Behandschuhte Hände nehmen von Patientenhand Blutzuckerprobe (Bild: imago/Xinhua
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Interview l Unterstützung für Zuckerkranke - "Lebensbegleiter": Diabetesversorgung in COVID-Zeiten

In Pandemiezeiten haben viele Gewicht zugelegt und an Beweglichkeit verloren. Das ist schon per se ein Gesundheitsrisiko, aber erst recht für Menschen, die an Diabetes leiden. Hinzu kam: Die Betreuung durch diabetologische Schwerpunktpraxen war stark eingeschränkt. rbb Praxis hat nachgefragt, was das für Betroffene bedeutet und mit welchen Strategien eine Praxis in Berlin-Charlottenburg dem begegnet ist.

Gesunde Ernährung und Bewegung sind die wichtigsten Faktoren, mit denen Betroffene ihre Diabetes-Erkrankung selbst positiv beeinflussen können. Doch während der Pandemie fiel das vielen besonders schwer - nicht nur weil einige Sportmöglichkeiten eingeschränkt waren, sondern auch weil die Betreuung durch diabetologische Schwerpunktpraxen stark eingeschränkt war.
 
rbb Praxis-Reporterin Ursula Stamm hat bei einer Praxis in Berlin-Charlottenburg nach besonderen Zeiten und besonderen Strategien für Betroffene nachgefragt und mit Diabetologin Dr. Kristina Pralle und Diabetesberaterin Anja Müller gesprochen.

Welche Themen haben den Menschen mit Diabetes während der Corona-Pandemie bisher besonders auf den Nägeln gebrannt?
 
Anja Müller: Viele haben sich gerade zu Beginn der Pandemie große Sorgen gemacht, ob sie noch weiterhin alles bekommen, was sie für ihre Blutzuckereinstellung brauchen, also Medikamente, Blutzuckerteststreifen oder auch das ganze Zubehör für die Insulinpumpen.
Da haben manche regelrecht gehortet, was ja auch nicht Sinn der Sache ist, weil es dann ja erst recht zu Engpässen kommen kann.
 
Dann wollten viele von uns wissen, wie groß ihr Risiko ist, an COVID-19 zu erkranken und möglicherweise auch schwer zu erkranken. Diabetes mellitus wurde ja sehr schnell als ein Risikofaktor ausgemacht, was auch richtig ist. Wir sind dann mit jedem einzelnen durchgegangen, welche individuellen Risikofaktoren bestehen - also Alter, Blutzuckereinstellung und weitere Erkrankungen.
 
In den Gesprächen, die wir vor allem am Telefon geführt haben, ging es oft um einen Mix aus persönlichen und medizinischen Themen, was unbedingt zusammengehört. Denn die veränderte Lebenssituation mit weniger Bewegung, schlechterer Ernährung und mehr Stress verändert auch die Therapie.
Auf der anderen Seite fand ich es auch wichtig, Druck rauszunehmen, denn wir hatten und haben es mit einer besonderen Situation zu tun und da kann es manchmal auch sinnvoll sein, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind.

Wie haben Sie Ihre Praxis während der Corona-Pandemie organisiert?
 
Dr. Kristina Pralle: Leider mussten wir alle währenddessen viermal in Quarantäne, weil Patienten und Mitarbeiterinnen erkrankt waren. Wir haben natürlich versucht, die Praxisräume so umzugestalten, dass möglichst wenig Menschen aufeinandertreffen, aber ganz verhindern lässt sich das eben doch nicht. Wir mussten die Zahl der Patienten und Patientinnen begrenzen.
 
Wenn ich vor Corona an einem vollen Tag 25 bis 30 Patienten hatte, dann waren es zu Lockdown-Zeiten nur fünf bis zehn. Die übrigen habe ich am Telefon, per Videotelefonie oder Mail betreut. Es gibt aber eine ganze Reihe von älteren Patienten und Patientinnen, die mit den neuen Medien vielleicht nicht so vertraut sind und da muss ich sagen, dass manche auch durchs Raster gefallen sind.

