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Interview l Pflege zu Hause - Pflege in Not: Angehörige leiden unter Kontaktsperre

In Berlin gibt es rund 136.000 Pflegebedürftige. Etwa 70 Prozent von ihnen werden zu Hause von Angehörigen gepflegt. Durch die Corona-Krise und die damit verbundene Kontaktsperre fallen wichtige Unterstützungsangebote weg. Zum Beispiel die Tagespflege oder Besuche von Ehrenamtlichen. Was das für die pflegenden Angehörigen bedeutet und wie ihnen geholfen werden kann, hat rbb Praxis Gabriele Tammen-Parr gefragt. Sie ist Projektleiterin der Beratungsstelle "Pflege in Not" in Berlin-Kreuzberg.

Frau Tammen-Parr, wie hat sich die Arbeit Ihrer Beratungsstelle durch die Corona-Krise verändert?
 
"Pflege in Not" berät seit 20 Jahren zu Konflikten und Gewalt in der Pflege alter Menschen. Wir bieten telefonische Beratung an, aber auch Einzel- und Familiengespräche, psychologische Beratung und wir machen auch Hausbesuche und gehen in die Heime.

Bis auf die telefonische Beratung sind das alles Angebote, die wir im Moment nicht mehr machen können. Dafür haben wir aber unsere telefonischen Sprechzeiten vervierfacht, das heißt, wir sind im Moment montags bis freitags von 10 bis 16 Uhr erreichbar und samstags von 10 bis 14 Uhr. Wir haben zwar immer schon einen Großteil unserer Beratung per Telefon durchgeführt. Aber manche Themen, vor allem wenn es um Gewalt und Aggressionen geht, lassen sich leichter im persönlichen Kontakt ansprechen.

Welche Auswirkungen hat die Kontaktsperre auf pflegende Angehörige und ihre Schutzbefohlenen?
 
Viele pflegenden Angehörigen sind durch diese Situation völlig auf sich allein gestellt. Vor allem pflegende Angehörige von Demenzkranken, deren Pflege sehr anstrengend ist und mit denen eine normale zwischenmenschliche Kommunikation erschwert ist, leiden besonders. Viele dieser Pflegebedürftigen sind vor der Corona-Krise mehrmals die Woche in eine Tagespflegeeinrichtung gegangen, was jetzt nicht mehr möglich ist. Auch die Besuche von Ehrenamtlichen fallen weg. Manchmal gibt es noch einen Pflegedienst, der ins Haus kommt, aber das ist oftmals der einzige zwischenmenschliche Kontakt, den pflegende Angehörige nach außen haben.
 
Viele von ihnen gehen noch selbst einkaufen oder zur Apotheke und haben Angst, sich dort mit Corona zu infizieren und dann den Angehörigen nicht mehr pflegen zu können. Da Pflegeheime im Moment keine neuen Bewohner aufnehmen, stellt sich dann die Frage, wohin mit den Pflegebedürftigen? Der Mann einer an Demenz erkrankten Frau erzählte mir, dass er darüber nachdenkt, seine Frau mit ins Krankenhaus zu nehmen, wenn er selbst dort wegen Corona behandelt werden muss. Wie dort darauf reagiert würde, weiß er aber nicht.

Welche Probleme haben Angehörige von Menschen in Pflegeheimen oder im Betreuten Wohnen durch die Kontaktsperre?
 
Hier fällt es vor allem an Demenz erkrankten Bewohnern schwer, die Situation zu verstehen. Darunter leiden natürlich auch die Angehörigen, die nicht mehr zu Besuch kommen dürfen und die immer wieder erklären müssen, warum die Situation so ist wie sie ist. In den Pflegeheimen gibt es jetzt erste Ansätze, diese Situation zu verbessern, indem Handys für die Bewohner gekauft wurden, damit sie jederzeit telefonieren können, ohne die Telefonleitung des Wohnbereichs zu blockieren. Anderswo wurden Tablets gekauft und die Auszubildenden der Pflege haben Bewohnern geholfen, mit ihren Familien per Skype zu kommunizieren.
 
