Lena ist ein sehr sozialer Mensch. Sie ist wirklich gar nicht autistisch veranlagt, sondern eher das Gegenteil. Es fehlt ihr und das merkt man.

Angst vor einer COVID-Erkrankung

Trotzdem gibt es natürlich die Angst, das Lena sich mit Corona anstecken könnte, wenn sie in der Schule ist. Bedingt durch ihre Erkrankung hat sie einen kleinen Herzfehler. Im Alltag hat sie dadurch keine Nachteile. Aber wenn sie Corona bekommen würde, weiß niemand, was das für Konsequenzen hätte. Sorgen hab ich mir gemacht, als wir diese Anfangsszenarien gesehen haben aus Italien. Da dachte ich mir, oh Gott, wenn jetzt eins unserer Kinder auf der Krankenstation landet und wir nicht dabei sein können - so war es ja am Anfang. Wenn es dann zu dieser Triage kommen sollte, hab ich mich gefragt, was ist mit dem Leben unserer Tochter? Wie viel ist das wert? (Ulrike Herzog kämpft mit den Tränen).

Angst für die Familie auszufallen

Bei der Krankenkasse, als ich nachgefragt habe: Was ist denn mit kostenfreien Masken, gehört sie zur Risikogruppe? Die Antwort: Nein, gehört sie nicht. Und dann die Impfung. Es gibt ja noch gar keine Impfungen für Kinder. Und auch da sind Menschen mit Beeinträchtigungen im Moment einfach noch nicht dran. Gäbe es jetzt schon eine Impfung für Lenas Altersgruppe, würden wir sie sofort impfen lassen, da haben mein Mann und ich überhaupt keine Zweifel. Wir würden uns auch sofort selbst impfen lassen, damit wir sozusagen als "Schirm" für sie dienen könnten. Aber auch da haben wir noch keine Nachricht bekommen.
 
Das ist noch ein Sorge von uns: was ist, wenn wir als Eltern so schwer an Corona erkranken, dass wir hinterher nicht mehr fit sind? Wir müssen fit sein für unser Kind. Was passiert, wenn wir beide gleichzeitig erkranken? Ich habe Geschwister, die würden sich bestimmt kümmern. Aber über all das denke ich lieber nicht so genau nach.

Fehlende Hilfsangebote

Zweimal pro Woche kommt eine junge Frau im Rahmen der Einzelfallhilfe, um mit Lena etwas zu unternehmen. Das ist natürlich immer dieselbe Person, sonst würde das gar nicht gehen. Da hatten wir aber jetzt auch eine Pause, bis sich das alles beruhigt hatte und geklärt wurde: Wer darf wieder wann, wohin? Das ist eine junge Dame, die dann mit ihr spazieren geht, ein bisschen Wegetraining macht. Aber, unsere Tochter weigert sich, einfach nur spazieren zu gehen. Uns sind dann die Ziele weggefallen, als die Bibliotheken geschlossen haben. Sie konnte nicht mehr zu ihrem Integrations-Yoga, nicht mehr zur Reittherapie. Also es wurde wirklich zunehmend schwerer, sie überhaupt nach draußen zu bekommen, das ist wirklich nicht einfach.
 
Als alles geschlossen war, fehlten uns auch sehr die Therapien. Denn unsere Tochter macht dann sofort Rückschritte, sie stagniert und das merkt man dann hinterher in der Entwicklung. Uns fehlen wahnsinnig die Schwimmbäder, weil sie eben auch starke Rückenprobleme hat. Lena leidet unter einer Verkrümmung der Wirbelsäule, einer starken Skoliose und Kyphose, einem Rundrücken. Deshalb hat sie ein Korsett, das sie 24 Stunden tragen muss. Und schwimmen, das war bislang eine unserer Möglichkeiten, um den Rücken wieder geradezu kriegen. Und sie ist einfach auch sehr gerne im Wasser.

Die Mühlen der Bürokratie

Wir möchten für Lena gern ein Therapiefahrrad, dass sie zuhause nutzen kann. Der Antrag läuft jetzt seit fast einem Jahr. Da gab's dann Schwierigkeiten mit der Krankenkasse. Dann wurde das übergeben an das Jugendamt hier im Bezirk. Da fand man aber den Brief nicht. So fing alles an. Letztendlich ist es immer noch nicht durch, wir haben keine Nachricht, wissen aber, dass mittlerweile alle Unterlagen vor Ort sind.
 