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Anja Müller: Ich habe viel mit Patienten zu tun, die einen Typ-1-Diabetes haben. Da geht es um viel Technik und darum, die Blutzuckerwerte kontinuierlich im Blick zu haben.
Weil der persönliche Kontakt stark eingeschränkt war, waren doch viele bereit, ihre Daten in einer Cloud hochzuladen, damit wir uns die Werte dann im telefonischen Gespräch gemeinsam anschauen konnten. Gerade wenn man sich schon persönlich kennt, ist das nicht unbedingt schlechter und hat die Digitalisierung in unserer Praxis, aber auch bei den Patienten enorm gepusht.
 
Viele Patienten mit Diabetes haben eine gestörte Wundheilung, vor allem an den Füßen und Beinen, die engmaschig versorgt werden muss. Die Wundsprechstunde, die wir anbieten, konnte nur sehr eingeschränkt stattfinden.
Wir haben dann verstärkt mit Pflegediensten zusammengearbeitet, die auf diese Wundversorgung spezialisiert sind. Die haben uns dann Fotos der Wunden geschickt und die Ärztinnen haben diese dann per Ferndiagnose begutachtet und entschieden, ob jemand zum Beispiel Antibiotika braucht oder ins Krankenhaus muss.

Hatten Sie viele Patienten und Patientinnen, die an COVID-19 erkrankt sind? Und was konnten Sie in dieser Situation für sie tun?
 
Dr. Kristina Pralle: Viele Patienten waren es nicht, vielleicht fünf Prozent. Das liegt auch daran, dass die meisten sich von vornherein an die Hygieneregeln gehalten haben und viele aus Angst vor Ansteckung gar nicht oder nur noch selten aus dem Haus gegangen sind.
 
Diejenigen, die erkrankt sind, hatten - abhängig von Alter, Blutzuckereinstellung und Gewicht - teilweise auch schwere Verläufe. Die jüngeren sind eher nicht so schwer erkrankt; allerdings haben sie häufiger mit Post-COVID zu tun, also Spätfolgen der COVID-19 Erkrankung wie zum Beispiel schnelle Erschöpfbarkeit, Konzentrations- und Bewegungsstörungen.
 
Wenn Menschen mit Diabetes an COVID-19 erkranken, ist es schwieriger, den Stoffwechsel gut einzustellen, das gilt auch für andere Infektionskrankheiten. Das liegt daran, dass der Körper mehr Insulin braucht, entweder körpereigenes oder Insulin von außen.
Das heißt, es muss häufiger gemessen und eventuell muss auch die Insulindosis erhöht werden. Gelingt das gut, kann der COVID-19-Verlauf dem eines Menschen ohne Diabetes entsprechen.

Hintergrund: Was macht Diabetikerinnen zu Risikopatienten?

Diabetes ist eine Stoffwechselerkrankung, bei der die Körperzellen immer weniger auf Insulin ansprechen. Das Hormon aus der Bauchspeicheldrüse ist wichtig, um Blutzucker in die Zellen zu schleusen.
Wenn das nicht mehr funktioniert, erhöht sich der Blutzucker und den Körperzellen fehlt Energie.

Ein schlecht eingestellter Blutzucker ist zu vergleichen mit einer Erkrankung des Immunsystems: Die hohen Zuckerwerte verzögern eine angemessene Immunantwort und Bakterien und Viren, wie das Sars-Co-2-Virus, haben leichteres Spiel.

Viele Menschen mit Diabetes haben zusätzlich Übergewicht, Bluthochdruck sowie Erkrankungen des Herzens und der Lunge. Das erhöht ihr Risiko, einen schweren Verlauf von COVID-19 zu erleiden.

Gesunde Ernährung und Bewegung sind besonders wichtig für Diabetespatienten und -patientinnen. Was ist da auf der Strecke geblieben?
 
Dr. Kristina Pralle: Gerade bei den Älteren war es zu Lockdown-Zeiten ein ganz praktisches Problem: Woher bekomme ich meine Lebensmittel, wenn ich nicht bereit oder in der Lage bin, in einen Supermarkt zu gehen? Ich hatte Patienten, denen habe ich erst mal erklärt, dass es auch einen Lieferservice für Lebensmittel gibt.
 
Durch das Wegfallen von Sport- und anderen Freizeitaktivitäten sind viele unbeweglicher geworden und schlechter zu Fuß. Die fehlenden Außenkontakte und Einsamkeit haben auch dazu geführt, dass weniger gekocht wird. Manchen fehlt dann einfach die Motivation, für sich selbst zu kochen. Auch Schlafstörungen haben zugenommen.
 