Auch Anbieter von Einrichtungen für Betreutes Wohnen oder die dort tätigen Pflegedienste haben zum Teil ein Besuchsverbot ausgesprochen. Das ist insofern schwierig, weil die Bewohner oftmals auf die Hilfe ihrer Angehörigen im Haushalt oder bei den Einkäufen angewiesen sind. Sie sollten aber weiterhin Zugang haben, weil die pflegenden Angehörigen an dieser Stelle gar nicht ersetzt werden können, zumal die Pflegedienste gar kein Personal haben, um das auch noch abzudecken.

Wie können Sie mit "Pflege in Not" diesen Menschen dann helfen?
 
Wir können natürlich an den äußeren Bedingungen im Moment nichts ändern. Derzeit ist es so, dass wir versuchen, vor allem emotional zu unterstützen und Situationen durchsprechen, die den pflegenden Angehörigen besonders auf der Seele liegen. Das sind häufig Situationen, in denen es zu Konflikten kommt, die sich derzeit noch schneller hochschaukeln als sonst, weil die Ausweichmöglichkeiten fehlen und weil die Betroffenen 24/7 gemeinsam in einer Wohnung oder einem Haus verbringen.
 
Wir schauen dann, ob es die Möglichkeit gibt, aus so einer Situation frühzeitig auszusteigen, sich trotz der räumlichen Enge ab und zu zurückzuziehen und so Momente zu schaffen, wo beide Seiten mal entspannen können. Auch die Möglichkeit zu telefonieren, nach außen Kontakt zu halten und sich dadurch ein Stück zu entlasten, kann helfen, mit der schwierigen Situation besser umzugehen.

Wie wird Ihr Hilfsangebot angenommen?
 
Die Anruferzahlen bei "Pflege in Not" haben sich seit Beginn der Kontaktsperre verdoppelt. 80 Prozent unserer Gespräche drehen sich nur um die zugespitzte Pflegesituation, die durch die Corona-Krise ausgelöst wurde. Die Themen sind sehr ähnlich: Es geht es um Aggressionen, Konflikte, grenzenlose Überforderung, Verzweiflung und Angst um die eigene Gesundheit und die des Pflegebedürftigen.
 
Wir nehmen uns im Moment noch mehr Zeit für die Gespräche; ein Telefongespräch kann derzeit schon mal eine Stunde dauern. Wir bekommen viele positive Rückmeldungen von den Anrufern. Sie schildern, dass es ihnen gut getan hat, einfach mal mit jemandem über ihre Situation sprechen zu können. Und, dass es sie entlastet, ihre extreme Überforderung und die damit verbundenen Gedanken und Gefühle mit jemandem zu teilen.

Was kann vielleicht jeder und jede tun, um die Situation von pflegenden Angehörigen und generell von älteren Menschen zu verbessern?
 
Ich möchte dazu anregen, dass wir ein nachbarschaftliches Netz spannen. Das heißt, in jedem Haus und in jeder Nachbarschaft, könnte man überlegen: Wo leben ältere Menschen entweder allein oder mit ihren Angehörigen? Man könnte absprechen, dass man dort einmal am Tag klingelt - möglichst immer zur gleichen Uhrzeit - und sich dann einen Stuhl ins Treppenhaus stellt und durch die geöffnete Wohnungstür ein Gespräch führt. Das kann eine halbe Stunde sein, in der man fragt, wie es geht und was derjenige vielleicht an Unterstützung braucht. Man könnte das auf mehrere Schultern verteilen, damit man sich nicht gleich überfordert.
 
Ich kann mir vorstellen, wenn das in allen Häusern in Berlin gemacht würde, dann könnte uns das besser durch diese schweren Wochen führen. Und vielleicht wäre das ein nachbarschaftliches Netz, welches auch nach der Krise möglicherweise weiter bestehen könnte.

Frau Tammen-Parr, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Ursula Stamm

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