Erklärt wurde es mir von einer Dame, die dann gesagt hat: Wissen sie, bei uns sind jetzt so viele Menschen abgezogen worden aus den Büros, ganz einfach zum Gesundheitsamt zur Nachverfolgung. Es fehlt einfach überall an Personal.
 
Wir sind jetzt ja eine Familie mit einem guten Bildungshintergrund. Wir können uns Hilfe holen, zum Beispiel bei der Beratungsstelle Nesst in Schöneberg, die haben uns sehr geholfen. Ich frage mich nur, was ist mit den Menschen, die nicht diesen Hintergrund haben, so wie wir? Also, das beunruhigt mich jetzt als Sonderpädagogin und als angehende Lehrerin, dass sehe ich einfach, wie viele Familien wahrscheinlich einfach untergehen werden mit den Kindern.

Die Schwester

Karoline*, 19, leidet unter einer schweren Lebensmittelallergie. Was das bedeutet, da kann ich direkt ein Beispiel geben von letzter Woche. Wie das die Teenager so machen, die treffen sich halt, zu zweit, Karoline und eine Mitschülerin. Sie haben sich einen Coffee to go genommen und es wurde ihr auch versichert, dass in ihrem Coffee to go eine Hafermilch ist und keine Kuhmilch. Aber es war eben doch Kuhmilch in dem Becher. Und dann rief mich ihre Freundin an und sagte: Deine Tochter atmet jetzt nur noch ganz schwer, soll ich die Rettung rufen oder willst du kommen? Und dann bin ich mit diesem Adrenalin-Pen hier los gestürzt.
 
Weil das ist nämlich der Punkt: Ich hatte tatsächlich in dem Moment mehr Angst vor dem Krankenhaus. Ich habe gedacht: Ich versuche das, ich schaffe das noch mit dem Pen und habe ihr den mitten in Schöneberg ins Bein gehauen und das hat uns in dem Moment gerettet. Ansonsten hätte ich sie ins Krankenhaus bringen müssen.
Und ja, dort ist es für uns immer schwierig. Sie braucht ein besonderes allergenfreies Essen, was in deutschen Krankenhäusern manchmal gar nicht so einfach ist. Und ich hatte auch tatsächlich Angst davor, dass sie sich im Krankenhaus mit Corona ansteckt.

Es übernimmt, wer gerade die meiste Kraft hat

Wenn Lena aggressiv wird, weil sie gerade so wenige Sozialkontakte hat, dann wechseln wir uns ab, mein Mann und ich, je nachdem, wer gerade die Kraft und die Nerven hat. Ganz ehrlich: und manchmal auch, wer stärker ist. Also je nachdem, wie sie da wieder zur Vernunft gebracht werden muss. Mal mit fest in den Arm nehmen oder einem geschickten Ablenkungsmanöver.
 
Ich schöpfe sehr viel Kraft aus meinem Beruf, den mache ich sehr gerne. Das ist für mich so eine kleine Flucht, mein Referendariat, dass ich mich damit auch wissenschaftlich auseinandersetzen kann, dass ich was lernen kann.
 
Dass mein Mann jetzt zuhause ist, entlastet uns natürlich auch sehr, auch wenn seine Arbeitslosigkeit natürlich nicht so schön ist. Aber er genießt es auch, dass er mehr mit Lena zusammen sein kann, denn er war ja früher beruflich viel unterwegs. Ich wüsste ehrlich gesagt auch gar nicht, wie wir das in der schulfreien Zeit sonst geschafft hätten.
 
Wir bekommen auch Kraft von Lena geschenkt. Sie ist ein ganz fröhliches Kind, das gerne lacht, das singt und tanzt und uns auffordert zum Tanzen. Dann vergisst man alles andere, man lässt alles andere liegen und dann tanzt man eben und das ist natürlich auch wunderbar."
 
*Alle Namen wurden geändert und sind der Redaktion bekannt.
Das Interview führte Ursula Stamm

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