Die Jüngeren haben, gerade zu Beginn der Pandemie, viele Sportkurse online zuhause gemacht. Sie haben es auch zunächst als positiv empfunden, sich die Zeit im Homeoffice freier einteilen zu können. Aber spätestens in diesem Frühjahr war dieser Effekt verpufft und viele haben sich erschöpft und ausgebrannt gefühlt.

Welche konkreten medizinischen Auswirkungen hatte das auf Ihre Patientinnen und Patienten?
 
Dr. Kristina Pralle: Wir sehen im Ergebnis, dass viele unserer Patienten und Patientinnen schlechtere Blutzuckerwerte haben und medikamentös schlechter eingestellt sind. Viele haben deutlich an Gewicht zugenommen und der so oft bemühte "innere Schweinehund" ist noch schwerer zu überwinden, wenn erstmal 10 oder 20 Kilo mehr auf der Waage sind.
Von uns bekommen viele dieser Patienten jetzt erstmal eine Verordnung für Reha-Sport oder Krankengymnastik. Da legt uns die Politik neuerdings Steine in den Weg, weil es durch die Überarbeitung der Heilmittel-Richtlinie schwieriger geworden ist, solche Verordnungen für jüngere, aber multimorbide Patienten über längere Zeit auszustellen. Jetzt muss immer wieder neu der Medizinische Dienst der Krankenkassen einbezogen werden und eine solche Begutachtung dauert.

Sie bieten ja auch Diabetes-Schulungen an, bei denen Patienten und Patientinnen lernen, mit ihrer Krankheit umzugehen. Was war damit in Pandemiezeiten?
 
Dr. Kristina Pralle: Die Präsenz-Schulungen konnten natürlich nicht stattfinden. Wir haben die Schulungen dann per Video angeboten, was nicht finanziert wird, weil solche Schulungen vorab zertifiziert werden müssen.
 
Das waren keine interaktiven Schulungen, sondern frontale Schulungen zum Beispiel dazu, wie man mit einem Glukosemessgerät umgeht, das kontinuierlich getragen wird. Die Patienten konnten dazu aber später am Telefon oder in einer Videosprechstunde Fragen stellen. Wir haben auch auf bestimmte Online-Portale verwiesen, die solche Inhalte anbieten.
 
Anja Müller: Inzwischen bieten wir für Menschen mit Typ-2 Diabetes wieder Präsenzschulungen in kleinen Gruppen an.
Die Patienten und Patientinnen mit Typ-1 Diabetes machen das noch weiterhin Online, was gut ankommt. Diese Patientengruppe ist ja häufig jünger und steht noch im Berufsleben und da kommt es ihnen entgegen, dass sie keine langen Wege haben.

Welche Auswirkungen hatte die Corona-Pandemie auf die Psyche Ihrer Patienten und Patientinnen?
 
Dr. Kristina Pralle: Viele von ihnen haben starke Ängste entwickelt, die für sich genommen schon als eine Erkrankung angesehen werden müssen. Das wurde und wird in keiner Weise aufgefangen, weder vom Gesundheitssystem, noch von den Arbeitgebern.
 
Ich habe, gerade zu Beginn der Pandemie, teilweise bis zu 300 Emails am Tag beantwortet, die nicht in erster Linie mit der eigentlichen diabetologischen Versorgung zu tun hatten. Dadurch, dass wir zeitweise für die Menschen physisch nicht greifbar waren, sondern nur per Telefon oder Mail, haben sich diese Probleme auf jeden Fall verstärkt.
Vielen fehlt der Körperkontakt. Ich hatte zwei Patienten, die haben angefangen zu weinen, als ich sie angefasst habe, weil sie seit Monaten von niemandem berührt worden waren. Viele ältere Patienten leiden unter Einsamkeit, auch wenn sie Kinder und Enkelkinder haben. Aber die haben aus Sorge um die chronisch kranken Eltern, jeden persönlichen Kontakt vermieden. Das kann auch kein Telefonieren per Skype auffangen, zumal viele ältere Menschen damit auch überfordert sind.

Es gibt ja die so genannten Disease-Management-Programme, die eine bessere Versorgung chronisch Kranker gewährleisten sollen. Haben die während der Pandemie funktioniert?
 
Dr. Kristina Pralle: Nein. Denn diese Programme sind an den physischen Kontakt zu den Patienten gebunden und der war ja stark eingeschränkt. Das heißt, wenn ich das durch eine Videosprechstunde oder Telefonate aufgefangen habe, dann wurde das im Rahmen der Disease-Management-Programme (DMP) in der ersten Zeit der Pandemie nicht bezahlt.
Unsere Schwerpunktpraxis mit dem erhöhten Betreuungsaufwand, den wir haben, kann sich aber nur adäquat finanzieren, wenn wir einen Großteil dieser Leistungen über das DMP abrechnen können. Engagierte Kollegen und Kolleginnen haben dann mit den Kostenträgern aushandeln können, dass die physisch notwendigen Untersuchungen während der Pandemie nicht geleistet werden mussten, der Betreuungsauswand aber weiterhin honoriert wird.
 
Ich würde mir sehr wünschen, dass wir als diabetologische Schwerpunktpraxen da mehr unterstützt werden und es unbürokratische Lösungen auch für diese Abrechnungsfragen gibt. Denn es wird mit ziemlicher Sicherheit einen nächsten Lockdown geben und dafür müssen wir gut aufgestellt sein.

Was haben ihre Patientinnen und Patienten selbst getan, um ihre Situation zu verbessern?
 
Dr. Kristina Pralle: Ich kenne Menschen mit Typ-1-Diabetes, die haben sich zu einer WhatsApp-Gruppe zusammengeschlossen. Es gibt Gruppen von Leuten, die machen gemeinsam Yoga oder sie meditieren gemeinsam.
 
Dann gibt es eine Initiative von Menschen, die eigene Psychiatrie und Psychotherapie-Erfahrungen gemacht haben und die Hilfe für Menschen anbieten, die auf einen Therapieplatz warten. Das ist besonders wichtig, weil sich die Wartezeiten für solche Plätzen durch die Corona-Pandemie ja noch verlängert haben.
Und nicht zuletzt haben manche Patienten sich einfach telefonisch umeinander gekümmert.

Wie bereiten Sie sich mit Ihrer Praxis auf einen erneuten Lockdown vor?
 
Dr. Kristina Pralle: Uns würde es sehr helfen, wenn wir die Online-Schulungen, die wir ja schon entwickelt haben, tatsächlich auch abrechnen könnten. Bislang geht das nicht, weil sie nicht zertifiziert sind. Darauf können wir aber nicht warten, weil: die Patienten brauchen diese Unterstützung, auch jetzt noch, wo die Lage entspannter ist.
 
Wir arbeiten gerade daran, unsere Internetseite, die lange nicht gepflegt wurde, interaktiv zu gestalten, damit Patienten auch darüber Kontakt zu uns halten können. Auf die Webseite sollen auch neue Inhalte, etwa Tipps zum Thema Stressabbau und seriöse Informationen zu COVID-19, die den Menschen Ängste nehmen und nicht neue schaffen.
 
Wir überlegen, die gesamte Praxis mit Luftfiltern auszustatten und falls das zu teuer wird, eventuell nochmal bauliche Veränderungen vorzunehmen.
Wir wollen im Vorfeld Listen von Patienten und Patientinnen anlegen, die wir in einem nächsten Lockdown rechtzeitig anrufen, um mit ihnen zu besprechen, wie wir sie besser versorgen können.
 
Anja Müller: Wir impfen in unserer Praxis ja auch gegen Sars-CoV-2, das heißt, wir sind im Moment damit beschäftigt, die aktuellen Impfempfehlungen umzusetzen und auch die Fragen der Patienten und Patientinnen dazu zu beantworten.
 
Der Lockdown und die reduzierten Kontakte haben nochmal neu deutlich gezeigt, wie wichtig der persönliche Kontakt zu den Patienten und Patientinnen ist. Viele kommen ja mindestens alle drei Monate oder häufiger. Und dann sprechen sie eben auch über ihre Sorgen und Ängste mit uns und das gibt ihnen Halt.
Dadurch ist mir persönlich nochmal klarer geworden, dass wir auch ein Stück Lebensbegleiter für die Menschen sind und das ist ein schönes Feedback.

Frau Müller, Frau Dr. Pralle, vielen Dank für das Gespräch!
Die Interviews führte Ursula Stamm

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